„Generation Rücksitz“ – was den Kindern im Eltern-Taxi alles entgeht

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KARLSTAD/BERLIN. Man nennt sie auch die «Generation Rücksitz». Immer mehr Kinder werden von den Eltern zur Schule kutschiert. Viel zu viele, meinen Experten. Einen Gefallen täten Mama und Papa dem Nachwuchs nicht.

Verordnung soll Sicherheit von Kindern erhöhen; Foto: Günter Havlena / pixelio.de
Ein gemeinsamer Schulweg kann sehr spannend sein.                              Foto: Günter Havlena / pixelio.de

Vor Deutschlands Schulen jeden Morgen das gleiche Bild: Von den Rückbänken der «Elterntaxis» stolpern müde Kinder mit großen Rucksäcken und trotten Richtung Klassenzimmer. Erst im Unterricht wachen viele richtig auf. Das müsste nicht so sein, meinen Psychologen – wenn die Kinder einfach alleine zur Schule kämen. Eltern, die ihre Sprösslinge jeden Morgen mit dem Auto kutschieren, verursachen einer schwedischen Studie zufolge nicht nur Chaos vor dem Schultor, sondern können den Kindern richtig schaden.

«Wir müssen neu über die Schulwege unserer Kinder nachdenken», fordert Psychologin Jessica Westman von der Universität Karlstad. Sie hat Schüler aus 4., 6. und 8. Klassen beobachtet. Das Ergebnis: «Die Autofahrt macht sie müde und passiv. Am besten ist es, wenn sie mit Freunden zur Schule kommen, laufen, radfahren oder im Schulbus.» Kinder, die gebracht würden, verlören die Chance, die Umgebung auszukundschaften und mit anderen zu interagieren. «Dadurch werden sie weniger selbstständig und weniger sicher in ihrer Umgebung», sagt Westman.

In den 70er Jahren machten sich noch mehr als 90 Prozent der Grundschüler in Deutschland allein auf den Schulweg. Im Jahr 2012 war es einer Forsa-Umfrage zufolge nur noch jeder zweite, andere Umfragen sprechen inzwischen von nur noch jedem dritten Grundschüler. Dabei ist die nächstgelegene Schule in vielen Fällen gar nicht so weit entfernt oder so schlecht erreichbar, dass Autofahrten nötig wären.

Viele Eltern aber hätten Angst um ihre Kinder oder glaubten fälschlicherweise, ihnen einen Gefallen zu tun, meinen die Experten. «Ein Teil der Eltern kümmert sich zu viel um die Kinder und möchte jede Gefahr ausschließen», sagt der Psychologe Klaus Seifried. «Manche fahren ihre Kinder auch mit 16 Jahren noch täglich zur Schule.» Westman vermutet Bequemlichkeit als häufigen Grund für das Elterntaxi: So können morgens alle ein paar Minuten länger schlafen.

Umwege und Hinterhöfe erkunden

Was den Kindern vorenthalten wird: in einer Gruppe unterwegs zu sein, Geschichten zu erzählen und Geheimnisse zu haben, Umwege und Hinterhöfe zu erkunden, mal einen Abstecher zum Kiosk zu machen oder einen Klingelstreich zu spielen. Seifried meint, dadurch nehme man ihnen Entwicklungsmöglichkeiten. «Es ist wichtig für Kinder, etwas selbst zu bewältigen», sagt er. «Gehen sie allein zur Schule, schaffen sie sich ihren eigenen kleinen Lebensraum, den sie mit ihren Freunden entdecken.»

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Taxi-Eltern dagegen sendeten ihren Kinder die gefährliche Botschaft: Das traue ich dir allein nicht zu. Dabei, so betont der Schulpsychologe, reifen Kinder, wenn sie Verantwortung übernehmen. «Man tut ihnen keinen Gefallen, wenn man ihnen alles abnimmt. Sie müssen auch lernen, dass man sich für etwas anstrengen muss.»

Das Elternargument, Schulwege zu Fuß seien viel zu gefährlich, widerlegt Hannelore Herlan von der Deutschen Verkehrswacht mit einer Statistik. Demnach verunglücken die meisten Kinder im elterlichen Auto, nicht als Fußgänger auf dem Schulweg. «In der Regel ist es keine Unfallquelle, wenn Kinder gemeinsam zur Schule gehen», sagt sie. Kinder, die immer gebracht würden, hätten dagegen häufig Probleme im Verkehr. «Sie werden erst viel später mündige Verkehrsteilnehmer, lernen später, sich mit anderen Verkehrsteilnehmern zu verständigen», sagt Herlan.

Bewusstsein für Gefahrensituationen

Auch der ADAC warnt vor dem Elterntaxi. Das Bewusstsein für Gefahrensituationen sei bei Kindern größer, die den kurzen Schulweg allein laufen dürften. Zugleich seien die Kids im Unterricht besser drauf und konzentrierter, fitter und sozial besser integriert.

«Kinder, die nicht mit anderen laufen oder den Bus nehmen, fühlen sich oft auch außen vor», ergänzt Westman. Unterhaltung, Pläne schmieden, Freunde finden, vieles gehe an ihnen vorbei. Die Kinder, die sie befragt habe, hätten einfach mehr Spaß am Schulweg mit Mitschülern und Freunden.

Wenn eine Autofahrt trotzdem unbedingt nötig sei, so rät die schwedische Psychologin zu Fahrgemeinschaften mit Mitschülern und Freunden. «Der Schulweg kann die Grundlage für den ganzen Tag legen», betont Westman. Und wenn Eltern keine andere Wahl hätten, als ihre Kinder allein zur Schule zu fahren? «Dann sollten sie Spaß mit ihnen haben, Spiele spielen und lauthals zum Radio mitsingen.» dpa

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