Ministerium: „Unbeschulbar gibt es juristisch nicht“

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MÜNSTER. Nach der Gewalttat von Lünen wird klar: Der mutmaßliche Täter war der Polizei bekannt, der 15-Jährige galt als aggressiv und auch als «unbeschulbar». Doch ab wann ist ein Jugendlicher eigentlich «unbeschulbar»? Und wie oft kommt das vor?

Immer öfter sind Lehrer offenbar Angriffen ausgesetzt. Foto: gagilas /flickr (CC BY-SA 2.0)
Immer öfter sind Lehrer offenbar Angriffen ausgesetzt. Foto: gagilas /flickr (CC BY-SA 2.0)

Sie stören massiv den Unterricht oder bedrohen andere Kinder, auch Lehrer sind da oft machtlos: Immer wieder gibt es Schüler, die in der regulären Schule einfach nicht zurechtkommen. Der Junge oder das Mädchen sei «unbeschulbar» oder «nicht beschulbar», heißt es dann. So war es auch bei dem mutmaßlichen Messerstecher in Lünen bei Dortmund. Nach dem tödlichen Angriff auf einen 14-Jährigen in einer Gesamtschule teilten Polizei und Staatsanwaltschaft in dieser Woche mit: «Nach Einschätzung der Sozialarbeiterin gilt der 15-Jährige als aggressiv und unbeschulbar.» Unklar ist aber nach wie vor, wann ein Kind eigentlich «unbeschulbar» ist.

Rein rechtlich ist die Sache erst einmal klar: «Juristisch gibt es die Kategorie unbeschulbar nicht», sagt ein Sprecher des nordrhein-westfälischen Schulministeriums. Denn es gilt die Schulpflicht: Laut Schulgesetz hat jeder Jugendliche ein Recht auf schulische Bildung – und auch eine Schulpflicht. Doch was, wenn Kinder sich einfach nicht in der Schule integrieren?

„Erzieherische Maßnahmen“

Fallen Jugendliche immer wieder negativ auf, greifen zunächst die «erzieherischen Maßnahmen». Diese Maßnahmen zählt zum Beispiel Nordrhein-Westfalens Schulgesetz in Paragraf 53 auf. Die Lehrer ermahnen Schüler, sie bestellen die Eltern zum Gespräch ein, es gibt Gruppengespräche mit Schülern und Eltern, der Schüler wird einer Unterrichtsstunde verwiesen und es werden Förderpläne aufgestellt.

Erst wenn das nichts bringt, dürfen die «Ordnungsmaßnahmen» eingesetzt werden. Auch hier gibt es wieder Eskalationsstufen: Es beginnt mit einem schriftlichen Verweis und der Versetzung des Schülers in eine Parallelklasse, und es reicht bis zur Entlassung aus der Schule oder im schlimmsten Fall dem Verweis von allen öffentlichen Schulen des Landes.

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«Der Schulverweis ist für das Kind natürlich eine dramatische Maßnahme», sagt Carolin Ischinsky. Sie ist Schulamtsdirektorin in Münster und zuständig für die Förderschulen. Soll ein Kind in ihrem Bereich der Schule verwiesen werden, muss sie zustimmen. Zu einem Schulverweis kommt es, wenn ein «wiederholtes und schwerwiegendes» Fehlverhalten vorliegt. Außerdem werde die Vorgeschichte des Kindes berücksichtigt, das Ganze muss zudem verhältnismäßig sein. Eltern können gegen so eine Entscheidung klagen.

Schulverweise sind gar nicht so selten. Zwei Beispiele aus der Statistik: Im Regierungsbezirk Köln – dort leben etwa 4,3 Millionen Einwohner – wurden im Schuljahr 2016/2017 534 Schüler von einer weiterführenden Schule entlassen. Im Regierungsbezirk Arnsberg (3,6 Millionen Einwohner) waren es 237.

Wird ein Jugendlicher der Schule verwiesen, muss eine neue Schule für ihn gefunden werden. Hier helfe dann die Schulaufsicht, sagt Ischinsky. Dass ein Jugendlicher in letzter Zeit aller öffentlichen Schulen in NRW verwiesen wurde, die drastischste Ordnungsmaßnahme, war zumindest nicht bekannt.

VBE: Politik muss handeln

Funktioniere der Regelschulunterricht einfach nicht, gebe es dann häufig auch den Versuch, die Kinder aus der Regelschule herauszunehmen. In Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe werde dann versucht, sie im Einzelunterricht oder in ganz kleinen Gruppen wieder fit für die Regelschule zu machen, erläutert GEW-Landesvorsitzende Dorothea Schäfer.

Aber nimmt die Zahl solcher Schüler in NRW zu? VBE-Vorsitzender Udo Beckmann hat zumindest den Eindruck: «Schon länger weisen wir darauf hin, dass Konflikte schneller und öfter eskalieren und mit derberen Mitteln ausgetragen werden», teilte er mit. Er fordert deshalb: Die Politik müsse die Gewalttat von Lünen zum Anlass nehmen, das Ausmaß an Verrohung und Gewalt in der Gesellschaft ernstzunehmen und zu handeln. dpa

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dickebank
6 Jahre zuvor

Da kennt eine vorgesetzte Behörde die eigene Terminologie nicht.
Der Schulverweis ist nichts anderes als ein schriftlicher Tadel. Die Ordnungsmaßnahme die hier aber gemeint ist, ist die Entlassung von der eigenen Schule. Diese kann aber erst verhängt werden, wenn dem Betroffenen vorher die Androhung der Entlassung von der eigenen Schule ausgesprochen worden ist. Diese muss bei unterschiedlichen, schweren Delikten auch mehrfach ausgesprochen werden. Erst wenn ein Schüler im gleichen Kontext mehmals negativ aufgefallen ist, kommt es zur Entlassung von der eigenen Schule. Um seine Schullaufbahn fortsetzen zu können, muss dem Schüler ein Platz an einer Schule der gelichen Schulform in zumutbarer Entfernung zum Wohnsitz aufgezeigt werden. Erst wenn diese Schule ihn aufnimmt, kann die Entlassung vollzogen werden. Wie bei allen Verwaltungsmaßnahmen haben die Eltern die Möglichkeit zum Einspruch und – sollte dieser niedergeschlagen werden – zur Klage. Dauert also alles ein bischen länger …

dickebank
6 Jahre zuvor
Antwortet  dickebank

Wenn doch die gravierenste Maßnahme bei den Ordnungsmaßnahme die Entlassung von allen öffentlichen Schulen des Landes ist, scheint es defacto doch den Punkt der Unbeschulbarkeit (an öffentlichen Schulen) zu geben.

Dass sich ein Schüler für eine bestimmte Schulform als „unbeschulbar“ erweist, heißt ja eben nicht, dass dies an einer anderen Schule – die entsprechende Voraussetzungen bietet (FöS) – nicht funktionieren könnte. Die allgemeinde Schulpflicht in einen Gegensatz zur „Unbeschulbarkeit“ zu setzen ist Dialektik pur. Der 15-jährige mutmaßliche Lünener Täter wird ja auch weiterhin als Untersuchungshäftling in einer Jugend-JVA beschult. Die ist übrigens eine öffentliche Schule.