Schüler wünschen sich mehr Berufsorientierung – so können Lehrer sie unterstützen

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In Sachen Berufsorientierung besteht an allgemeinbildenden Schulen weiterhin dringender Handlungsbedarf – dies ergibt sich aus den Ergebnissen einer Befragung unter mehreren Hundert Schülern: „Wie gut fühlst du dich auf das Berufsleben vorbereitet?“, wollte das Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft wissen. Das Ergebnis: 37 Prozent der Jugendlichen fühlen sich „weniger gut“ oder „schlecht“ vorbereitet. Den Arbeitgebervorwurf „mangelnder Ausbildungsreife“ halten sogar 46 Prozent von ihnen für gerechtfertigt.

Für „weniger gut“ oder schlichtweg „ungenügend“ halten viele der befragten Schüler ihr wirtschaftliches Grundverständnis (43 Prozent) und ihr technisches Wissen (41 Prozent). Diese Einschätzung dürfte in nicht unerheblichem Maße auch der Wirtschaftsferne und der immer noch unzureichenden Berufsorientierung geschuldet sein. Deutliche Schwächen sehen die Jugendlichen zudem bei ihren Kenntnissen einer Zweit-Fremdsprache (52 Prozent) und EDV-Kenntnissen (50 Prozent). Ein Drittel schätzt seine Englischkenntnisse als nicht ausreichend ein. Immerhin: Die überwiegende Mehrheit hält sich für teamfähig, pünktlich und selbständig (86 sowie 87 und 88 Prozent).

Ein ausgeprägtes Interesse an Berufsorientierung ist dabei durchaus vorhanden. Zum Zwecke der gezielten Berufsorientierung nutzen die Jugendlichen häufig Zukunftstage (75 Prozent) und Praktika (58 Prozent). Ein Viertel nimmt Angebote des Berufsinformationszentrums oder der Berufsberatung in Anspruch. Über ihre berufliche Zukunft im Allgemeinen tauschen sie sich am ehesten mit Eltern (73 Prozent) oder Freunden aus (58 Prozent). Ein Austausch mit Lehrern spielt bisher lediglich eine untergeordnete Rolle (12 Prozent).

Interesse an Praktika und gezielter Berufsvorbereitung

Als bessere Vorbereitung wünschen sich die Schüler noch mehr betriebliche Praktika (70 Prozent), Projektwochen (48 Prozent) und Workshops (35 Prozent). 60 Prozent der Befragten sprechen sich für eine gezielte Berufsvorbereitung aus, 24 Prozent für eine regelmäßige oder verpflichtende Berufsberatung. 24 Prozent favorisieren zudem eine Kompetenzfeststellung; 28 Prozent der Jugendlichen meinen, dass ihnen eine Berufseinstiegsbegleitung helfen würde.

Was für Jugendliche heute im Beruf zählt, hat die Studie ebenfalls ermittelt: Die persönliche Weiterentwicklung rangiert an erster Stelle: Für 91 Prozent ist dieser Aspekt „sehr wichtig“ oder „wichtig“. Auch das Gehalt hat eine hohe Bedeutung (88 Prozent), während beispielsweise Möglichkeiten der Mitbestimmung bei ihnen eine weniger große Rolle spielen (74 Prozent). An letzter Stelle steht das gesellschaftliche Ansehen, das mit dem Beruf einhergeht – für lediglich 51 Prozent ist dies ein Faktor, der ins Gewicht fällt

„Modellland“ Niedersachsen bietet Berufsorientierung auch an Gymnasien

Im Bundesland Niedersachsen haben die Bildungsverantwortlichen die Notwendigkeit, mehr Unterstützung zu bieten, erkannt. Hier geht man mit gutem Beispiel voran: Verpflichtende Berufsorientierung gehört hier zum festen Teil der schulischen Arbeit – und zwar nicht nur für Real- und Hauptschulschüler, sondern ebenso für Oberstufenschüler sämtlicher allgemeinbildenden Schultypen. Alle Schüler sollen befähigt werden, eine durchdachte und individuell passende Entscheidung bei ihrer Berufswahl zu treffen.

Dazu gibt es eine intensive Beratung und Informationsveranstaltungen der Arbeitsagentur, darüber hinaus steht der Besuch von Berufsmessen auf dem Programm. Zusätzlich können die Schüler regelmäßig mit einer Berufsberaterin sprechen. Nach dem Willen des Niedersächsischen Kultusministeriums soll die intensive Berufsorientierung insbesondere Ausbildungs- und Studienabbrüchen im Vorfeld entgegenwirken. Zudem ist es erklärtes Ziel der Politik, mehr Abiturienten für eine betriebliche Ausbildung zu begeistern.

Ergänzende Module: Selbsterkenntnis steht im Blickpunkt

Das Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft (BNW) als Bildungsträger von 24 Arbeitgeber- und Unternehmerverbänden in Niedersachsen führt ergänzende Module durch, die insbesondere der Selbsterkenntnis dienen. Es handelt sich etwa um das Modul „Reflexion der Studien- und Ausbildungsmöglichkeiten nach der Sekundarstufe II“, das im Unterstützungsprogramm der Koordinierungsstelle Berufsorientierung des Niedersächsischen Kultusministeriums fest verankert ist. In diesem Modul wird die Berufswahl auf Basis einer Selbstexploration, das heißt der Erkundung der eigenen Wünsche und Erfahrungen, gestaltet. Die Schüler erhalten dabei Orientierungshilfen, um ihre Berufs- und Studienwahlkompetenz zu vertiefen. Während die teilnehmende Schule über den zeitlichen Ablauf entscheidet, erfolgt die inhaltliche Planung mit den verantwortlichen Lehrkräften und der Berufsberatung der Arbeitsagentur. An der Umsetzung wiederum beteiligen sich Ausbildungsverantwortliche von Betrieben und Experten von Hochschulen.

Das Modul ist dreiphasig aufgebaut, wobei es in der ersten Phase darum geht, dass die Schüler ihre persönlichen Interessen, Stärken, Fähigkeiten und Fertigkeiten durch Selbst- und Fremdeinschätzung erkunden und dadurch eine Grundorientierung erhalten. In einer zweiten Phase findet eine Vertiefung des Wissens über die Wege nach der Schule statt. Neben dem klassischen, dualen und trialen Studium werden die duale, betriebliche und schulische Ausbildung sowie Überbrückungen in Form von Freiwilligendiensten oder Auslandsaufenthalten thematisiert. Die Ergebnisse der Selbstexploration aus der ersten Phase und die vor dem Modul erhaltenen Informationen der Berufsberatung der Agentur für Arbeit werden hier aufgegriffen und weiter vertieft.

Schüler treffen eine Entscheidung – und proben den Berufseintritt

In einer dritten Phase findet eine Konkretisierung der Entscheidung statt. Hier wird an die Ergebnisse der Selbstexploration und an eine zuvor von der Berufsberatung der Arbeitsagentur außerhalb des Moduls durchzuführende Berufsorientierungsveranstaltung „Wege nach der Hochschulreife“ angeknüpft. Die Oberstufenschüler erfahren schließlich, wie die Bewerbung um einen Studien- oder Ausbildungsplatz abläuft, machen Eignungstests und proben ihr erstes Vorstellungsgespräch. Jede der Phasen umfasst mindestens fünf Zeitstunden.

Den Schulen als Auftraggeber kommt dabei das gute Kontaktnetzwerk des BNW zugute, dem es regelmäßig gelingt, bedeutende regionale Player, Ausbildungseinrichtungen und Arbeitgeber mit ins Boot zu holen. Von insgesamt zehn Berufsorientierungsmodulen, die das BNW momentan im Einsatz hat, richten sich zwei explizit an Gymnasien beziehungsweise die gymnasialen Oberstufen anderer allgemeinbildender Schulformen. Obwohl noch recht neu am Start, nutzten bereits 23 Schulen dieses Angebot. Die Module zur Berufsorientierung setzt das BNW im Auftrag der Koordinierungsstelle Berufsorientierung des Niedersächsischen Kultusministeriums um. Das BNW führt darüber hinaus auch Planspiele zur beruflichen Orientierung mit Schülern der Sekundarstufe II durch.

Praxistipp für Lehrer und Schulleitungen: Optionen in Erfahrung bringen!

Was können Angehörige des Lehrkörpers tun, um eine gute, zielgerichtete und intensive Berufsorientierung an ihren Schulen zu sicherzustellen? Verhältnismäßig einfach haben es Lehrer, Oberstufenkoordinatoren und Schulleitungen in Niedersachsen, die sich an das BNW wenden können. Außerhalb Niedersachsens gilt es zunächst, die Optionen in Erfahrung zu bringen! Arbeitsagenturen, Berufsberater und Bildungsträger, die Berufsorientierung anbieten, gibt es in jedem Bundesland. Die wirtschaftsnahen und -getragenen Bildungswerke sind hier an erster Stelle zu nennen.

Wer als Lehrer, Oberstufenkoordinator oder Schulleitung außerhalb Niedersachsens darüber hinaus die Notwendigkeit spezifischer Berufsorientierung an Oberstufen erkannt hat, dem bleibt es vorerst nicht erspart, sich mit Eingaben und Vorschlägen an das Kultusministerium seines Bundeslandes zu wenden, um maßgeschneiderte Angebote ins Leben zu rufen. Berufsorientierung speziell für Gymnasien gibt es außer in Niedersachsen bisher nur in Baden-Württemberg.

* Die Online-Schülerbefragung wurde im Rahmen eines Seminares zum Thema „Beruflichkeit“ von Studierenden der Leibniz Universität (LUH) vom 12. bis 16. Juni 2017 durchgeführt. Sie erfolgte in Kooperation mit dem Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung (IfBE) unter Leitung von Prof. Dr. Rita Meyer und dem BNW. Es beteiligten sich insgesamt 318 Schüler an der Befragung, 79 Prozent davon in der Altersgruppe von 14 bis 17 Jahre. Knapp die Hälfte der Befragten (47 Prozent) besucht momentan ein Gymnasium.

Autor: Tobias Lohmann, Sprecher der Geschäftsführung des Bildungswerks der Niedersächsischen Wirtschaft (BNW) gGmbH, Hannover. Das BNW ist eine Gemeinschaftsgründung niedersächsischer Unternehmensverbände und vermittelt im Auftrag von öffentlichen und privaten Auftraggebern praxistaugliches „Rüstzeug“ für den Beruf. Handlungsfelder sind der Übergang von der Schule in den Beruf, die berufliche Qualifizierung, die Weiterbildung von Nachwuchs-, Fach- und Führungskräften sowie die Rehabilitation. Weitere Infos: www.bnw.de

 

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