Erfurter Schuldirektorin Alt: „Lebenslänglich diese Bilder im Kopf“

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ERFURT. Kindergesichter voller Angst und Panik, schwer bewaffnete Polizisten und Notärzte vor der Schule: Die Bilder vom Blutbad am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, bei dem vor zehn Jahren 16 Menschen von einem 19 Jahre alten Ex-Schüler erschossen wurden, erschütterten Deutschland. Der Täter tötete sich anschließend selbst. Die Nachrichtenagentur dpa sprach mit der Schuldirektorin Christiane Alt, wie Lehrer und Schüler eine solche Katastrophe überstehen.

In dem über 100 Jahre alten Schulgebäude sind viele Menschen getötet worden, überall waren Einschusslöcher. Warum haben sie und andere so sehr dafür gekämpft, dass es eine Schule bleibt?

Christiane Alt: «Um Leben zurückzubringen, um zu zeigen, wir lassen uns von dem Täter, der so viel Leid und Verletzungen in so viele Lebensläufe gebracht hat, nicht auch noch vertreiben. Der Tat sollte etwas entgegengesetzt werden. Viele, auch ich, konnten den Gedanken nicht ertragen, dass auch noch die Schule kaputtgeht.»

Also eine Art Notgemeinschaft, die zusammenhält?

Alt: «Menschen, die Verlust erleben, die entwurzelt werden, brauchen Strukturen, die sie kennen und die sie halten. Das konnte die Schulgemeinschaft sein. Am 28. April, zwei Tage nach der Tat, haben sich Eltern- und Schülersprecher dafür eingesetzt, dass die Schule, die zum Tatort wurde, wieder eine Schule wird. Und dass die Meinung der Betroffenen gehört werden muss.»

Nach Jahren in einem Ersatzquartier wird seit 2005 wieder in dem aufwendig umgebauten Jugendstilgebäude unterrichtet. Ist das Gutenberg-Gymnasium heute eine normale Schule?

Alt: «Die überwiegende Mehrheit wollte zurück. Nur einige Lehrer und wenige Schüler haben gesagt, das Haus kann ich nicht mehr betreten. Es gibt noch immer Menschen, die große Probleme mit dem traumatischen Ereignis haben. Auch deshalb ist es gut zu erleben, dass die Schule das überstanden hat, dass es eine neue Schülergeneration gibt. Wir sagen Eltern und Schülern, der 26. April gehört zu unserer Schulgeschichte und die Erinnerung an die 16 Menschen, die starben, wird gelebt. Wir zwingen niemanden, sich intensiv mit dem 26. April 2002 zu beschäftigen. Aber die Mehrheit will es wissen. Wir haben regen Zulauf, etwas 550 Schüler sind es derzeit. Wir sind eine Schule wie andere auch, aber keine heile Welt.»

Was hat Ihnen geholfen, die Katastrophe zu überstehen?

Alt: «Es war der Zusammenhalt, die Aufgabe und es sind die Kontakte zu Menschen, die wichtig sind. Dazu gehören die zu unserer Partnerschule in Mainz. Die Kollegen haben spontan geholfen. Die Beziehungen halten bis heute. Aus einigen sind Freundschaften entstanden.»

Außenaufnahme des Haupteingangs des renovierten Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt. Foto: CTHOE / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)
Außenaufnahme des Haupteingangs des renovierten Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt. Foto: CTHOE / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Der Amoklauf liegt ein Jahrzehnt zurück. Wie geht die Schule heute damit um?

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Alt: «Für uns ist es ein Gedenktag. Wir versuchen immer schon Monate davor zu erspüren, wie er gestaltet werden soll. Das ändert sich mit den Jahren. Die meisten, mit Ausnahme von 15 Lehrern und unserem Hausmeister, haben das Massaker nicht selbst erlebt. Am 26. April geht es um das Andenken an die Opfer, um ihre abgerissenen Biografien, aber auch um die Biografien der Menschen, die überlebt haben. Wir wollen die Menschen in Erinnerung behalten, nicht nur ihre Namen. Alljährlich melden sich an dem Tag auch Ehemalige. Manche kommen, viele schreiben Mails und Karten oder rufen an. Jeder hat seine eigenen Erinnerungen und wahrscheinlich lebenslänglich diese Bilder im Kopf.»

Wenn Sie sich nach dem Erlebten etwas wünschen dürften, was wäre das?

Alt: «Die sächlichen Dinge sind bei uns an der Schule sehr gut geregelt. Ich wünsche mir ausreichend junge, innovative Lehrer, die sich in das älter werdende Kollegium integrieren, die die Schulgeschichte weiterschreiben. Und allen Schulen wünsche ich mehr Schulpsychologen, Sozialarbeiter und Freizeitpädagogen, die in die Schulgemeinschaft integriert sind und sich der Alltagssorgen und Nöte von Schülern, Eltern und Lehrern annehmen. Jede Schule müsste sagen können, was sie an Unterstützung braucht.» SIMONE ROTHE/DPA

(19.4.2012)

Hier geht es zu weiteren Berichten zum Amoklauf in Erfurt:

Vor zehn Jahren: Schulmassaker am Gutenberg-Gymnasium

Erfurter Amoklauf: Rechtsprofessor fordert schärferes Wafffenrecht

Zehn Jahre nach Erfurt: Sechs Zeugen immer noch in Behandlung

Amok: Minister Matschie fordert schärferes Waffenrecht

Zehn Jahre nach Erfurt: Direktorin fordert mehr Hilfen für Schulen

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