Ehemaliger Analphabet: „Das ist ein Leben im Abseits“

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MANNHEIM. Geschätzte 7,5 Millionen funktionale Analphabeten leben in Deutschland. Ihre Schwäche verstecken sie oft gekonnt. Peter war bis vor zwei Jahren einer von ihnen. Heute nimmt er sogar an einem Literaturwettbewerb teil.

Viele Analphabeten verstecken sich - und täuschen etwa eine Sehnenscheidenentzündung vor, um nicht schreiben zu müssen. Foto: berwis / pixelio.de
Viele Analphabeten verstecken sich – und täuschen etwa eine Sehnenscheidenentzündung vor, um nicht schreiben zu müssen. Foto: berwis / pixelio.de

Ein Leben ohne Internet, SMS oder Tageszeitung. Ohne Führerschein. Ohne Speisekarte. Ein Leben im Versteck und begleitet von der Furcht, als Analphabet erkannt zu werden. Für Peter aus der Nähe von Mannheim war das mehr als 40 Jahre lang Realität – bis er vor zwei Jahren an der Mannheimer Volkshochschule Lesen und Schreiben lernte. «Man kann in der Öffentlichkeit nicht darüber reden, sonst gilt man gleich als dumm», beschreibt der 47-Jährige das Dilemma kurz vor dem Weltalphabetisierungstag am Samstag.

Mit einer Rechenschwäche gehen viele offen um – der funktionale Analphabet aber versteckt sein Manko aus Angst, als dumm abgestempelt zu werden. Ein verbreiteter Irrtum. «Die Leute sind nicht dumm. Die sind sehr schlau in ihren Abwehrtechniken», sagt Stephan Gilles von der Mannheimer Abendakademie, der städtischen Volkshochschule. «Ach Gott, ich hab meine Brille vergessen», sei eine übliche Ausrede beim Blick auf die Speisekarte, erzählt Peter. Und eine vorgetäuschte Sehnenscheidenentzündung helfe, nicht schreiben zu müssen.

«Ja, das ABC konnte ich», erinnert sich der Vater dreier Kinder – viel mehr ging vor zwei Jahren allerdings nicht. Als funktionaler Analphabet konnte er sich mühsam durch die Zeilen eines Textes hangeln. Ein Hangeln von Silbe zu Silbe, das bereits so anstrengend ist, das man den Inhalt des Gelesenen gar nicht mehr aufnehmen kann. Vom Schreiben hielt ihn vor allem die Angst vor Rechtschreibfehlern zurück. «Man hat zu viel Angst, dass man etwas falsch schreibt. Du traust dir immer weniger zu, das kratzt am Selbstbewusstsein.»

Doch nicht nur das Selbstbewusstsein litt. «Du bist absolut abhängig», schildert Peter sein früheres Leben. Da man immer auf andere Menschen angewiesen sei, versuche man, möglichst mit niemanden aneinanderzugeraten. Die eigene Meinung bleibe da oft ungesagt. Peter war oft der Stille, hielt sich immer im Hintergrund aus Angst, «entlarvt» zu werden. Auch seiner Frau erzählte er erst nach vier Jahren Beziehung von seiner Lese- und Schreibschwäche. Fortan übernahm sie die Bankgeschäfte und andere Formulare.

Vor fünf Jahren versuchte Peter die Wende, ging erst zum Hausarzt, dann zum Psychologen. Wegen der ärztlichen Schweigepflicht hatte er keine Angst, sein Manko könne nach außen dringen. Doch die Antworten waren ernüchternd: «Ich kann ihnen nicht weiterhelfen.»

Im September 2010 sollte Peter bei der Arbeit als Dreher auf einmal regelmäßig Papiere ausfüllen. Er fasste sich ein Herz und sprach mit seinem Chef, für den er seit 26 Jahren arbeitete. Dieser bot Peter an, die Kosten für einen Kursus der Abendakademie zu übernehmen. Ein Glücksfall und alles andere als die Regel.

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Wenig später hatte Peter einen Termin bei Gilles. «Donnerstag war ich da und Dienstag saß ich schon im Kurs», erinnert er sich. Zweimal in der Woche fuhr er fortan nach seinem Arbeitstag die 20 Kilometer zur Abendakademie, um zwei Stunden zu lernen. Einfach war das nicht: das erste Erfolgserlebnis ließ ein halbes Jahr auf sich warten. Doch auf einmal sei ihm das Lesen viel, viel leichter gefallen.

Das Versteckspiel ist vorbei

Heute hat er acht Zweitmonatskurse hinter sich – und sein Leben hat sich massiv verändert: inzwischen nutzt der 47-Jährige etwa das Internet, liest Kurzgeschichten oder schreibt seine Gedanken auf. Auch seine Kinder unterstützen ihn. «Seitdem sie wissen, dass ich nicht richtig lesen und schreiben kann, fällt mir das Lernen viel leichter. Denn ich kann zu jeder Zeit fragen, ob sie mir helfen. Und das Schöne daran ist, dass sie es gerne tun», schreibt er Ende 2011. Das Versteckspiel ist vorbei. Zumindest im engeren Familienkreis.

Am jährlichen Literaturwettbewerb des Volkshochschulverbandes nimmt er regelmäßig teil. Auch die Sportfischerprüfung und den Führerschein möchte Peter noch machen. Zu den Kursen der Mannheimer Abendakademie geht er weiterhin. «Das wird noch ein, zwei Jahre dauern», sagt Peter. Dann erst werde sein Lese- und Schreibniveau in Ordnung sein, so seine selbstkritische Einschätzung.

Die Stigmatisierung von Lese- und Rechtschreibschwäche hält er für grundfalsch. «Es müsste viel mehr darüber gesprochen werden.» Denn dann könnten Betroffene viel schneller Hilfe erfahren. Denn ein Leben als Analphabet sei vor allem eins: «Das ist ein Leben im Abseits.» EVA WICHMANN, dpa
(6.9.2012)

Zum Bericht: „Analphabeten – Verband sieht weiterführende Schulen in der Pflicht“

 

 

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2 Kommentare
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pfiffikus
11 Jahre zuvor

Ein interessanter Lebensbericht. Ich würde aber gerne erfahren, wie es bei Peter überhaupt so weit kommen konnte. Was lief da in der Schule schief?
Eine kleine, aber vielleicht doch nachdenklich stimmende Anmerkung:
Ich halte viele „moderne“ Entwicklungen gerade in der GS mit dafür verantwortlich, dass sich die Kulturtechniken Lesen und Schreiben in einem rasanten Tiefflug befinden.
Inzwischen sind die „Wellen“ bereits an der Uni angekommen. Wenn es so weitergeht, werden die Analphabeten nicht mehr zu einer Minderheit in diesem Land gehören.

pfiffikus
11 Jahre zuvor

Pardon, es sollte wohl eher „Schockwellen“ heißen.