200 Jahre nach Fichte: Wer kennt den Redner an die deutsche Nation?

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BERLIN. Seine erste Schrift erschien anonym – und viele vermuteten den Philosophen Kant als Verfasser. Doch dann kam raus: Der Autor war Fichte. Wer? Am 29. Januar jährt sich zum 200. Mal der Tod eines Genies, das nur noch wenigen bekannt ist.

Als die Widerstandsgruppe «Weiße Rose» gegen Hitler kämpfte, spielte Johann Gottlieb Fichte eine wichtige Rolle für sie. Ihr Förderer Prof. Kurt Huber berief sich 1943 in seinem Schlusswort vor dem Volksgerichtshof auf den großen Philosophen der Freiheit und moralischen Verantwortung. Über Generationen gehörte Fichte zum Bildungskanon der deutschen Öffentlichkeit. Heute – 200 Jahre nach seinem Tod am 29. Januar 1814 – können fast nur noch Experten etwas mit ihm anfangen. Doch viele von ihnen sind überzeugt: Sein Denken ist brennend aktuell.

Fichte hat auch als Hauslehrer gearbeitet, war aber der Ansicht, dass vor den Kindern die Eltern erzogen werden müssten. (Foto: Wikimedia/public domain)
Fichte hat auch als Hauslehrer gearbeitet, war aber der Ansicht, dass vor den Kindern die Eltern erzogen werden müssten. (Foto: Wikimedia/public domain)

«Mein System ist das erste System der Freiheit», verkündete Fichte 1795. Wie die französische Revolution «die politischen Fesseln des Menschen zerbrochen hat», so reiße ihn Fichtes Wissenschaftslehre «los von den Ketten der Dinge an sich».

In der theoretischen Philosophie gibt Fichte dem erkennenden Subjekt radikal Vorrang vor jedem gegenständlichen Objekt. Unser gesamtes Bewusstsein von der Welt und den Dingen gründet demnach im Selbstbewusstsein. Nicht das Sein bestimmt das Bewusstsein (Realismus), sondern umgekehrt (Idealismus): Das Ich ist formal der schöpferische Ursprung des Nicht-Ich.

In der praktischen Philosophie sieht Fichte den Menschen entsprechend als moralisch Handelnden, der sich selbst bestimmt und die Freiheit des anderen anerkennt. Ihm gelingt damit im Anschluss an Immanuel Kant eine Letztbegründung ethischen Handelns ohne Rückgriff auf religiöse Vorgaben.

Der Fichte-Forscher Jürgen Stolzenberg drückt das so aus: «Fichtes Einsicht war es, dass man sein Leben nur dann verantwortlich führen kann, wenn man es unter einen unbedingten, allein von der Vernunft und dem ihr eigenen Ausgriff auf die Dimension des Unbedingten ausgehenden Anspruch stellt. Erst dann ist man wirklich frei.»

1762 wurde Fichte in Rammenau (Oberlausitz) geboren. Als er 1794 an die Universität Jena kam, elektrisierte er die Elite. Hölderlin, Schelling, Novalis, die Brüder Schlegel und viele andere Dichter und Denker zog er in seinen Bann. Der Deutsche Idealismus – die größte Epoche der deutschen Geistesgeschichte – entstand. Ohne Fichte hätte Hegel sein dialektisches Denken nicht so entwickeln können. Und ohne Hegel hätte Marx den Idealismus nicht vom Kopf auf die Füße stellen können.

Im sogenannten Atheismus-Streit wurde Fichte 1799 der Gottlosigkeit bezichtigt und aus Jena vertrieben. Er sah darin eine politische Kampagne wegen seiner Begeisterung für die Französische Revolution: «Ich bin ihnen ein Demokrat, ein Jacobiner; dies ist’s.»

Fichte wechselte nach Berlin, wurde dort Rektor der neu gegründeten Universität und übte auch politischen Einfluss auf die preußischen Reformer aus. Berühmt wurden seine «Reden an die deutsche Nation» (1808), in denen er Preußens Niederlage gegen Napoleon geschichtsphilosophisch deutet.

Nach dem Holocaust gerieten diese «Reden» als angebliche Vorboten des verhängnisvollen deutschen Nationalismus in Misskredit. Doch die Forschung hat dazu neue Perspektiven entwickelt: Auch viele Zionisten konnten in Fichtes Idee der deutschen Nation als Kulturnation ein Vorbild erkennen. Für Reinhard Lauth, den 2007 gestorbenen Herausgeber der Fichte-Gesamtausgabe, stand jedenfalls fest: Fichte habe «unsere gesamte Welt verändert» und «einen tieferen Eingriff in unsere Wirklichkeit getan als selbst die Industrialisierung». Bernhard Loheide/dpa

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