Didacta: Das «digitale Klassenzimmer» – Wunschtraum oder Albtraum?

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STUTTGART. «Laptops für jeden Schüler», heißt ein alter Vorsatz der Politik. Doch die Realität an deutschen Schulen sieht noch immer anders aus. Bei Europas größter Bildungsmesse, der heute (Dienstag) in Stuttgart beginnenden Didacta, geht es auch um das «digitale Klassenzimmer» und die «Henne-Ei-Problematik».

Anbieter digitaler Medien - wie die Hersteller von elektronischen Whiteboards - prägen das Bild auf der Bildungsmesse "didacta". Foto: Koelnmesse Bilddatenbank
Anbieter digitaler Medien – wie die Hersteller von elektronischen Whiteboards – prägen das Bild auf der Bildungsmesse “didacta”. Foto: Koelnmesse Bilddatenbank

Es ist ein bildungspolitischer Dauerbrenner: Wie gehen Lehrer mit dem immer unterschiedlicheren Leistungsniveau ihrer Schüler um? Die Aufgabe stellt die Pädagogen vor große Herausforderungen – neue Medien könnten sie dabei unterstützen, sind viele Experten überzeugt. Bei Europas größter Bildungsmesse Didacta in Stuttgart (25.-29.3.) können Lehrer, Eltern und Schüler viel über das «digitale Klassenzimmer» lernen – das in Deutschland vielerorts noch Wunschtraum ist. Doch es gibt auch warnende Stimmen.

Lernt es sich mit Tablets, Laptops und Smartboards denn besser oder ist das nur technischer Schnickschnack? Der Mannheimer Lernforscher Stefan Münzer meint: «Mediennutzung kann viel helfen, weil sie den Schülern mehr Freiraum und Selbstständigkeit bietet und Schüler damit selbstregulierend lernen können.» Die Politik sekundiert: Tablets böten vor allem bei individualisierten Lernformen neue didaktische Möglichkeiten, ist der Stuttgarter Kultusminister Andreas Stoch (SPD) überzeugt.

In den neuen Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg, in denen Schüler mit Hauptschul- bis Gymnasialempfehlung zusammen lernen, sind diese besonders beliebt, weiß Wolfgang Kraft, Chef des Landesmedienzentrums (LMZ). «Der Unterricht ist weniger auf den Lehrer konzentriert als bislang. Die Schüler übernehmen eine aktive Rolle.»

Digitale Medien holen die Schüler da ab, wo sie stehen: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes haben 96,3 Prozent der 10- bis 15-Jährigen in den vergangenen drei Monaten das Internet genutzt, bei den 16- bis 24-Jährigen waren es 98,3 Prozent. Doch es gibt auch Gegenstimmen: Der Hirnforscher und Bestsellerautor Manfred Spitzer aus Ulm warnt immer wieder: «Alles, was man den Schülern maschinell abnimmt, haben sie auch nicht mehr im Kopf.»

Der Mannheimer Lehrer Joachim Lauritzen erprobt in seiner Klasse im dritten Jahr den Unterricht mit iPads. Der Pädagoge findet es gut, dass er etwa englische Grammatik statt mit Arbeitsblättern über digitale Übungsseiten mit drei Schwierigkeitsgraden vermitteln kann. Allerdings sei das Angebot der Schulbuchverlage noch recht mager, klagt der Lehrer von der Friedrich-Ebert-Werkrealschule.

Für Klaus Holoch vom Schulbuchverlag Cornelsen ist das Folge der «Henne-Ei-Problematik», die mit dazu beiträgt, dass Deutschland hinter anderen europäischen Länder etwa den skandinavischen oder Großbritannien hinterherhinkt. Weil die Ausstattung der Schulen mit Geräten unzureichend sei, übten auch die Verlage Zurückhaltung. Cornelsen will nun den ersten Schritt tun und auf der Didacta ein neues Lehr- und Lernportal für Lehrer und Schüler namens «scook» präsentieren. Er hofft auf ein großes Echo, schließlich werden bis zu 100 000 Besucher erwartet.

Die Hersteller von Bildungsmedien müssen in die Offensive gehen, denn ihre Umsätze schrumpfen. Von den 419 Millionen Euro entfielen im vergangenen Jahr nur drei bis fünf Prozent auf digitale Produkte. Um das Interesse anzuheizen, stellt der Verband Bildungsmedien in einem verlagsübergreifenden Projekt 1600 Schulbücher digital zur Verfügung.

Was sind nun die Vorteile digitaler Lernangebote? Für Lehrer Lauritzen ist das wichtigste Argument die steigende Motivation der Schüler: «Sie lernen lieber.» Der Unterricht sei kurzweiliger, weil die Geräte Recherche, Erstellen und Betrachten von Filmen, Erfassen und Schreiben von Texten, Fotografieren und Präsentieren erlauben.

Aus Sicht von LMZ-Chef Kraft ist die Veranschaulichung das große Plus. «Beim Thema Vulkanismus kann ich auf Seiten zu aktiven Vulkanen verweisen, mit Filmen können Schüler Experimente in Chemie oder Physik in einem ihnen genehmen Tempo nachvollziehen.» Als gelungenes Beispiel nennt Lernforscher Münzer einen digitalen Atlas, der den Kindern die Navigation durch Städte und Landschaften auf unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen ermöglicht.

Viele Bundesländer wollen die Digitalisierung im Klassenzimmer forcieren. Doch die von der ehemaligen Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) ausgegebene Parole «Laptops für jeden Schüler» wird so rasch nicht umgesetzt werden. Denn wer für die um 500 Euro teuren Geräte aufkommen soll, ist die große Frage. Bislang werden die Lernmittel meist von kommunalen Schulträgern auf freiwilliger Basis beschafft. Hessen ist nach Angaben des Verbands Bildungsmedien das einzige Land, das für die digitale Ausstattung der Schulen aufkommt. Verbandschef Wilmar Diepgrond: «In den anderen Ländern schieben sich Land und Kommunen gegenseitig die Finanzverantwortung zu.»

Selbst wenn die Schulen Geräte erhalten, wissen Lehrer oft nichts damit anzufangen. Diepgrond: «Whiteboards werden meist zum Draufschreiben genutzt anstatt zur interaktiven Arbeit.» Er fügt hinzu: «Wer digitale Medien einführt, muss auch in Fortbildung investieren.»

Hirnforscher Spitzer stieß jüngst beim Deutschen Lehrertag in dasselbe Horn. «Nur wenn man die Computer anschafft, die Lehrer fortbildet, für die richtige Software sorgt und auch sonst alles richtig macht, dann schaden sie nicht.» Doch Vorteile könne er trotzdem nicht erkennen. Statt auf digitale Helfer sollten Bildungspolitiker wieder auf die Stärkung von Fächern wie Musik, Theaterspiel oder Sport setzen. dpa

 

 

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