Philologen-Chef: Gymnasien stellen sich der Inklusion – in Grenzen

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BERLIN. Im Zusammenhang mit der Debatte um den „Fall Henri“, also die Aufnahme eines Jungen mit einer geistigen Behinderung auf einem Gymnasium, hat der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, betont, dass sich die Gymnasien den Herausforderungen der Inklusion stellten – solange es den Sinn der Schulform nicht infrage stelle jedenfalls.

Wendet sich gegen  "Totalinklusion": Heinz-Peter Meidinger. Foto: Deutscher Philologenverband
Wendet sich gegen „Totalinklusion“: Heinz-Peter Meidinger. Foto: Deutscher Philologenverband

So gebe es an fast allen Gymnasien inzwischen einen wachsenden Anteil von Schülern mit Behinderungen, die „trotz vielfach unzureichender personeller und finanzieller Zuweisungen mit viel Engagement von Gymnasiallehrkräften“ betreut und unterrichtet würden, erklärte Meidinger. Voraussetzung sei allerdings in aller Regel, dass sie das Bildungsziel des Gymnasiums, das Abitur, erreichen könnten.

„Allein aber bei dieser Riesenaufgabe der Inklusion von Kindern mit körperlichen Behinderungen gibt es noch ein enormes Pensum an Hausaufgaben durch die Landesregierungen zu erledigen. So verfügt nach wie vor die große Mehrheit aller deutschen Gymnasien über keine behindertengerechten Aufzüge, ganz abgesehen von den häufig fehlenden, zusätzlich erforderlichen personellen Ressourcen für eine erfolgreiche Inklusion“, sagt der Verbandschef. Die Anzahl der Inklusionsschüler mit körperlichen Behinderungen könne bei besserer Ausstattung der Gymnasien mit Sicherheit noch deutlich gesteigert werden, so meint Meidinger. Er gibt aber auch zu bedenken, dass nicht jedes Gymnasium auf die Bedürfnisse aller Arten von körperlicher Behinderung in gleicher Weise vorbereitet sein könne wie eine darauf spezialisierte Schule. So erforderten die wünschenswerten Zusatzausstattungen und Umbauten allein für sehbehinderte Schüler pro Gymnasium Beträge im sechsstelligen Bereich.

Meidinger warnte zudem vor einem falschen vordergründigen Verständnis von Inklusion, das den Erfolg bei der Umsetzung der UN-Konvention an formal erreichten Quoten messe. Wörtlich sagte er: „Manches Bundesland, das sich im innerdeutschen Vergleich mit hohen Inklusionsquoten brüstet, hat zwar Förderzentren geschlossen, aber wenig bis nichts dafür getan, dass die Qualität der Beschulung behinderter Kinder in den Regelschulen erhalten oder gesteigert wird. Im Gegenteil: Die Standards wurden vielfach abgesenkt, so dass nicht wenige Eltern behinderter Kinder schwer enttäuscht sind. So ist es kein Ausnahmefall, dass sich Kinder mit Behinderungen nun an Regelschulen in Lerngruppen befinden, die dreimal so groß sind wie ihre bisherigen. Man muss es ganz klar sagen: Quoten sind nicht gleichbedeutend mit Qualität und die Erfahrung lehrt: Inklusion kann auch als Sparmodell missbraucht werden.“

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Ziel der UN-Konvention zu den Rechten behinderter Menschen sei, so Meidinger, die weitestgehende Inklusion von Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft, das heißt diesen Menschen zu ermöglichen, gleichberechtigt und selbstständig am gesellschaftlichen, politischen und sozialen Leben teilzunehmen. Wenn es etwa darum gehe, geistig behinderten Kindern an Schulen in intensiver Betreuung die notwendigsten Dinge für eine selbstständige Lebensführung beizubringen, sei das Gymnasium in der Regel nicht der geeignete Ort und Weg, um Inklusion als Ziel zu verwirklichen. „Das hat nichts mit einer Abschiebementalität zu tun, sondern mit Verantwortungsbewusstsein und realistischer Einschätzung der eigenen Möglichkeiten. Nicht wenigen, die das Gymnasium zur Aufnahme aller Schüler zwingen wollen, egal, ob diese das Bildungsziel Abitur erreichen könnten oder nicht, geht es letztendlich um die Abschaffung dieser Schulart, die in ihrer Attraktivität Gesamtschulbefürwortern schon immer ein Dorn im Auge war“, bekräftigte der Verbandschef.

Unter Bezug auf angebliche Inklusionsmusterländer verwies Meidinger darauf, dass selbst in Finnland von den Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine nicht geringe Anzahl (8 Prozent der Gesamtschülerzahl) in eigenen Klassen und eigenen Schulen (3 Prozent) beschult werden müsse. Der Verbandsvorsitzende plädierte dafür, die Kooperationsmodelle zwischen Gymnasien und Förderschulen mit geistig Behinderten auszubauen. „Anstatt einer wenig zielführenden Totalinklusion geht es dabei darum, in geeigneten Fächern wie Kunst, Musik, Sport oder Theater gemeinsame Projekte durchzuführen, die beiden Seiten Gewinn bringen, zum Beispiel auch den Gymnasiasten einen Zuwachs an Sozialkompetenz“, so Meidinger. News4teachers

Zum Bericht: Inklusion: Lehrer schlagen Alarm – „Kinder mit Verhaltensstörungen in Regelschulen kaum zu betreuen“  

Zum Kommentar: Der Fall Henri: Kultusminister Stoch drückt sich um eine klare Ansage

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Sankta Simplicitas
9 Jahre zuvor

Auch das oft zitierte Inklusionsvorbild Südtirol/Italien hat auch nur in den Grund- und Mittelschulen inklusiven Unterricht. Nach dieser 5- und 3-jährigen Pflicht-Schulzeit schließt sich die 5 jährige Oberschule (=Gymnasium) bzw. Fachoberschule oder eine 3jährige Lehre mit Berufsschule (duale Ausbildung) an. Für beide Bildungsgänge ist ein entsprechender Leistungsnachweis der Mittelschule nötig.
Für Schüler ohne Mittelschulabschluss gibt es extra Ausbildungsgänge, entsprechend dem Berufsvorbereitungsjahr oder der Werkstufe an unseren Sonderschulen.
http://exkursionsbericht.wikispaces.com/3.+Das+Schulsystem
Inklusion lernschwacher Schüler am Gymnasium gibt es auch hier nicht.