Philologenverband warnt vor schleichender Erosion des Gymnasiums

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FELLBACH. Bleibt das Gymnasium als Garant einer breiten Allgemeinbildung für leistungsstarke Schüler bestehen? Vertreter aller Parteien bekennen sich öffentlich zur bewährten Schulart. Doch der Philologenverband traut Grün-Rot nicht über den Weg.

 Der Philologenverband (PhV) hat vor einer schleichenden Erosion des Gymnasiums, der beliebtesten Schulart im Südwesten, gewarnt. «Durch den Wegfall der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung hat Grün-Rot bewusst die Unterschiedlichkeit der Schüler am Gymnasium herbeigeführt», beklagte Verbandschef Bernd Saur am Freitag in Fellbach (Rems-Murr-Kreis) bei einer Versammlung des Philologenverbands. Durch diese Öffnung werde die Spannbreite der Begabungen am Gymnasium immer größer und starke Schüler könnten ihr Potenzial nicht mehr entfalten. Das Leistungsniveau sinke und das Abitur werde entwertet mit der Folge, dass der Wirtschaft letztlich Führungskräfte fehlten. Vertreter der Koalition bekannten sich jedoch vor den mehr als 100 Delegierten zum Gymnasium.

Die baden-württembergischen Abiturienten erzielten den im Bundesvergleich besten Studienerfolg, erläuterte Saur bei dem Treffen unter dem Motto «Das Gymnasium – erfolgreich und unverzichtbar». Er fügte hinzu: «Es besteht kein Grund, die Axt an diese Eiche zu legen.» Jedoch könne er den Äußerungen von Grünen und Sozialdemokraten für den Erhalt des Gymnasium nicht ganz glauben. Denn die Privilegien für die Gemeinschaftschule – dem Herzstück grün-roter Bildungsreformen – seien unübersehbar. Die vom PhV aus pädagogischen Grünen abgelehnte Schulart erhalte zusätzliche Lehrerwochenstunden, habe die kleinsten Klassen und den höchsten Sachkostenzuschuss.

Im Land gibt es 446 öffentliche und private Gymnasien. Mit einer Übergangsquote von 44 Prozent sind die Gymnasien die favorisierte Schulart im Südwesten. Vor 40 Jahren wechselten lediglich 26 Prozent aller Schüler nach der Grundschule auf das Gymnasium.

Die Landesregierung strebt nach eigenen Angaben ein Zwei-Säulen-System mit dem Gymnasium einerseits und einer integrativen Schule andererseits an. Grünen-Fraktionschefin Edith Sitzmann betonte: «Wir stehen zum Gymnasium ohne Wenn und Aber.» Auch Kultusminister Andreas Stoch (SPD) nannte das Gymnasium einen zentralen Faktor für die Qualität der Bildung in Baden-Württemberg.

FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke zweifelte wie Saur an dem Enthusiasmus der Koalitionsvertreter: «Diesen Worten glaube ich nicht, da wollen wir Taten sehen.» Als Verfechter eines mehrgliedrigen Schulsystems fordere er gleiches Recht für alle. Aber: «Diese Landesregierung denkt nur von der Gemeinschafsschule her, und das Gymnasium stört auf diesem Weg.» Das eigentliche Ziel von Grün-Rot sei eine einzige Säule – die Gemeinschaftsschule, an der Schüler aller Begabungen gemeinsam lernen. Auch CDU-Fraktionschef Peter Hauk forderte ein Ende deren «finanzieller und personeller Bevorzugung»: «Wenn freier Wettbewerb herrscht, dann aber mit gleichen Mitteln.»

Der Christdemokrat sprach sich wie Rülke gegen eine Oberstufe an Gemeinschaftsschulen aus – sie sei ein «Schmarrn». Ein «Discount-Abi» an einer Gemeinschaftsschule dürfe es nicht geben, ergänzte der Liberale. Dagegen will die Landesregierung die Reifeprüfung auch an der Gemeinschaftsschule ermöglichen, damit die Schulart auch für leistungsstarke Schüler interessant wird.

Das achtjährige Gymnasium (G8) kommt nicht aus der Kritik. Foto: Patrick Rasenberg / Flickr (CC BY-NC 2.0)
Fürchten um ihre Schulform – die Philologen. Foto: Patrick Rasenberg / Flickr (CC BY-NC 2.0)

Saur lehnte auch eine Integration schwer geistig behinderter Kinder (Inklusion) am allgemeinbildenden Gymnasium ab. Die Diskussion müsse näher an der Lebenswirklichkeit und den Bedürfnissen der Behinderten geführt werden. Es könne für geistig behinderte Schüler wie den Walldorfer Jungen Henri nicht von Nutzen sein, wenn sie Tag für Tag dem Unterricht nicht folgen könnten.

Es müsse nach Behinderungen unterschieden werden: Viele behinderte Schüler könnten mit Hilfe technischer Ausstattung erfolgreich in den Unterricht an der Regelschule integriert werden. «Ich halte es aber für eine Respektlosigkeit einem geistig behinderten Kind gegenüber, wenn wir Erwachsene so tun, als sei es gar nicht behindert.» Das Kind habe das Recht, dass seine Behinderung wahrgenommen und es individuell nach seinen Möglichkeiten gefördert werde.

Kultusminister Stoch betonte, Inklusion sei nur gemeinsam mit Lehrern und Schulen – dabei Sonder- sowie allgemeinbildende Schulen – zu verwirklichen. Der Fall Henri zeige, dass die Beteiligten vor Ort von einer weitreichenden Entscheidung wie der Inklusion eines behinderten Kindes überzeugt sein müssten. Julia Giertz

Henris Familie war mit dem Wunsch gescheitert, den Jungen von der Grundschule auf ein Gymnasium wechseln zu lassen. Die Lehrer hatten sich dort gegen die Aufnahme des Schülers ausgesprochen. Der Grünen-Landesverband kritisierte, dass Saur für die Gymnasien eine «Inklusion light» verlange mit der Möglichkeit, sich die passenden Kinder auszuwählen – und die anderen auszusondern.

Beamtenbundschef Volker Stich wies darauf hin, dass die UN-Behindertenrechtskonvention nur vor dem Hintergrund zu verstehen sei, dass 80 Prozent der Behinderten auf der Welt gar keinen Zugang zu Bildung hätten. Dagegen gebe es in Baden-Württemberg allein neun nach Behinderungen unterschiedliche Sonderschulen, die von einer Mehrzahl der Eltern gewünscht würden.

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Markus
9 Jahre zuvor

Natürlich ist die Warnung vor einer schleichenden Erosion des Gymnasiums berechtigt. Ebenso natürlich ist auch, dass die dafür verantwortlichen politischen Kräfte dies vehement bestreiten. „Schleichend“ ist immer eine gute Möglichkeit, relativ widerstandslos Ziele zu erreichen, wenn auch nicht auf dem schnellsten Weg.

jagothello
9 Jahre zuvor

Diese Befürchtung ist sicherlich berechtigt, aber ganz sicher nicht wegen der Inklusion! Selbst ihre zumeist ideologisch, jedenfalls selten empirisch argumentierenden Gegner kommen nicht um die Feststellung herum, dass i.d.R. die Schulträger EINE einzige weiterführende Schule als Inklusionsschule definieren, auf die dann, zumindest wenn sie sechszügig ist, max. 2,77% oder 5/180 Kinder mit Inklusionsbedarf gehen. So ist es jedenfalls im größten deutschen Bundesland, in NRW. Die allermeisten Gymnasien jedoch müssen nicht einmal diese 2,77% aufnehmen, da es ja zumeist pro Kommune im Mittel mehrere Gymnasien gibt. Ich tippe bezogen auf NRW auf eine gymnasiale Inklusionsquote von max. 0,92%, wahrscheinlich weitaus geringer, weil in den allermeisten Kommunen Sekundarschulen inkludieren, Real- oder Gesamtschulen und keineswegs die Gymnasien. Viele der Kinder kommen dann auch noch mit Förderschwerpunkt „körperliche Behinderung“, der eine gymnasiale Eignung per se nicht ausschließt. Kinder mit Förderschwerpunkt „Emotionale/Soziale“ – und/oder „Geistige Entwicklung“ (um die es in der Debatte offenbar hauptsächlich geht) wechseln noch weitaus seltener ins Gymnasium. Sie sind es übrigens, die Regelschulklassen ganz alleine sprengen können, das aber nicht nur am Gymnasium!