Premiere in Deutschland: Waldorf an staatlicher Schule – ausgerechnet im Brennpunkt

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HAMBURG. Passt Rudolf Steiners Waldorf-Pädagogik nach Hamburg-Wilhelmsburg – in ein Brennpunktviertel also, in dem neun von zehn Schülern aus Einwandererfamilien stammen? Die Schulbehörde der Hansestadt meint: Ja, wahrscheinlich. Und hat einem Versuch zugestimmt, in die Grundschule an der Fährstraße die Ideen der Waldorfpädagogik zu integrieren. Waldorf ist damit erstmals in Deutschland an einer staatlichen Schule vertreten. Die Wogen schlagen hoch.

Begründer der Waldorf-Pädagogik: Rudolf Steiner (1861 - 1925). Foto: Wikimedia Commons
Begründer der Waldorf-Pädagogik: Rudolf Steiner (1861 – 1925). Foto: Wikimedia Commons

Dabei soll die Schule keine reine Waldorf-Lehre vertreten: 50 Prozent Regelschule, 50 Prozent Waldorf – so lautet die Formel. Bei dem Schulversuch, der zum diesjährigen Schuljahresanfang mit drei ersten Klassen startet und auf acht Jahre angelegt ist, werden Waldorflehrer und Lehrer der staatlichen Schule gemeinsam unterrichten. Vorgesehen ist Epochenunterricht, und die künstlerisch-handwerklichen Fächer sollen ein größeres Gewicht erhalten. Für Irritationen sorgt laut „Zeit“ die Regelung, dass die Zweitklässer von der Fährstraße künftig nicht am hamburgweiten Vergleichstest Kermit teilnehmen müssen – offenbar rechne man bereits damit, nicht mithalten zu können, heißt es.

Namen tanzen mit Schülern, die kaum ein Wort Deutsch sprechen? Scharfe Kritik an dem Versuch übt der Grundschullehrer André Sebastiani von der „Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften“. Die hatte versucht, das Hamburger Projekt zu stoppen. „Der Waldorfpädagogik liegt die anthroposophische Weltanschauung zugrunde, ein Konzept, das extrem religiös und esoterisch ist – beinahe sektenhaft“, sagte Sebastiani der „Rheinischen Post“. In der auf Rudolf Steiner zurückgehenden Lehre sei etwa festgelegt, dass Kinder in Klasse eins noch nicht Lesen und Schreiben lernen sollten. In einem Problemstadtteil wie Wilhelmsburg sei das geradezu Gift, schimpft Sebastiani.

Anders urteilt, naturgemäß, der Bund der Freien Waldorfschulen (BDFWS). Vorstandsmitglied Henning Kullak-Ublick gratulierte der Hamburger Schulbehörde dazu, dass sie den Mut zu diesem Schulversuch aufgebracht haben: „Ohne Mut kann nichts Neues auf der Welt passieren“. Viele pädagogische Ideen, die zuerst an Waldorfschulen ausprobiert wurden, seien in das allgemeine Schulwesen übergegangen, angefangen beim Fremdsprachenunterricht ab der ersten Klasse über die Berichtszeugnisse ohne Sitzenbleiben bis zum Epochenunterricht, der der Idee des Projektunterrichtes zugrunde liege.

Kullak-Ublick: Die Waldorf-Pädagogik sei kein in sich geschlossenes System, sondern überhaupt nur denkbar, so lange sie sich entwickele. Was all ihren Methoden zugrunde liege, sei ein erweitertes Menschenverständnis, das den Menschen nicht auf seine körperliche und psychische Existenz beschränkt, sondern in jedem Menschen eine unverwechselbare Individualität sieht. Auch das von Kritikern des Schulversuchs ins Feld geführte Argument, die Waldorfpädagogik eigne sich nicht für Kinder in sozialen Brennpunkten, sei alles andere als zugkräftig. Von den weltweit mehr als tausend Waldorfschulen und noch weit mehr Waldorfkindergärten arbeiteten viele in brasilianischen Favelas, afrikanischen Townships oder anderen pädagogisch herausfordernden Nachbarschaften.

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„Gerade unter diesen schwierigen Bedingungen stellt die Waldorfpädagogik weltweit ihre Wandlungsfähigkeit unter Beweis“, betonte Kullak-Ublick. „Was uns verbindet, ist nicht ein bestimmtes System, sondern der Blick auf den werdenden Menschen in seinem jeweiligen kulturellen Umfeld.“

Privatschulen boomen in Deutschland. Vor allem Waldorf-Schulen sind beliebt. Der „ganzheitliche Ansatz“, der Wert lege auf die gleichberechtigte Förderung der intellektuellen, kreativen und handwerklichen Fähigkeiten, sei für viele Eltern attraktiv, sagt Steffen Borzner von der Landesarbeitsgemeinschaft der freien Schulen in Hessen. Die Waldorfschulen hätten nie G8 eingeführt, das Abitur sei nicht der allein seligmachende Abschluss. Die Nachfrage in Hessen sei «konstant» – und in Ballungszentren größer als auf dem Land, sagt Borzner. Ein Problem sei eher der Lehrermangel. Die Gründergeneration gehe bald in Rente, schon jetzt werden in Deutschland jährlich mehrere Hundert neue Waldorf-Pädagogen gebraucht.

Der Düsseldorfer Bildungsforscher Heiner Barz glaubt, dass viele Privatschulen – eben auch Waldorfschulen – gute Arbeit leisten: „Obwohl man sich Umwege leistet, sind die Schüler bei ihren Kompetenzen und ihrem Wissen, das sie im Abitur nachweisen müssen, auf dem gleichen Niveau, manchmal auch über dem Niveau der Schüler der staatlichen Schulen. Vergleiche der Abiturdurchschnittsnoten etwa in Hamburg oder Frankfurt zeigen, dass dort die Waldorfschulen immer wieder auf Platz eins liegen.“ Barz bezeichnet Hamburg als „spannendes Experiment“: „Es ist ein hoffnungsvoller Versuch, aber Versuche können auch scheitern.“News4teachers / mit Material der dpa

Zum Bericht: Abgelehnt im Schuldienst? Waldorfschulen werben um arbeitslose Junglehrer

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4 Kommentare
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Waldorf
9 Jahre zuvor

Man könnte böse formulieren, dass die musisch-künstlerisch-handwerklichen Fächer einen größeren Anteil bekommen sollen, um die Schüler nicht nachdenken lassen zu müssen bzw. ihnen ihre intellektuellen Grenzen nicht sofort aufzuzeigen. Aus diesem Grund ist der Schulvergleich, der sicherlich schwerpunktmäßig auf Denken basiert, wohlwissend entfernt worden.

Wenn die Bildungschancen für die Kinder nach dem Ende der Grundschule genauso gut oder besser sind wie bei „normalen“ staatlichen Regelschulen, dann ist das Experiment erfolgreich. Vielleicht werden dadurch dann die sektenhaften Vorurteile über Waldorfschulen abgebaut.

Reinhard
9 Jahre zuvor

wird es auch dort so sein, dass die Schüler keine Schulbücher erhalten, sondern selber eines schreiben sollen?

walddorf
9 Jahre zuvor
Antwortet  Reinhard

es soll ja halb staatlich, halb waldorf werden. bei lesen-schreiben-rechnen staatlich und malen-basteln-singen-bewegen waldorf dürfte sich effektiv nicht zu viel Esoterik und nicht zu wenig fachwissen ansammeln.

Cavalieri
5 Jahre zuvor

Verschwiegen wird (mal wieder), dass die Lehre des Rudolf Steiner (die ja weiter in die anthroposophische Pädagogik mit eingeht, wenngleich nicht ungefiltert) recht zweifelhafte Aspekte hat. Da gibt’s schon mal das, was man (über die bloße Verwendung von Worten wie „Neger“ hinaus) tatsächlich „rassistisch“ nennen könnte:
https://www.stern.de/panorama/gesellschaft/waldorfschulen-gruender–der-neger-hat-ein-starkes-triebleben–3274106.html
Nebenbei erfährt man was von einem NPD-Lehrer an einer Waldorfschule, dem man allerdings die Schulleitung verweigerte. Auch er berief sich auf Rudolf Steiner. Die Manager der Waldorfschulen sehen Steiner natürlich nur positiv:
https://www.waldorfschule.de/waldorfpaedagogik/anthroposophie/rudolf-steiner/