„Es gab keine Regeln“ – „Die Auserwählten“-Regisseur war selbst an der Odenwaldschule

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Hier geht es zur aktuellen Kritik zum Film.

DÜSSELDORF. Die Geschichte ist so brisant, dass Ex-Schüler versuchten, die Ausstrahlung zu verhindern. Am 1. Oktober ist es soweit: Die ARD sendet den Fernsehfilm „Die Auserwählten“. Die Geschichte ist schockierende Realität. Über zwei Jahrzehnte missbrauchten Pädagogen an der Odenwaldschule mindestens 132 Kinder. Regisseur Christoph Röhl hat darüber einen fiktionalen Film gedreht. Im Interview erklärt er, warum das Thema ihn umtreibt.

News4teachers.de: Sie waren selbst an der Odenwaldschule als Tutor. Wie haben Sie selbst die Atmosphäre dort erlebt?
Röhl: Sehr ähnlich wie die Hauptfigur im Film. Zunächst begeistert von der Lage, vom scheinbar fortschrittlichen pädagogischen Konzept, von allem einfach. Ich sage scheinbar, weil das alles irgendwie nicht real war. Erst später habe ich gemerkt, dass es an der Schule Missstände gab. Das bezieht sich nicht auf den Missbrauch, sondern auf eine Art Grenzenlosigkeit, eine Atmosphäre der Verwahrlosung. Es wurde viel zu viel geraucht und gesoffen, zum Teil sogar mit Lehrern. Es gab keine Regeln, zumindest keine, die konsequent eingehalten wurden. Grenzen wurden nicht geachtet. Gleichzeitig war das Sendungsbewusstsein der Schule so ausgeprägt, dass es nicht möglich war, auf die Missstände hinzuweisen. Darüber herrschte ein Frageverbot. Kritik entgegnete man an der Odenwaldschule mit der Einstellung „Wir sind die beste Schule Deutschlands – es ist schon richtig, was wir hier machen.“

Regisseur Röhl war selber Tutor an der Odenwaldschule. (Foto: PR)
Regisseur Röhl war selbst Tutor an der Odenwaldschule. (Foto: PR)

N4T: War Ihr eigenes Erleben der Anlass, dass Sie sich mit dem Thema beschäftigt haben?
Röhl: Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, wenn ich nicht an der OSO gewesen wäre, hätte ich den Dokumentarfilm „Und wir sind nicht die Einzigen“ nicht gemacht. Dieser Dokumentarfilm hat mich als Mensch gründlich verändert. Ich habe in den Abgrund geschaut, und das war für mich eine Art Wendepunkt in meinem Leben. Wenn man mit den Opfern einmal gesprochen, die Berichte von dem Grauen, das sie erlebt haben, einmal gehört hat, dann gibt es kein Zurück mehr. Für mich war das der Ansporn, erst einmal diesen Dokumentarfilm hinzukriegen. Ich wollte, dass andere Menschen genau die gleiche Gelegenheit der direkten Begegnung mit den Betroffenen bekommen wie ich. Nur so kann man nämlich Kindesmissbrauch emotional begreifen. Sonst bleibt es abstrakt.

N4T: Lässt sich beim Dreh zu solch einem Thema die Betroffenheit ausblenden?
Röhl: Beim Drehen stellt sich das in der Regel nicht, weil man an einzelnen Szenen arbeitet. Man überlegt sich, wie das Licht aussehen soll und macht sich Gedanken über die Choreographie der Schauspieler. Meiner Meinung nach entsteht ja der Film erst in den Köpfen der Zuschauer, beim Gucken des Filmes. Erst hier fügen sich die Puzzleteile in ein Ganzes, in eine Geschichte, zusammen. Es gab allerdings eine Szene, in der Julia Jentsch, die die Hauptfigur spielt, so berührend war, dass wir alle geheult haben. Es ging um die Szene, wo sie als Lehrerin aus der Schule herausgeworfen wird.

N4T: Was wollen Sie mit dem Film erreichen?
Röhl: Ich möchte auf ein grundlegendes Problem aufmerksam machen, und zwar warum es so ist, dass das Umfeld wegschaut, wenn es von Kindesmissbrauch erfährt. Woher kommen diese Abwehrmechanismen? Warum tun wir uns so schwer damit, Kindern zu glauben, wenn sie uns ihre Missbrauchsgeschichten erzählen? Das sind für mich die Hauptfragen, mit denen wir uns beschäftigen müssen, um dieses massive Problem zu lösen.

N4T:  Sie wurden für Ihr Engagement gegen Kindesmissbrauch ausgezeichnet. Wie beurteilen Sie den Umgang mit dem Thema in der Öffentlichkeit heute?
Röhl: Man hat erst jetzt angefangen überhaupt zu begreifen, wie weit verbreitet das Problem sexueller Kindesmissbrauch eigentlich ist. Wir haben den ersten Schritt gemacht, aber wir sind lange nicht am Ende. Es noch zu viele Menschen, die Angst vor dem Thema haben. Auch Lehrer. Das muss sich ändern. Es wird immer noch zu oft behauptet: Das gibt es bei uns nicht. Tatsache aber ist, dass durchschnittlich zwei Kinder in jeder Klasse sitzen, die missbraucht werden. Heute. Wir müssen als Gesellschaft lernen, die Auffälligkeiten von Kindern, die missbraucht werden, besser zu erkennen. Für Lehrer ist es darüber hinaus wichtig, zu verstehen, wie sie in einem Verdachtsfall handeln sollten, denn darüber gibt es große Unsicherheit. Sie sollten zum Beispiel den Fall nicht der Polizei melden. Sie sollten stattdessen ruhig bleiben, dem Kind zeigen, dass man als Vertrauensperson für ihn oder sie da ist. Und dann sollte man jene Fachexperten einschalten, die täglich mit solchen Situationen zu tun haben: Wildwasser und Tauwetter zum Beispiel. Es gibt ein tolles E-Learning-Programm, das von der Uniklinik Ulm und dem BMBF eigens für Lehrer entwickelt wurden ist. Wenn ein bis zwei Lehrer in jeder Schule diesen Online-Kurs absolvieren würden und als Ansprechpartner für Kollegium fungieren könnten, dann wären wir ein Schritt weiter. Die Fragen stellte Nina Braun

Der Film „Die Auserwählten“ läuft am 1. Oktober um 20.15 Uhr in der ARD und ist ab 2. Oktober auch auf DVD erhältlich (Edel:Motion).

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Die Geschichte:
Ende der 1970er-Jahre tritt die junge Biologielehrerin Petra Grust (Julia Jentsch) ihren Job an der legendären Odenwaldschule an, dem Vorzeigeprojekt der Reformpädagogik. Zunächst zeigt sich Petra begeistert von der vermeintlichen Hippie-Idylle, die an der Schule vorherrscht; hier gibt es keine Noten, der Umgang der Lehrer untereinander scheint äußerst harmonisch zu sein, und zwischen Lehrern und Schülern geht es ausgesprochen offen und zwanglos zu. Vor allem der berühmte Schulleiter Simon Pistorius (Ulrich Tukur) zeigt sich zuvorkommend, charmant, humorvoll und hat allem Anschein nach einen guten Draht zu Kindern. Doch langsam blickt Petra hinter die Kulissen und merkt, dass der Internatsalltag nichts mit Liberalismus zu tun hat. Schüler und Lehrer beiderlei Geschlechts benutzen dieselben Duschen, junge Schüler rauchen, trinken und nehmen Drogen, und ein Kollege hat sogar ein Verhältnis mit einer minderjährigen Schülerin. Nach und nach erweist sich auch der vordergründig charismatische Pädagoge Pistorius als selbstgerechter Despot, eine Mischung aus Sektenführer und Diktator, der aber vor allem ein Pädophiler ist und die gesellschaftlichen Umwälzungen dieser Zeit für seine perfiden Zwecke ausnutzt.
Die WDR-Produktion „Die Auserwählten“, die mit Unterstützung der Odenwaldschule im Spätsommer 2013 gedreht wurde, ist der erste Fernsehfilm, der dieses Thema aufgreift und die erschreckende Systematik von Missbrauch, Verdrängung und Verschweigen an Originalschauplätzen fiktional darstellt. Nach Schilderungen ehemaliger Opfer und Betroffener inszenierte der mehrfach ausgezeichnete Regisseur Christoph Röhl, selbst zwischen 1989 und 1991 Tutor an der Odenwaldschule, mit „Die Auserwählten“ einen bewegenden Film, der die Frage aufwirft: Wie schafften es die Täter, ihr Umfeld dermaßen zu manipulieren, dass niemand, noch nicht einmal die Eltern, bereit waren, den Aussagen der Kinder zu glauben?

Zum Bericht Ex-Odenwaldschüler wollen Ausstrahlung von „Die Auserwählten“ verhindern

Zum Bericht Der Horror eines Missbrauchssystems: ARD zeigt Spielfilm zur Odenwaldschule

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3 Kommentare
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PseudoPolitiker
9 Jahre zuvor

Auf der Hitliste der oft gelesenen Artikel ganz oben und kein einziger Kommentar? Das wundert mich doch sehr.

Reinhard
9 Jahre zuvor
Antwortet  PseudoPolitiker

das lässt sich ändern. Ich habe den Film auch nicht gesehen. Die Wirklichkeit ist mir aufregend genug.

AvL
1 Monat zuvor

Der Blender vom Zauberberg der Odenwaldschule
hatte einflussreiche Mitwisser, einen mit seiner
sogenannten Laborschule in Bielefeld, und die
Nibelungentreue zu diesem Pädokriminellen
reichte bis zu dessen Tod.
Im Nachruf wurde dreister Weise auch noch Goethe zitiert.
„Die Feinde sie bedrohen dich,
das mehrt von Tag zu Tage sich….“
Es ist ekelhaft.