Physik: „Ich staune“ – ISS-Astronaut Gerst im Interview

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MOSKAU. Mit 27 000 Stundenkilometern rast der Württemberger Alexander Gerst auf der Raumstation ISS um die Erde. Erstmals seit sechs Jahren arbeitet wieder ein Deutscher im All. Wie lautet seine Botschaft für uns hier unten?

 Nach gut 100 Tagen im All zieht der deutsche Astronaut Alexander Gerst auf der Internationalen Raumstation ISS eine erste Bilanz. «Ich betrachte die Erde und staune, dass diese Welt überhaupt entstanden ist», erzählt der 38-Jährige. Der Geophysiker aus Künzelsau (Hohenlohekreis) ist der dritte Deutsche auf der ISS. Ende Mai war er vom Weltraumbahnhof Baikonur zum Außenposten der Menschheit in rund 400 Kilometer Höhe geflogen. Bis zur geplanten Rückkehr am 11. November stehen noch viele Experimente an.

N4T: Was haben Sie gefühlt, als Sie auf der Raumstation ankamen?

Nun, es war alles ein wenig unwirklich. Ich hatte gerade eine Serie von «Ersterlebnissen» hinter mir – der Abschied von der Erde, der Start in der Rakete, der Flug in der Kapsel. Das erste, was mir nach dem Andocken und dem Öffnen der Luken auffiel, war ein eigenartiger Geruch von Technik, wie man ihn in einer Maschinenhalle oder in einem U-Boot erwartet. Diesen Geruch hatte ich zehn Minuten in der Nase, dann war er weg. Physisch habe ich mich die ganze Zeit pudelwohl gefühlt. Nur in den ersten zwei Tagen hatte ich immer mal wieder den Eindruck, wie eine Fledermaus von der Decke zu hängen.

N4T: Wovon träumt man beim Schlafen im Weltall?

Eigentlich ist mein Schlaf hier oben etwas weniger tief. Ich merke, dass ich öfters aufwache. Manchmal wünsche ich mir, mich einfach einmal auf die andere Seite legen zu können. Aber das geht natürlich nicht, wenn man schwebt. Was das Träumen betrifft: Ich habe da bisher keinen Unterschied zum Schlaf auf der Erde bemerkt.

N4T: Bis vor Kurzem waren drei Russen, zwei Amerikaner und ein Deutscher auf der ISS: Bei der aktuellen Lage bleiben Gespräche über Politik kaum aus, oder?

Stimmt. Wir unterhalten uns regelmäßig über aktuelle Themen, auch über Politik. Jeder bemüht sich aber, dem anderen in seiner privaten Auffassung nicht zu nahe zu treten und die Meinung des anderen nicht zu werten. Wir bleiben sehr tolerant und interkulturell rücksichtsvoll, das macht das Gespräch einfacher und angenehmer. Mir geht es bei solchen Gesprächen darum, die andere Kultur besser zu verstehen und nicht, jemanden von meiner Meinung zu überzeugen.

N4T: Was war Ihr bestes und schlechtestes Erlebnis bisher?

Für mich gab es nur einen herausfordernden Moment: Als wir im August mitten in der Vorbereitung für einen Außenbordeinsatz im Raumanzug erfahren haben, dass sich dieser verschiebt oder eventuell ausfällt. Wir hatten Hunderte Stunden unter Wasser trainiert und uns dann vor der Aktivität mental wochenlang darauf eingestellt. Ich hatte alles bis in die kleinsten Details vor meinem inneren Augen Revue passieren lassen. Den Plan dann zu verwerfen, erforderte erst einmal eine gewaltige Umstellung. Aber wenn man bedenkt, dass der Grund technisch und absolut nachvollziehbar ist, kann man damit umgehen. Auch wenn es schwierig ist.

Hilfreich sind in solchen Momenten natürlich die «besten» Erlebnisse: das ist zuallererst die Freundschaft, die in der Mannschaft herrscht. Momente, in denen man herzlich lacht, oder wenn man zusammen schwierige Aufgaben erledigt – wie das manuelle Andocken eines Versorgungsraumschiffes. Das sind großartige Erlebnisse, die keiner von uns je wieder vergessen wird. Auch der Blick aus dem Fester ist unvergesslich und mit Worten nicht zu beschreiben. Auch wenn man es hundertmal gesehen hat, kann einen ein orbitaler Sonnenaufgang oder eine Aurora (Polarlicht), durch die man fliegt, zu Tränen rühren.

N4T: Europa hat eine begrenzte Anzahl von Plätzen auf der ISS. Möchten Sie ein zweites Mal ins All? Oder ist jetzt ein anderer dran?

Die Esa (Europäische Raumfahrtagentur) hat 2009 sechs Astronauten rekrutiert. Zwei davon, Luca Parmitano und ich, sind bereits geflogen. Die anderen stehen kurz davor oder befinden sich im Training dafür. Somit ist die Esa bis 2017 mit Astronauten bedient, und jeder Astronaut im Esa-Corps wird dann einmal geflogen sein. Letztendlich ist es nicht meine Entscheidung – doch sollte man es mir anbieten, stehe ich selbstverständlich mit Freude zur Verfügung.

N4T: Was haben Sie im All mehr gefunden: Fragen oder Antworten?

Ich habe hier oben weder unbekannte Fragen noch universelle Antworten gefunden. So einfach ist es nicht. Was ich aber gefunden habe, ist eine neue Perspektive. Und zwar jene von einem kleinen blauen Planeten mit sehr begrenzten Ressourcen, umrundet von einer hauchdünnen Luftschicht und bedeckt mit einem hochzerbrechlichen Ökosystem. Ich habe einen besonderen Blick erhalten auf den bisher einzigen uns bekannten Ort im Universum, an dem wir Menschen dauerhaft leben können, und auf dem alles miteinander zusammenhängt. Das erkennt man von hier oben sehr klar.

Wenn man sich diese Perspektive verinnerlicht, ergeben sich für jeden von uns vermutlich automatisch neue Fragen und Antworten, die von unseren ganz persönlichen Umständen abhängen. Deshalb ist es diese besondere Perspektive auf unsere Erde als kleinen blauen Punkt in einem schwarzen Universum, die ich versuche anhand von Bildern und Kommentaren über die sozialen Netzwerke zu vermitteln.

Derzeit im All: der deutsche Astronaut Alexander Gerst. Foto: NASA/Robert Markowitz, Wikimedia Commons
Derzeit im All: der deutsche Astronaut Alexander Gerst. Foto: NASA/Robert Markowitz, Wikimedia Commons

N4T: Kann es sein, dass Sie nie mehr Größeres erleben als jetzt?

Schwer zu sagen. Meiner – zugegebenermaßen begrenzten – Erfahrung nach hat das Leben eigentlich immer Großes für uns parat. Dafür muss man nicht in den Weltraum reisen. Was nach dieser sicher großartigen Erfahrung passiert, hängt nicht nur vom Leben, sondern auch konkret von mir ab. Man muss offen für neue Dinge sein und Gelegenheiten beim Schopfe packen. Ich werde mich bemühen, mir neue Ziele zu setzen, die meine Neugier und Lust am Leben befriedigen.

N4T: Denkt man im All pragmatisch oder eher philosophisch?

Beides. Wenn man mit diesem extrem komplexen System der Raumstation arbeitet, in dem Fehler enorme Auswirkungen haben können, muss man sehr pragmatisch sein. Diese Momente überwiegen an einem normalen Tag hier oben. Doch immer dann, wenn mich ein Blick aus dem Fenster aus diesem funktionellen Pragmatismus reißt, und ich ein wenig nachdenke, was ich gerade sehe, lassen sich philosophische Gedanken gar nicht vermeiden. Ich betrachte die Erde und staune, dass diese Welt überhaupt entstanden ist.

N4T: Wie lautet Ihre Botschaft für uns hier unten?

Ich bin ein ganz normaler Mensch, der das unwahrscheinliche Glück hatte, in eine Position zu kommen, in der man die Welt mit anderen Augen sieht. Was ich deshalb sehr viel wichtiger finde als eine Botschaft, ist, meine Perspektive zu vermitteln. Was jeder einzelne von uns dann mit dieser Perspektive anfängt, ist unsere eigene Entscheidung. Ich muss mir, wie jeder, zuerst an die eigene Nase fassen. Nach meiner Rückkehr werde ich auf jeden Fall versuchen, noch vorsichtiger und nachhaltiger mit unserer Erde und ihren Ressourcen umzugehen. Das weiß ich schon jetzt. Die Fragen stellte Wolfgang Jung

ZUR PERSON: Alexander Gerst ist der elfte Deutsche im All. Er hat in Karlsruhe Geophysik studiert und forschte an der Universität Hamburg. Auf den Beruf als Astronaut habe er nie gezielt hingearbeitet, sagt der Mann mit dem kahlgeschorenen Kopf. Die Bewerbung bei der Europäischen Raumfahrtagentur Esa sei «ein Versuch» gewesen. Dort setzte sich der am 3. Mai 1976 in Künzelsau (Baden-Württemberg) geborene Gerst gegen mehr als 8400 Konkurrenten durch. Besonders schwer fällt ihm die Trennung von seiner Freundin, einer Physikerin.

 

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