Dem Leben zusehen – Deutscher bekommt Nobelpreis für neue Ära von Mikroskopen

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BERLIN. Wissenschaftler machen sich ein Bild von der Welt. Mit Teleskopen blicken sie ins All, mit Mikroskopen auf kleinste Details. Für eine spektakuläre neue Möglichkeit, winzige Abläufe in Zellen zu beobachten, bekamen drei Forscher jetzt den Chemie-Nobelpreis – darunter der Deutsche Stefan Hell.

Lehnte 2008 einen Ruf nach Harvard ab - und blieb in Göttingen: Stefan Hell. Foto: B. Schuller / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)
Lehnte 2008 einen Ruf nach Harvard ab – und blieb in Göttingen: Stefan Hell. Foto: B. Schuller / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Erbsubstanz bei ihrer Vermehrung und Nervenzellen beim «Denken» zusehen: Solche Prozesse in lebenden Zellen lassen sich mit speziellen Mikroskopen beobachten, die erst vor wenigen Jahren erfunden wurden. Ihre immense Bedeutung für Medizin und Forschung macht der Chemie-Nobelpreis für den deutschen Max-Planck-Forscher Stefan Hell sowie die US-Amerikaner Eric Betzig und William Moerner deutlich.

Krankheiten wie Krebs könnten nur verstanden werden, wenn die Abläufe in den Zellen genau bekannt seien, betont Hell. «Dadurch, dass man jetzt schärfere Bilder aus lebenden Zellen gewinnen kann, wird man besser verstehen, was in der Zelle abläuft und auch deswegen besser verstehen, was sich abspielt, wenn etwas aus dem Ruder gerät, wenn eine Krankheit entsteht.»

Mehr als ein Jahrhundert lang galt in der Physik als unumstößliches Dogma: Lichtmikroskope werden nie eine höhere Auflösung haben als 200 Nanometer, 200 Millionstel Millimeter also. Licht breitet sich als Welle aus und wird gebeugt, wenn man versucht, es auf einen Punkt zu fokussieren. Dieser Punkt wird ein Lichtfleck von einer halben Wellenlänge – und das sind bestenfalls eben jene 200 Nanometer. Formuliert hatte dieses Gesetz 1873 der Jenaer Physiker Ernst Abbe.

Ein Stecknadelkopf scheint uns winzig – und doch beträgt sein Durchmesser eine Million Nanometer. Mit guten Lichtmikroskopen lassen sich seit Jahrzehnten die Konturen lebender Zellen betrachten. Die wenige Nanometer großen Proteine in den Zellen und selbst viele Zellorgane blieben den Lichtmikroskopen verborgen.

Etwas Abhilfe schufen Elektronenmikroskope, die bis in den Nanometerbereich auflösen, für lebende Strukturen aber viel zu zerstörerisch arbeiten. Und schließlich gelang doch das Undenkbare: Mit abgewandelter Fluoreszenzmikroskopie und klugen Tricks konnte die Beschränkung der Lichtmikroskopie umgangen und die Auflösung drastisch erhöht werden – erstmals seit Erfindung des Mikroskops im 16. Jahrhundert. Hell realisierte vor etwa 15 Jahren das sogenannte STED-Mikroskop (Stimulated Emission Depletion), Betzig und Moerner 2006 die Einzelmolekül-Mikroskopie.

Ausgewählte Strukturen der Zelle werden dabei mit Fluoreszenzfarbstoffen markiert, das von ihnen ausgehende Licht wird erfasst. Mit optisch schaltbaren – quasi blinkenden – Farbstoffen und Tausenden Aufnahmen wird aus den Koordinaten einzelner fluoreszierender Moleküle ein Gesamtbild rekonstruiert.

Zur Veranschaulichung: Von der Raumstation ISS betrachtet erscheint Berlin bei Nacht als leuchtender verschwommener Fleck, einzelne Straßen oder Gebäude können nicht mehr aufgelöst werden. Würde jede einzelne Lichtquelle für kurze Zeit einzeln angeschaltet, ließe sich aus den einzelnen Punkten die räumliche Anordnung wesentlich genauer rekonstruieren. So geschieht dies bei der superauflösenden Fluoreszenzmikroskopie.

An mehrfarbigen Aufnahmen, die verschiedene Strukturen zeigen, wird gearbeitet, zudem lassen sich Vorgänge in der Zelle sogar als Film festhalten. Dem Wer-mit-Wem in den Zellen detailliert auf die Schliche zu kommen, birgt gewaltiges Potenzial. «Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Entdeckung, die heute ausgezeichnet worden ist, mittelfristig in letzter Konsequenz auch zu besseren Therapien in der Medizin führen wird», so Hell.

Forscher hoffen, beobachten zu können, welche Moleküle an der Veränderung einer Zelle hin zur Krebszelle beteiligt sind oder wie ein Medikament wirkt. «Wir können jetzt plötzlich sehen, wie Krebszellen miteinander kommunizieren, wie Krebszellen mit gesunden Zellen des Körpers Kontakt aufnehmen und auf der Basis kann man natürlich versuchen, völlig neue Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln», sagt Otmar Wiestler, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums.

Das Wirken von Viren im Körper könne verfolgt werden. «Ich glaube auch, dass die Hirnforschung enorm profitieren wird», sagt Wiestler. Drei brillante Forscher haben ein neues Fenster aufgestoßen – und Mediziner, Biologen und Hirnforscher auf der ganzen Welt blicken nun neugierig hindurch. Annett Stein, dpa

Zum Bericht: Frischgebackener Nobelpreisträger wünscht sich: Hirnforschung soll Schulstoff werden

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