TV-Kritik: „Die Auserwählten“ – schwer zu ertragen, unbedingt sehenswert

2

DÜSSELDORF. Sie fühlten sich auserwählt, aber ihnen wurde die Seele genommen. Der Film „Die Auserwählten“ ist schwer zu ertragen. Vor allem mit dem Wissen, dass der jahrzehntelange Missbrauch an der Odenwaldschule nie gesühnt wurde. Keiner der Täter wurde je zur Rechenschaft gezogen. Zeit für eine Aufarbeitung der Geschichte – der Film bietet genügend Anschauung.

Ulrich Tukur spielt die Hauptrolle in dem Drama "Die Auserwählten". Foto: WDR, Katrin Denkewitz
Ulrich Tukur spielt die Hauptrolle in dem Drama „Die Auserwählten“. Foto: WDR, Katrin Denkewitz

Darf das reale Leid von Menschen in Form einer fiktionalen Handlung dargestellt werden? Die Diskussion kam auf, als in den 70-er Jahren die Serie „Holocaust“ den Judenmord im Rahmen einer Spielhandlung thematisierte – und die Frage stellt sich beim Film „Die Auserwählten“ aufs Neue. Ein sehr schmaler Grad, auf dem sich die Macher hier bewegen. Überziehen sie, dann wird das Konstrukt unglaubwürdig – und mit ihm die historischen Fakten. Untertreiben sie, dann wird die Dimension des Schreckens verniedlicht. Um es vorweg zu sagen: Dem Odenwaldschule-Film gelingt es (wie damals der Reihe „Holocaust“ auch), die Balance zu wahren. Die Dramaturgie schafft es, die nüchternen Fakten – mindestens 132 Schüler wurden jahrzehntelang von 16 Lehrern missbraucht – für den Zuschauer nachvollziehbar zu machen, das Leid mit Gesichtern und Schicksalen zu verbinden.

Die – fiktionale, aber nah an der Wirklichkeit entlang konstruierte – Geschichte beginnt mit dem mittlerweile erwachsenen Schüler Frank, der, aufgeschreckt durch den Selbstmord des ehemaligen Mitschülers Volker, mit den Missbrauchsvorwürfen an die Öffentlichkeit gehen will. Dann springt die Handlung 30 Jahre zurück und wechselt in die Perspektive der Lehrerin Julia Grust, die neu an die renommierte Reformschule kommt und nach und nach immer mehr Abgründe der vermeintlich menschen- und kinderfreundlichen Pädagogik der Odenwaldschule (Motto: „Werde, wer du bist“) entdeckt. Eine solche Lehrerin hat es nie gegeben – tatsächlich gab es im realen System keinen, der den Missbrauchten zugehört hätte, es gab also keine Hoffnung auf Erlösung. Für eine Spielhandlung, die einem Zuschauer Identifikationsmöglichkeiten bieten muss, ist der Kunstgriff notwendig. Und er geht auf.

Es ist vordergründig eine Hippie-Idylle, die der Film beschreibt, deren fragwürdige Grenzenlosigkeit der neuen Lehrerin aber schnell deutlich wird. Als ihr Freund und sie sich küssen, fragen vorbeikommende Schüler, ob sie (beim Sex) zugucken dürfen. Als sie morgens duschen will, kommen Schüler in den Duschraum und ziehen sich unbefangen aus. Selbst junge Schüler rauchen Zigaretten auf dem Schulgelände. Vorzeigepädagoge und Schulleiter Simon Pistorius – gemeint ist der seinerzeit hoch angesehene Reformpädagoge Gerold Becker – begrüßt sie im Bademantel. Ulrich Tukur spielt Pistorius. Und es gelingt ihm, den janusköpfigen Charakter des historischen Vorbilds herauszuarbeiten – hier ein Menschenfischer und Vorzeigepädagoge, dort ein brutaler und erbärmlicher Vergewaltiger, der seine Opfer gleich doppelt missbraucht, weil er ihnen auch noch unterstellt, sie würden ihn zu diesen Taten bringen („Was du immer mit mir machst“).

Anfangs ist die junge Lehrerin, überzeugend dargestellt von Julia Jentsch, dennoch begeistert. „Ich finde es klasse, wie ihr euch um jeden einzelnen Schüler hier kümmert“, sagt sie bei der ersten Lehrerkonferenz. Dann kommen die ersten Szenen, die hart sind, obwohl sie Geschehen nur andeuten. Der Schüler Frank (eindrucksvoll: Leon Seidl) liegt im Bett und zittert, als der Schulleiter zum „Weckritual“ hereinkommt. Dass es nicht nur Pistorius ist, der missbraucht, zeigt der Film in weiteren Szenen. Ein langhaariger Kollege verkehrt allzu vertraut mit einer Schülerin. Ein anderer Lehrer will Frank dazu verführen, was Pistorius doch auch immer mit ihm mache. Als der Junge wegläuft, schnappt sich der Pädagoge ein anderes Kind – und verpflichtet es „zum Mittagschlaf“.

Anzeige

In welcher gesellschaftlichen Atmosphäre das stattfindet, machen die Gespräche unter den Kollegen deutlich. „Mit Fleiß kann man auch ein KZ errichten“ und ähnliche Sprüche kursieren. Das Entsetzen wächst, als Petra immer mehr Dinge entdeckt, die ihr nicht gefallen – und doch mit ihrem Willen zur Aufklärung gegen Wände läuft. Als sie unter Kollegen vorsichtig anspricht, dass so viel Nähe den Schülern vielleicht nicht gefallen könnte, hört sie: „Das gibt es nicht, dass sich jemand hier nicht traut, Nein zu sagen.“ Tatsächlich war das Kollegium seinerzeit von der Idee der Freiheit in der Pädagogik überzeugt – eine Freiheit, die sich lediglich als die Freiheit einer pädokriminellen Bande entpuppte, sich Kindern bedienen zu dürfen, wann immer es beliebte. Dies mit aller Klarheit deutlich gemacht zu haben, das ist ein Verdienst des Films „Die Auserwählten“. Unbedingt sehenswert.

Lediglich eine Frage bleibt offen: Haben sich im Fall der Odenwaldschule Verbrecher der Reformpädagogik bedient – oder sind Grenzüberschreitungen und Übergriffe in der Reformpädagogik (mit der gewünschten emotionalen Verbindung zwischen Lehrer und Schüler und Begrifflichkeiten wie dem „pädagogischen Eros“) angelegt? Diese Diskussion, die der Film lediglich anstoßen konnte, sollte jetzt geführt werden. NINA BRAUN

 

Achtung: Gewinnen Sie eine DVD des Films bei der News4teachers-Redaktion. Schreiben Sie an redaktion@news4teachers.de, Stichwort  „Film Odenwaldschule“. Der Film ist ab 2. Oktober auf DVD erhältlich (Edel:Motion).

Zum Interview: “Es gab keine Regeln” – “Die Auserwählten”-Regisseur war selbst an der Odenwaldschule

Zum Bericht: Der Horror eines Missbrauchssystems: ARD zeigt Spielfilm zur Odenwaldschule

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

2 Kommentare
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
mehrnachdenken
9 Jahre zuvor

In der Forums – Diskussion über die anschließende Talkrunde bei Anne Will schlägt jemand vor, die Odenwaldschule abzureißen und dort dann ein Mahnmal zu errichten. Kein so schlechter Gedanke, meine ich.

dr.friedrich schreyer
9 Jahre zuvor

Der Artikel zeigt deutlich wie selten, dass der Film von der Odenwaldschule, wie seit 15 Jahren organisiert ist , absolut nichts, aber auch garnichts zeigt. Vokabeln wie „pädagogischer Eros“ sind dort seit Ewigkeiten nicht aufgetaucht und die dort arbeitenden LehrerInnen kennen diesen Begriff wahrscheinlich überhaupt nicht.

Im übrigen : wenn man als LehrerIn einige Sekunden vor einer Klasse steht, existiert zu fast jedem Schüler, jeder Schülerin eine emotionale Verbindung, Sympathie, Antipathie sind sofort existent und dauern oft bis zum Ende der Schulzeit fort.

Was zu der Zeit des Filmgesc in der Odenwaldschule u.a. katastropal war, war die Regel der absolut unverschlossenen Tür. Weder LehrerInnen noch SchülerInnen durften ihre Zimmertüren abschließen. Allein diese Regel hatte unsägliche Folgen die gibt es aber seit Beginn des neuen Jahrtausends nicht mehr.

Was der Film nicht zeigt: was zwischen den SchülerInnen passiert und hier ist die verschlossene Tür nicht unbedingt sinnvoll.

Was im Film nur sekundenweise auftaucht: der sogenannte Rechtsausschuss – eine interne Justiz. Ein extrem
zweifelhaftes Instrument – müsste sofort abgescafft werden..etc.etc..

All das und noch viel mehr kennt der Zuschauer nicht, ist also nur mit den Bildern des Films allein gelassen..

schlechter Film,really!!