Neues Schulgesetz: Heiligenstadt drosselt das Tempo bei der Inklusion – ein bisschen

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HANNOVER. Niedersachsen gestaltet mit einem neuen Schulgesetz die Schullandschaft um. Nach Kritik präsentiert die Kultusministerin kleine Änderungen auf dem Reformweg. Allerdings bleibt es bei der umstrittenen Stärkung der Gesamtschulen. Der Philologenverband kritisiert das geplante Schulgesetz scharf.

Die rot-grüne Landesregierung will die Sprachförderschulen in Niedersachsen doch nicht abschaffen. Hintergrund sind vehemente Proteste gegen die ursprünglich vorgesehene schrittweise Auflösung dieser Schulen. Es nütze nichts, etwas durchdrücken zu wollen, wenn Eltern und Lehrer nicht überzeugt seien, begründete Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) am Donnerstag in Hannover die Änderung im Entwurf für das neue Schulgesetz.

Sie sprach von einem «Bildungschancengesetz», das von breiter Zustimmung getragen sei. Die CDU– und FDP-Landtagsfraktionen bezeichneten den Entwurf als ein «Chancenvernichtungsgesetz». Rot-Grün halte nichts vom Leistungsgedanken an den Schulen, kritisierte der CDU-Schulexperte Kai Seefried. Der schulpolitische Sprecher der FDP, Björn Försterling, forderte die Ministerin auf, das Gesetz komplett zurückzunehmen.

Möchte Inklusion voranbringen: Niedersachsens Kultusministerin Frauke Heiligenstadt. Foto: Martin Rulsch / Wikimedia Commons CC-by-sa 3.0/de
Hat sich bei Gymnasiallehrern nicht gerade beliebt gemacht: Niedersachsens Kultusministerin Frauke Heiligenstadt. Foto: Martin Rulsch / Wikimedia Commons CC-by-sa 3.0/de

INKLUSION: Landesweit gibt es neun Förderschulen mit dem Schwerpunkt Sprache sowie Sprachförderklassen an 53 Standorten. Sie erhalten nach Angaben der Ministerin einen unbefristeten Bestandsschutz. Neue Sprachförderschulen sollen aber nicht genehmigt werden. Im Anhörungsverfahren sei der Wunsch nach mehr Zeit bei der Umsetzung der Inklusion deutlich geworden, sagte Heiligenstadt.

ABITUR: Der zentrale Punkt der Reform ist die generelle Rückkehr zum Abitur nach 13 Jahren. Die Abschaffung des Turbo-Abiturs wird über Partei- und Verbandsgrenzen hinweg begrüßt.

GESAMTSCHULEN: Umstritten ist dagegen die Stärkung der Gesamtschulen, die künftig ersetzende Schulform sein können. Die Kommunen entscheiden selbst, ob sie Integrierte Gesamtschulen als ersetzende Alternative zu Haupt- und Real- beziehungsweise Oberschulen und Gymnasien anbieten wollen. Erklärt eine Kommunen die Gesamtschule zu einer ersetzenden Alternative, haben die Eltern dort ein Anrecht darauf, dass ihr Kind einen Platz an einer Gesamtschule bekommt. Eine Gesamtschule kann nur ersetzend werden, wenn ein Gymnasium unter zumutbaren Bedingungen erreichbar ist. Als zumutbar gilt ein Schulweg von etwa einer Stunde.

Ersetzende Gesamtschulen gibt es aber grundsätzlich schon seit 40 Jahren in Niedersachsen, bisher aber nur auf ausdrücklichen Antrag der Kommunen, sagte der Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Eberhard Brandt. Etwa 45 der landesweit 128 Gesamtschulen sind nach Ministeriumsangaben bereits ersetzend.

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GYMNASIEN: Ministerin Heiligenstadt betonte erneut: «Die Gymnasien bleiben erhalten.»

GRUNDSCHULE: Noten in der Grundschule schafft Rot-Grün nicht ab, allerdings sollen Viertklässler vom kommenden Schuljahr an keine Laufbahnempfehlung mehr erhalten. Damit können Gymnasien nicht mehr so leicht einen leistungsschwachen Schüler nach der sechsten Klasse zu einer anderen Schulform überweisen. Bisher ist dies möglich, wenn ein Schüler nur eine Haupt- oder Realschulempfehlung hatte und auf dem Gymnasium das Klassenziel nicht erreicht. «Wir haben das Ziel, dass Sitzenbleiben überflüssig wird», sagte Heiligenstadt.

Wenn Heiligenstadt erkläre, der Gesetzentwurf finde eine „breite Zustimmung“, müsse sie sich vorwerfen lassen, die tatsächliche Stimmung im Lande nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, meinte der Vorsitzende der niedersächsischen Philologenverbands, Horst Audritz. Darüber könnten auch die wenigen Änderungen nicht hinwegtäuschen, die Heiligenstadt am Gesetzentwurf angesichts massiver Kritik jetzt vorzunehmen gedächte: Der Kern bleibe unverändert. Das gelte auch in Sachen Inklusion. Die Rücknahme der geplanten Abschaffung der Förderschule Sprache sei  angesichts der massiven Proteste unausweichlich gewesen. „Weiterhin aber bleibt die Abschaffung der Förderschule Lernen und die Ankündigung der Abschaffung aller anderen Förderschulen bestehen.“

Die Absicht, die Gesamtschule zur ersetzenden Schulform zu machen, zeige die wirklichen Zielsetzungen. Denn damit solle ein vielfältiges und leistungsfähiges Schulwesen abgeschafft werden, das sich großer Zustimmung in der Bevölkerung erfreue. Zudem übersehe die Ministerin, dass viele Bürger noch gar nicht realisiert hätten, dass mit diesem Schulgesetz die Schließung der Haupt-/Realschulen, Oberschulen und Kooperativen Gesamtschulen vor Ort in die Wege geleitet werde. Damit werde auch das verbriefte Recht der Eltern auf freie Schulwahl für ihre Kinder de facto abgeschafft.

Ebenso versuche die Ministerin erneut, die Gefährdung des Gymnasiums herunterzuspielen. Die angebliche „Bestandsgarantie“ für Gymnasien, die eine Erreichbarkeit dieser Schulform „in zumutbarer Entfernung“ ermöglichen solle, erweise sich bei Lichte besehen als „übles Täuschungsmanöver“, betonte Audritz. „Zumutbar“ bedeute hier einschließlich Wartezeiten auf Verkehrsmittel eine tägliche Fahrzeitbelastung von etwa drei Stunden – und das für Schüler ab zehn Jahren. News4teachers / mit Material der dpa

Zum Bericht: Umfrage – Nur wenig Zustimmung für Niedersachsens Bildungspolitik

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6 Kommentare
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Werner Schneyder
9 Jahre zuvor

SprachheilpädagoInnen scheinen besonders selektionsfreundlich zu sein. Es werden Eltern instrumentalisiert, mit Ängsten gearbeitet, nur um ein Menschenrecht zu unterlaufen und sich der der neuen Herausforderung Inklusion zu entziehen. Geht es wirklich um Förderung der Sprache, oder um den Erhalt besser ausgestatteter Grundschulen?

Der Nachweis einer besseren Förderung durch Selektion ist noch nicht erbracht. In inklusiven Klassen haben die SchülerInnen zumindest viele gute Vorbilder, in der Förderschule nur die Lehrkraft.

geli
9 Jahre zuvor
Antwortet  Werner Schneyder

„In inklusiven Klassen haben die SchülerInnen zumindest viele gute Vorbilder, in der Förderschule nur die Lehrkraft.“
Wie kommen Sie denn darauf?

Meine Meinung: In inklusiven Klassen werden die behinderten Schüler durch den Vergleich mit Klassenkameraden täglich an ihre Behinderung erinnert, in der Förderschule haben sie Mitschüler, denen sie auf Augenhöhe begegnen und mit denen sie sich verbunden fühlen durch ähnliches Verstehen und Erleben.

Wie soll denn ein unbehinderter Schüler „Vorbild“ sein können für ein lernbehindertes Kind? Diese Behauptung kommt mir fast zynisch vor, auch wenn ich weiß, dass Sie es gewiss nicht so meinen.

xxx
9 Jahre zuvor

wieso soll es schwieriger sein, ein kind ohne schulformempfehlung, das mit ausnahme von sport und kunst nur vieren und schlechter bekommt, nach der 6. klasse abzuschulen ?!?

Palim
9 Jahre zuvor

Erst einmal muss dieser Entschluss schnell in der Fläche ankommen, gerade dieser Tage bekamen alle Schulen in meinem Bezirk den Hinweis, dass die FöS-Klassen Sprache aufgehoben würden, keine Beratung mehr dahingehend erfolgen solle und vor der Einschulung von einer Überprüfung von Kindern mit diesem Schwerpunkt abzusehen sei. (letzteres gilt hier nun auch zum Schwerpunkt Lernen und Emotional-Soziale Entwicklung).

Die FöS-Sprache-Klassen sind einfach anders ausgestattet, Logopädie findet in den Räumen der Schule als Unterricht statt und man ist nicht darauf angewiesen, dass Eltern nachmittags eine logopädische Therapie durchführen, wobei die erste Hürde schon das Rezept ist, das der Kinderarzt womöglich nicht ausstellt.
Das ist nicht vergleichbar mit einer Grundversorgung in der Grundschule, die in Nds. aus pauschal 2 Stunden pro Woche und Klasse besteht und bei der alles andere (für alle 3 oben genannten Schwerpunkte) der Grundschullehrerin überlassen bleibt.

Palim
9 Jahre zuvor

@xxx

Noch aus früheren Zeiten gibt es die Regel, dass ein Kind Ende 6. Klasse bei schlechten Leistungen die Schule (Gym, RS) verlassen muss, wenn es keine Empfehlung für diese Schulform hat.

Ein Kind mit schlechten Leistungen, das die Empfehlung Ende 4 erhalten hat, darf wiederholen.

Mit dem neuen Erlass dürfen nun beide wiederholen.

Sophia St.
9 Jahre zuvor

@geli
Ihrem Kommentar stimme ich hundertprozentig zu. Es lohnt sich, auch mal auf die Betroffenen zu hören anstatt ein Wohlmeinen über ihre Köpfe hinweg auszuschütten, das einfühlsam sein will, aber viel zu oft an der Realität vorbei geht.
Folgenden (gekürzten) Leserbrief eines Behinderten, der aus eigener Erfahrung spricht, habe ich vor einiger Zeit kopiert. Es kann sogar sein, dass es hier bei n4t war:

„„Durch eine Krankheit im Alter von 13 Jahren wurde ich auf dem einen Ohr taub und auf dem anderen schwerhörig. (…)
Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten und waren verheerend. (…) Ich war jetzt die taube Nuss, die zu nichts mehr zu gebrauchen war. Mein einstmals recht starkes Selbstbewusstsein verringerte sich auf einen kaum mehr messbaren Faktor.
(…) Aufgeschreckt durch die daraus resultierenden katastrophalen Schulnoten legte die Schulleitung meinen Eltern einen Schulwechsel nahe. Der Wechsel auf eine speziell für Hörgeschädigte ausgerichtete Sonderschule entpuppte sich als wahres Paradies. Ich war nun unter meinesgleichen, die ein für Außenstehende schwer nachvollziehbares Schicksal verband.
Die Schülerzahlen in den Klassenräumen wurden bewusst niedrig gehalten. Im Schnitt waren wir zu acht.
(…) Inklusion mag in dem einen oder anderen Fall machbar, vielleicht auch erfolgreich sein. Der Großteil der Betroffenen jedoch wird unter doppeltem Leistungsdruck stehen. Befürworter der Inklusion, aber auch Eltern, die ihre behinderten Kinder in Sonderschulen diskriminiert sehen, sollten sich ernsthaft fragen, was allen – Schülern wie Lehrkräften – auf Dauer angetan wird.“

Für Herrn Schneyder möchte ich noch einmal hervorheben: „Der Wechsel auf eine speziell … ausgerichtete Sonderschule entpuppte sich als wahres Paradies. Ich war nun unter meinesgleichen, die ein für Außenstehende schwer nachvollziehbares Schicksal verband.“