Kretschmann bringt die Inklusion auf den Weg – Sonderschulpflicht entfällt

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STUTTGART. Soll ein behindertes Kind auf eine Sonder- oder auf eine Regelschule gehen? In Baden-Württemberg bekommen die Eltern ein Wahlrecht. Doch alle Wünsche können absehbar nicht erfüllt werden.

Seine Regierung hat einen Gesetzentwurf für die Inklusion vorgelegt: Winfried Kretschmann (Grüne). Foto: BÜNDNIS 90/Die Grünen/Flickr CC BY 2.0
Seine Regierung hat einen Gesetzentwurf für die Inklusion vorgelegt: Winfried Kretschmann (Grüne). Foto: BÜNDNIS 90/Die Grünen/Flickr CC BY 2.0

Gemeinsamer Schulunterricht von Kindern mit und ohne Behinderung soll in Baden-Württemberg zunehmend Alltag werden. Die grün-rote Landesregierung brachte am Dienstag in Stuttgart einen Gesetzentwurf auf den Weg, mit dem zum kommenden Schuljahr die Sonderschulpflicht abgeschafft wird. Eltern sollen künftig die Wahl haben, ob sie ihr behindertes Kind auf eine Sonderschule oder eine Regelschule schicken wollen. Ein Recht auf eine Wunschschule erhalten die Eltern allerdings nicht. Die Kommunen als Schulträger heißen die Pläne grundsätzlich gut. Sie pochen aber darauf, dass das Land sich verpflichtet, sämtliche Mehrkosten dauerhaft zu übernehmen.

«Das Kabinett hat eine der wichtigsten Reformen im Schulbereich beschlossen», sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). «Unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der es selbstverständlich ist, dass Menschen mit und ohne Behinderung zusammen leben.» Mit der Schulgesetz-Änderung wird festgehalten, dass gemeinsamer Unterricht auch dann möglich ist, wenn behinderte Kinder das Bildungsziel absehbar nicht erreichen können. Sonderpädagogen sollen die Kinder und die Lehrer an den Regelschulen unterstützen. Geplant ist, dass die Kinder in Gruppen in «qualitativ hochwertigen Strukturen» unterrichtet werden, wie Kultusminister Andreas Stoch (SPD) sagte.

Die kommunalen Landesverbände hatten sich dafür ausgesprochen, dass es diese sogenannte Inklusion nur an bestimmten Schwerpunktschulen geben soll. Dies lehnte die Regierung aber ab, weil sie grundsätzlich alle Schulen in der Pflicht sieht, sich mit dem Thema Inklusion zu beschäftigen. Stoch erklärte: «Das heißt nicht wünsch‘ Dir was: Jeder kann quasi an jeder Schule mit jeder Behinderung beschult werden. Das wird so nicht möglich sein.» Es solle aber versucht werden, gemeinsam mit der Schulverwaltung, den Schulträgern und den Eltern den jeweils richtigen Bildungsort für das Kind zu finden. Manche Elternwünsche seien aber nicht umsetzbar, weil es an der gewünschten Schule nicht die nötigen Voraussetzungen gebe. Stoch räumte ein, dass es damit de facto dann doch so etwas wie Schwerpunktschulen geben werde.

Zuvor hatte der Städtetag gemahnt, eine eindeutigere Definition des Elternwahlrechts im Gesetz aufzunehmen. Nur so könnten Enttäuschungen und Missverständnisse vermieden werden, die schlimmstenfalls in den Kommunen und deren Schulen eskalieren, sagte Städtetagsdezernent Norbert Brugger der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart. Auch die FDP im Landtag forderte Nachbesserungen. «Wenn alle Beteiligten im Unklaren darüber sind, was ein gestärktes Elternwahlrecht konkret bedeutet, sind Unstimmigkeiten und Konflikte vor Ort vorprogrammiert – zu Lasten der Betroffenen und ihrer Eltern», teilten Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke und Bildungspolitiker Timm Kern mit.

Vor einem Jahr hatte der Fall des geistig behinderten Jungen Henri aus Walldorf (Rhein-Neckar-Kreis) für Wirbel gesorgt. Stoch entschied damals nach monatelanger, kontroverser Diskussion, dass Henri nicht auf sein Wunsch-Gymnasium wechseln dar. Ein Gymnasium und auch eine Realschule hatten Henri abgelehnt, weil sie sich mit dieser Aufgabe überfordert sahen. Deutschland hat sich aber verpflichtet, die 2006 von den Vereinten Nationen verabschiedete Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Daraus leitet sich ab, dass behinderte Menschen nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen sein dürfen. Im Land besuchen mehr als 50 000 Schüler mit Behinderung Sonderschulen.

Das Kultusministerium geht davon aus, das für die Umsetzung der Inklusion bis zum Schuljahr 2022/23 insgesamt 1350 neue Lehrerstellen nötig sind, die jährlich rund 97 Millionen Euro kosten. Finanziert werden diese Stellen aus dem Landeshaushalt. Zudem übernimmt das Land im Endausbau bis zu 30 Millionen Euro im Schuljahr für Schulassistenten, Schülerbeförderung und mögliche Umbauten an den Schulen. Darauf hatten sich das Land und die Kommunen als Schulträger nach schwierigen und langen Verhandlungen erst kürzlich geeinigt.

Ein Knackpunkt bleiben jedoch die Kosten für die Schulassistenten. Die will das Land bislang nur freiwillig erstatten. Die Kommunen sehen hier aber eine Pflicht des Landes, sie dauerhaft zu übernehmen. Bettina Grachtrup, dpa

Zum Bericht: 30 Millionen im Jahr: Land und Kommunen einigen sich über Finanzierung der Inklusion

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3 Kommentare
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xxx
9 Jahre zuvor

so lange es keine regelschulpflicht wird und die eltern zum wohle des kindes entscheiden (sprich nach seinen kognitiven und sozialen Möglichkeiten), ist noch nicht alles verloren.

Reinhard
9 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

… außer für die Schule, die eine Blinde, einen Hörgeschädigten, mehrere Zappler, eine Autistin, eine Epileptikerin, ein ADS-, ein ADHS-Kind und Kinder mit besonderem emotionalem Förderbedarf zugleich erhält und nach dem jeweiligen Bedarf fördern möchte, wozu zwei KollegInnen eine dreitägige Fortbildung erhalten (Berichte aus Nordländern). Aber wie ist das in BW geregelt?

xxx
9 Jahre zuvor
Antwortet  Reinhard

wenn ich den artikel richtig verstanden habe, werden solche gemischtwarenläden nach Möglichkeit vermieden. allerdings können schon diverse ad(h)s-zappler an einer dafür nicht ausgelegten schule den kompletten betrieb lahmlegrn …