Kolumne: Frau Weh versucht, den Förderschüler einzubinden

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Ich würde gerne schreiben, dass alles klappt.

Schreiben, dass alles kein Problem ist und Ramon in mir die verständnisvolle Lehrerpersönlichkeit gefunden hat, die er offensichtlich all die Zeit gesucht hat. Dass wir uns in die Augen geblickt haben voller gegenseitiger Wertschätzung und Wärme und wie durch Zauberhand ein ganz neues Kind unsrer Mitte entschlüpfte wie der bunte Schmetterling dem hässlichen Kokon. Aber der Schulalltag ist kein pädagogisches Wunschkonzert und grundlegende Metamorphosen daher eher selten. Tatsache ist: Ramon stört. Den Unterricht. Die Mitschüler. Mich.

Ich schrieb beim letzten Mal, dass ich mich nicht teilen kann. Jetzt weiß ich, dass ich das gar nicht muss, Ramon bündelt nämlich meine Aufmerksamkeit. Es ist ein wenig so, wie diese Szene im ersten Harry Potter Film: Hagrid ist mit dem kleinen Windelpuper Harry unterwegs durch die Lüfte und Professor Dumbledore trifft Vorbereitungen im Ligusterweg. Dazu zieht er so ein kleines Dings aus der Tasche, eine Art umgekehrtes Feuerzeug. Mit diesem Entleuchter zieht der Zaubermeister flupp flupp flupp das Licht aus den Straßenlaternen und hinterlässt nichts als nächtliches Dunkel. So geht es mir mit meinem schülerzentrierten Weitblick. Ramon schmeißt seine Sachen vom Tisch flupp! Ramon nennt Ole einen alten Wichserarschficker flupp! Ramon friemelt alle Tagestransparenzschilder von der Tafel uuuund … flupp!

Bei jüngeren Schülern dürfte die Angst vor dem Erwischtwerden noch überwiegen. Foto: Foto: Hcky So / flickr (CC BY-NC 2.0)
Verhaltensauffällige Schüler in eine Gruppe von Kindern einzubinden ist eine Mammutaufgabe. Foto: Foto: Hcky So / flickr (CC BY-NC 2.0)

Die anderen Erstklässler nutzen das so entstandene schwarze Loch und treiben allerlei Schabernack. Was Erstklässler eben so tun, wenn sie sich herrlich unbeobachtet fühlen. Sie krakeln auf den Tischen herum, halten ein Schwätzchen mit dem besten Freund (auch wenn er auf der anderen Seite des Klassenraumes sitzt) oder beschäftigen sich mit dem wahrhaft wichtigen Dingen des Lebens. Frühstück, Klogang, ein Nickerchen. Einige wenige machen mit bei diesen so herrlich aufregenden Störmöglichkeiten, die ihnen der neue Schüler präsentiert. Obwohl nein … eigentlich haben sie es nur einmal gemacht. Dann habe ich Ramon mit einem dringenden Auftrag zum Chef geschickt und ein ernstes Gespräch mit den Erstklässlern geführt. So eines von Kuchen zu Krümeln. Danach war Ruhe.

Es ist nicht so, dass Ramon und wir nur schlechte Momente hätten. Nein, es gibt auch die guten. Wenn er während der Freiarbeit ehrfürchtig über das Star Wars Lexikon streicht und fragt, ob er das jetzt wirklich lesen dürfe. Wenn er fragt, ob er am nächsten Tag eine Stunde länger bei uns bleiben könne. Wenn er auf seiner Verhaltensliste den vierten lachenden Smiley eingetragen bekommt und staunend erzählt, dass er so viele noch nie hintereinander hatte. Dann denke ich, dass wir vielleicht doch eine winzigkleine Chance haben, wenigstens den Hauch einer winzigkleinen Chance, das Atom eines Hauchs einer winzigkleinen Chance. Und dann tritt er in der Pause einem Zweitklässler mit voller Wucht gegen die Brust. Weil der ihn so angeguckt hat.

Und wir sitzen zusammen auf der Büßerbank und reflektieren. Und schweigen. Und wissen eigentlich doch beide nicht weiter. Nicht Ramon, weil er eben ein Kind ist mit einem gnadenlos vollgepackten Rucksack voller größerer und kleinerer Probleme. Und nicht ich, weil ich eben nur Frau Weh mit einem gnadenlos vollgepackten ersten Schuljahr bin und keine Sonderschullehrerin. Und wir schweigen und schweigen und schweigen. Bis Ramon leise fragt, ob er trotzdem bei uns bleiben dürfe. Aber er guckt mich nicht an dabei, denn Blickkontakt halten, das kann er nicht. Und ich schiebe ihm meine Hand hin und er greift sie. Denn irgendwas zum Festhalten braucht man eben manchmal.

Aber die wahrhaft Großen im Moment, die, die verzeihen und verstehen können, das sind die Erstklässler. Das ist Lilly, die dem verweigernden Ramon im Matheunterricht mit Engelsgeduld erklärt, dass auch er nun arbeiten müsse, denn schließlich machen das alle. Das ist Marc, der im Kreis sitzt und erklärt, dass es für Ramon ja auch viel schwerer wäre als für alle anderen. Schließlich müsse er jetzt auf einmal alle Regeln behalten, für die die Erstklässler immerhin fast ein ganzes Jahr Zeit hatten. Das ist die ganze Klasse, die Ramon nach der ersten gemeinsamen Woche die gereckten Daumen als Zeichen der Rückmeldung entgegenhält, woraufhin dieser rot anlaufend unter der Bank verschwindet. Es sind diese kleinen Momente, die hoffen lassen.

Und dennoch …

Witz, Charme und einen tiefen Blick in die Seele einer Grundschullehrerin erlaubt Frau Weh auf ihrem Blog “Kuschelpädagogik” und auf www.news4teachers.de. Frau Weh heißt im wahren Leben nicht Frau Weh, aber ihre Texte sind häufig so realitätsnah, dass sie lieber unter Pseudonym schreibt.

Zum vorangegangen Beitrag zum Thema geht es hier:

Inklusion – Welche Chance hat Frau Wehs verhaltensauffälliger Schüler? Eine Kolumne

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