Studie: Der Trend zur Akademisierung ist nicht zu stoppen

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BERLIN/GÜTERSLOH. Die Bertelsmann-Stiftung sorgt sich um den Azubi-Nachwuchs in Deutschland. Wenn sich der Trend zum Studium fortsetze, werde die Zahl der Schulabgänger, die eine Lehre beginnen bis 2030 um 80.000 auf rund 400.000 zurückgehen: Nicht genug, um die aus dem Beruf ausscheidenden geburtenstarken Jahrgänge zu ersetzen. Vielen Branchen drohe schon in Kürze ein Fachkräftemangel. Wie Akademisierungswahn-Kritiker Julian Nidda-Rümelin plädiert doie Stiftung für eine stärkere Durchlässigkeit zwischen akademischer und betrieblicher Ausbildung.

Der Vizekanzler sah sich zu warnenden Worten genötigt. «Es gibt eine Fehlwahrnehmung, dass man nur mit Abitur und Studium ein anständiger Mensch in Deutschland ist. Das müssen wir ändern», sagte Bundeswirtschaftsminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel Anfang September in Düsseldorf. Aktuelle Daten zu Studierenden und Lehrlingen zeigen indes, dass der Trend schwer zu brechen sein wird: Demnach geht die Entwicklung zunehmend weg von der betrieblichen Ausbildung und hin zum Hochschulstudium. Eine neue Studie malt nun aus, wohin das in den nächsten Jahren führen kann.

„Volle Hörsäle – leere Werkbänke“, titelt die Bertelsmann-Stiftung. Auch Zuwanderern, Flüchtlingen und Studienabbrechern solle der Zugang zur betrieblichen Ausbildung erleichtert werden. Foto: azboomer / pixabay (CC0 Public Domain)
„Volle Hörsäle – leere Werkbänke“, titelt die Bertelsmann-Stiftung. Auch Zuwanderern, Flüchtlingen und Studienabbrechern solle der Zugang zur betrieblichen Ausbildung erleichtert werden. Foto: azboomer/pixabay (CC0 Public Domain)

Fast 2,7 Millionen Studenten an deutschen Hochschulen, davon 500 000 Erstsemester – die Beliebtheit der akademischen Bildung lag im Wintersemester 2014/15 auf Rekordniveau. Die in Kürze erwarteten offiziellen Studierenden-Zahlen zum gerade beginnenden Semester 2015/16 dürften erneut sehr hoch sein. Dagegen sinkt die Zahl neuer Ausbildungsverträge stetig – 2014 laut Berufsbildungsbericht der Regierung um 1,4 Prozent auf 522 000.

Der Trend «Volle Hörsäle – leere Werkbänke» wird anhalten, ergibt sich aus dem Szenario der Bertelsmann-Stiftung zur nachschulischen Bildung. Falls sich der Run auf die Hochschulen fortsetzt, müssen die Unternehmen in Deutschland in 15 Jahren mit rund 80 000 Lehrlingen weniger auskommen. Noch größer würde die Lücke durch demografischen Wandel – der lässt die Zahlen in allen Bereichen der nachschulischen Bildung sinken. So sei 2030 nur noch mit rund 700 000 Schulabgängern zu rechnen – 2011 waren es noch 880 000. Weil darunter immer mehr Abiturienten sind, die an die Unis drängen, werde der Rückgang dort weniger spürbar sein: Die Studie geht davon aus, dass die Erstsemesterzahlen nur gering absinken, auf dann rund 485 000.

Der Trend zum Studium statt zur klassischen Lehre verschärfe den Fachkräftemangel in Industrie und Handwerk, sagt seit längerem der frühere SPD-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin. Der Münchner Philosophieprofessor und Sachbuchautor spricht von einem «Akademisierungswahn» und attackiert die deutsche Bildungspolitik.

Den Düsseldorfer Mahnungen seines Parteifreundes Gabriel dürfte Nida-Rümelin freudig zugestimmt haben. «Man darf den Leuten nicht den Kopf verdrehen mit völlig absurden Botschaften wie „Wer studiert, verdient im Lauf seines Lebens eine Million Euro mehr“», sagte er. «Weil dann junge Menschen meinen, sie bräuchten nur ein Studium aufzunehmen und hätten schon eine Art Lottogewinn.»

Der streitbare Sozialdemokrat verweist auf Studien, wonach bis 2030 mit einer Lücke von über vier Millionen nichtakademischen Fachkräften zu rechnen sei. «Es ist einfach ein Irrtum zu meinen, dass der Hauptbedarf auf dem Arbeitsmarkt im Bereich der akademisch Gebildeten liegt», sagte Nida-Rümelin. In Fächern wie Jura etwa finde «ein Drittel der Absolventen keine adäquate Beschäftigung», auch Biologen oder Geografen hätten große Probleme bei der Jobsuche. Auf der anderen Seite hätten «Meister und Techniker das niedrigste Risiko überhaupt, arbeitslos zu werden».

Nida-Rümelin plädiert für mehr Durchlässigkeit zwischen Hochschul- und Berufsbildung – allerdings «in beide Richtungen», wie er betont. «Durchlässigkeit stellt man nicht dadurch her, dass alle studieren.» Die Bertelsmann-Stiftung empfiehlt, beide Systeme sollten besser verzahnt statt gegeneinander ausgespielt werden. «Wir müssen weg vom „Entweder oder“ zum „Sowohl als auch“ und zwischen beruflicher und akademischer Ausbildung für eine bessere Durchlässigkeit sorgen.»

So gelte es praxisorientierte Studiengänge zu stärken. Zugleich sollten Übergänge von Studienabbrechern in eine Ausbildung durch die Anerkennung bisheriger Leistungen erleichtert werden. Umgekehrt solle es mehr Hochschulangebote für beruflich Qualifizierte geben, meint die Bertelsmann-Stiftung. «Die betriebliche Ausbildung muss für neue Zielgruppen möglich und attraktiv werden», sagt Stiftungsvorstand Jörg Dräger. Laut Studie sollte Zuwanderern, Flüchtlingen und bislang als nicht ausbildungsreif geltenden Schulabgängern der Zugang zu einer betrieblichen Lehre erleichtert werden.

Völlig unklar ist derzeit noch, wie viele Flüchtlinge in Deutschland ein Studium aufnehmen – und wie viele in eine Lehre vermittelt werden können. Laut Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) sind 10 bis 15 Prozent der Migranten studienberechtigt. Die Friedrich-Ebert-Stiftung geht von bis zu 50 000 potenziellen Studenten unter den 2015 neu ins Land kommenden Asylsuchenden aus.

Die drastischen Argumente des Geisteswissenschaftlers Nida-Rümelin halten etliche Experten für falsch, aber es gibt auch Signale der Zustimmung, etwa aus der Wirtschaft. So sagte der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Achim Dercks: «Herr Nida-Rümelin hat das Verdienst, eine Debatte mit angestoßen zu haben. Wir haben (…) ein Klima geschaffen, dass Eltern fast durchweg ihren Kindern ein Studium empfehlen.» (Werner Herpell, dpa)
• Szenarienstudie nachschulische Bildung (Bertelsmann-Stiftung)

• zum Bericht: Azubi-Mangel: Unternehmen locken Nachwuchs mit Geschenken – bis hin zu Rennfahrten mit dem Chef
• zum Bericht: So viele Studenten wie noch nie: Deutschland im „Akademisierungswahn“?

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4 Kommentare
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xxx
8 Jahre zuvor

die Politik hat sich aber auch den Wünschen der Wirtschaft nach mehr Akademikern gebeugt (Bologna) und den Zugang zum Studium sehr einfach gemacht (Niveauverflachung seit dem Zentralabitur).

dickebank
8 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Warum werden überall Duale Studiengänge angeboten?
Die Wirtschaft heult doch schon lange, dass die Hochschulabsolventen zu akademisch/wissenschaftlich gebildet sind. Die Hochschulen für angewandte Wissenschaftensind zu weit weg von einer berufsqualifizierenden Ausbildung und vor allem außerhalb des direkten Einflusses von Handwerks- und Industrie und Handelskammern. Die Berufsschulen sind hingegen dem Einfluss der Wissenschaftsministerien entzogen und können keine akademischen Gerade vergeben.

Der Blödsinn deutscher Bildungspolitik besteht doch darin, dass ein beruflich qualifizierter Meister oder Techniker/Fachwirt zwar studieren darf, aber zunächst den Bachelor-Abschluss erreichen muss, bevor er zum Masterstudiengang zugelassen wird. nur was soll der im Bachelor- Studium an neuen Erkenntnissen Gewinnen?

Der Masterabsolvent hingegen soll die praktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Meisters mitbringen. Die Trennung zwischen beruflicher Ausbildung und hochschulischer Bildung ist ein schlechter deutscher Witz. Es wird Zeit, dass die HKs und IHKs ihre Zuständigkeiten in der beruflichen Ausbildung verlieren. 12 Schuljahrefür alle, nach der 10 gibt es einen Berufs- und einen studienqualifizierenden Schulzweig.

Biene
8 Jahre zuvor

Sie haben da recht XXX. Die andere Seite besteht aus geringer Bezahlung während der Lehre, die in einigen Berufen nicht mal reicht um zu Leben. Hinzu kommt dann noch die geringe Anerkennung von Seiten der Gesellschaft.

xxx
8 Jahre zuvor
Antwortet  Biene

die geringe bezahlung der bwl-praktikanten bzw. journalisten nach dem hochschulabschluss kommt auch noch dazu.