Buch über Kindesmisshandlungen: Autor klagt an – Pädagogen, Ärzte und Nachbarn sehen zu viel weg

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DÜSSELDORF. 2,5 Millionen Kinder werden in Deutschland regelmäßig Opfer physischer oder psychischer Gewalt. Die Jugendämter nehmen jährlich 45.000 Kinder aufgrund von Misshandlungen in der Familie in Obhut – Tendenz steigend. Der Autor Markus Breitscheidel war als Kind auch betroffen. Warum er sich entschlossen hat, seine Geschichte zu erzählen, beschreibt er hier.

Beinahe hätte ich die Schreie des Kindes überhört. Ich kam gerade aus dem Rathaus der chinesischen Stadt Nanning. Dort hatte ich mit diversen Kommunalpolitikern Gespräche zum Thema Altenpflege geführt. China schaut in diesem Themenfeld wissbegierig auf das deutsche Gesundheitswesen. Als Experte werde ich deswegen oft um Rat gefragt. Auf dem Weg zum Mittagessen gingen wir durch einen kleinen Park. Vertieft in eine ernste Diskussion mit dem stellvertretenden Bürgermeister nahm ich meine Umgebung nur eingeschränkt wahr.

Doch etwas riss mich aus der Konzentration, dann hörte ich auch die äußere Stimme. Sie war eigentlich nicht zu überhören. Obgleich niemand außer mir sie wahrzunehmen schien. Es war die Stimme eines kleinen Jungen, keine fünfzig Meter entfernt. Jammernd und heulend versuchte er sich vor einem volltrunkenen Mann zu schützen, der zornig auf ihn einprügelte.

Gewalt gehört an einigen Schulen Berlins offenbar zum Alltag.(Symbolfoto) Foto: Hibr / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)
Gewalt gehört für viele Kinder zum Alltag.(Symbolfoto) Foto: Hibr / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Ohne nachzudenken, rannte ich los und stürzte mich auf den Mann und entriss den Knaben seiner Gewalt. Er brüllte mich betrunken und auf Chinesisch an. Ich verstand kein Wort, aber es war klar, dass ihn nur meine offensichtliche körperliche Überlegenheit davon abhielt, auf mich loszugehen. Schnell waren auch meine chinesischen Begleiter aus dem Rathaus zur Stelle. Sie konnten ihn beruhigen. Der kleine Junge klammerte sich aber immer noch schutzsuchend an meinen Beinen fest.

Eigentlich war ich in dieser Situation der Held. Doch statt mit stolz geschwellter Brust stand ich zitternd zwischen all den Menschen. Tränen liefen meine Wangen herab. Und an die Dimensionen professioneller Altenpflege war nicht mehr zu denken. Stattdessen beherrschte das Thema „Gewalt in Familien“ die Gespräche des restlichen Tages – auch in China ein weit verbreitetes Problem.

Es war dieser Moment, als mir bewusst wurde, wie sehr ich die traumatischen Erlebnisse meiner eigenen Kindheit verdrängt hatte.

Gewalt in Familien war für mich kein theoretisches Problem. Es ging nicht darum, Erkenntnisse über die Problematik in Deutschland mit der in China abzugleichen. Es ging um meine ganz persönliche Erfahrung, mein Leben, meine Familie, meine Kindheit. Es ging um meine Geschichte, aber auch um eine Gegenwart, die ich bislang ausgeblendet hatte: Viel zu viele Kinder müssen in unserem Land Gewalt erleben. Auch heute noch.

Zurück in Deutschland begann ich sofort zu recherchieren. In Gesprächen mit Jugendämtern, dem Kinderschutzbund und der Polizei erfuhr ich, dass es wissenschaftlich belegt etwa 2,5 Millionen Kinder in Deutschland gibt, die Gewalt erlebt haben. Ich war geschockt. Solch eine Zahl lässt sich nicht in Fußballmannschaften ausdrücken, nicht in Schulklassen, nicht mal in Kleinstädten. Es leben insgesamt etwa 15 Millionen Minderjährige in Deutschland. Jedes fünfte Kind hat schon Gewalt erlebt.

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Diese Zahl ließ mich nicht mehr los. Ich kämpfte mit mir selbst. In mir stieg die Angst hoch, mich mit den eigenen Erfahrungen näher auseinandersetzen zu müssen. Aber es gab kein Zurück mehr. Nach langen Gesprächen mit meiner Mutter und meinem ältesten Bruder beschloss ich, mich diesen Ängsten zu stellen und meine Geschichte aufzuschreiben.

Zuerst fiel es mir schwer, die über Jahre errichte Mauer in mir zu durchbrechen und überhaupt zu fühlen, was ich da aufschreiben wollte.

Doch bald spürte ich, dass mir das Schreiben, Denken und Fühlen gut tat. So entstand allmählich das Konzept für ein Buch. Drei Monate lang arbeitete ich täglich an dem Manuskript. Doch je näher ich dem Ende kam, desto mehr wuchs die Unsicherheit, ob ich meine Geschichte tatsächlich veröffentlichen sollte. Schließlich hatte ich bis dahin mit sehr viel Energie einen Schutzmantel rund um meine Verletzlichkeit aufgebaut. Niemand hatte bislang derart tief in Innerstes blicken können. Und jetzt sollte ich mich quasi „nackt“ wildfremden Lesern präsentieren? Vertrauensvolle Gespräche mit dem Verlag und dem Kinderschutzbund gaben mir den Mut, das Buch zu veröffentlichen. Ich hoffe, dass es anderen Betroffenen den Mut gibt, ihren Schutzwall zu durchbrechen und darüber zu reden, worüber sie noch nie geredet haben. Es gibt Menschen, die ebenfalls beim Spaziergang im Park die Klagen eines Kindes hören. Die Klagen von 2,5 Millionen Kindern können und dürfen nicht überhört werden. Es ist Zeit hinzuhören!

Der Autor und das Buch

Markus Breitscheidel, Jahrgang 1968, ist investigativer Journalist und Autor. Sein Buch Abgezockt und totgepflegt, ein Undercover-Bericht über die Zustände in deutschen Pflegeheimen, wurde zum Bestseller und löste eine breite gesellschaftliche Diskussion aus. Am 26. Februar 2016 hat er „Nicht auf den Kopf! – Meine persönlichen Erfahrungen  mit Gewalt in der Familie“ bei Ullstein-Buchverlage veröffentlicht.

Gewalt in der Familie ist ein Tabuthema – obwohl Jugendämter jährlich 45.000 Kinder deshalb in Obhut nehmen. Die Dunkelziffer liegt noch deutlich höher. Markus Breitscheidel wurde in seiner Kindheit und Jugend selbst Opfer von massiver Gewalt in der Familie. Mit diesem Buch liefert er einen emotionalen Blick in den Alltag eines Kindes, das mit der allgegenwärtigen Angst aufwächst, geschlagen und gedemütigt zu werden. Und er beschreibt, wie Nachbarn, Lehrer, Ärzte, aber auch seine Großeltern jahrelang über die Gewaltexzesse seines Vaters hinwegsahen.

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