Finger im Matheunterricht: Benutzen oder nicht benutzen?

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Rechnen mit den Fingern ist kein Zeichen für fehlende mathematische Begabung – im Gegenteil. Finger haben eine Schlüsselfunktion wenn es darum geht, Mathematik zu verstehen. Das haben Forscher der Universität Stanford herausgefunden.

STANFORD. Mit den Fingern rechnen ist in der Schule oft verpönt. Das wissen die Kinder und verstecken ihre Finger deshalb lieber unter der Schulbank, wenn sie im Matheunterricht dann doch mal zu diesem Hilfsmittel greifen. Damit könnte bald Schluss sein. „Unsere Finger sind wahrscheinlich unsere beste visuelle Hilfe und entscheidend, um Mathematik zu verstehen und unser Gehirn weiter zu entwickeln, und zwar bis ins Erwachsenenalter“, zitiert Spiegel Online Jo Boaler, Professorin für Mathedidaktik an der amerikanischen Stanford University. Zusammen mit dem Neurowissenschaftler Lang Chen hat sie eine Studie zum Thema Visualisierungen im Mathematikunterricht veröffentlicht („Seeing as understanding: The Importance of Visual Mathematics for our Brain and Learning“).

Kinder haben häufig Angst, im Unterricht ihre Finger zum Rechnen zu benutzen. Dabei wäre das gerade zu Beginn sehr förderlich. Foto: Lotus Carrel / flickr (CC BY-NC 2.0)
Kinder haben häufig Angst, im Unterricht ihre Finger zum Rechnen zu benutzen. Dabei wäre das gerade zu Beginn sehr förderlich. Foto: Lotus Carrel / flickr (CC BY-NC 2.0)

Zu Beginn der Studie beschreibt Boaler eine Situation, die sie selbst erlebt hat: Eine Mutter hat sie angerufen und erzählt, wie ihre fünfjährige Tochter weinend nach Hause kam, weil ein Lehrer ihr nicht erlaubt hatte, mit ihren Fingern zu zählen. Ein paar Wochen später, als sie ihren Studenten erzählte, wie wichtig visuelle Mathematik sei, fragte einer von ihnen, ob das nicht nur für ganz einfache Mathematik gelte. Darauf antwortet die Studie mit einem lauten „Nein!“. „Neurowissenschaftler wissen, dass wir in unserem Gehirn ein Abbild der Finger ‚sehen‘, selbst wenn wir die Finger nicht für die Rechnung benutzen.“ Das gilt auch für Erwachsene.

Der Bericht verweist unter anderem auf eine Studie mit Schülern im Alter von 8 bis 13 Jahren, die komplexe Minusaufgaben lösen sollten. Dabei zeigte sich, dass der Bereich des Gehirns zur Wahrnehmung der Finger aktiviert wurde – obwohl die Schüler ihre Hände gar nicht einsetzten. „Boaler gibt zwar zu, dass die Zahl ihrer Testpersonen in den Studien recht klein war“, schreibt Spiegel Online. „Trotzdem liefern die Ergebnisse für sie eine eindeutige Botschaft an die Lehrer: Wenn sie ihre Schüler davon abhalten, mit den Fingern zu rechnen, behindern sie ihre mathematische Entwicklung.“

In Deutschland ist die Debatte um das Fingerrechnen noch nicht abschließend geklärt – wann müssen Schüler den Sprung vom Konkreten zum Abstrakten schaffen? Die Forschungen von Boaler sind ebenfalls nicht unumstritten. So beschreibt Jens Holger Lorenz, Professor für Didaktik der Mathematik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg in einem Artikel mit dem Titel „Fingerrechnen aus didaktischer Sicht“, warum gerade zählendes Rechnen mit den Fingern ein Irrweg sei. Obwohl die Finger durchaus ein wichtiges Hilfsmittel im Umgang mit Zahlen in einer bestimmten Entwicklungsphase der arithmetischen Tätigkeit darstellten, so stellten sie eben auch ein Hindernis für die Weiterentwicklung und für die Ausbildung starker Rechenstrategien dar, wird Lorenz von „Praxis Förderdiagnostik“ zitiert. Das zählende Rechnen mit Fingern sollte nur eine Übergangsphase sein. Unter zählendem Rechnen versteht Lorenz, dass Kinder die Zahlen als zusammengesetzt aus lauter Einsen betrachten und keine Teil-Ganzes-Beziehung herstellen können.

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Einigkeit herrscht inzwischen darüber, dass ein generelles Finger-Verbot von Beginn der Schulzeit an, eher schädlich ist. Friedhelm Käpnick schreibt zum Beispiel in seinem Buch „Mathematik lernen in der Grundschule“: „Fingerrechnen sollte nicht verboten oder ignoriert, sondern genau beobachtet und analysiert werden.“ Erst wenn deutlich wird, dass das zählende Rechnen nicht überwunden wird, könnte es auf einen Förderbedarf hinweisen. „Es ist wichtig, die Kinder systematisch anzuleiten (z.B. das bestimmte Fingerbilder immer mit einer bestimmten Zahl verknüpft werden) und zum anderen, dass nicht primär zählende Strategien, sondern mengenerfassendes Rechnen mit den Fingern geübt wird“, schreiben drei Wissenschaftler des Arbeitsbereichs Diagnostik und kognitive Neuropsychologie der Universität Tübingen in Zusammenhang mit ihrem Forschungsprojekt „Der Einfluss von Fingerrechnen auf die numerischen Leistungen“.

In der Neuropsychologie haben bereits mehrere Studien herausgefunden, dass bis ins Erwachsenenalter scheinbar abstrakte Repräsentationen auf sensorisch-körperlichen Erfahrungen basieren (Embodiment). „Auf Finger angewandt bedeutete dies, dass eine gute Fingerrepräsentation und eine gute Zuordnung von Fingern zu Zahlen und arithmetischen Prinzipien eine gute Basis für späteres Rechnen darstellt. In der Tat zeigen jüngere Studien, dass Kinder mit guter früher Zuordnung von Fingern zu Zahlen tendenziell die besseren Rechner sind“, so die Tübinger Forschungsgruppe. Die Forderungen Boalers, im Matheunterricht verstärkt mit Visualisierungen zu arbeiten, werden von Mathedidaktikern in Deutschland also durchaus berücksichtigt. N4t

 

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6 Kommentare
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Berthold Eckstein
7 Jahre zuvor

In aller Bescheidenheit möchte ich auf mein Buch zum Thema hinweisen:
Berthold Eckstein
Mit 10 Fingern zum Zahlverständnis.
Optimale Förderung für 4- bis 8-Jährige.
Verlag Vandenhoeck & Ruprecht 2011

ysnp
7 Jahre zuvor

Vielen Dank für den Hinweis. Man kann ja einen Blick ins Buch werfen. Dem Inhaltsverzeichnis nach scheint dieses Buch äußerst informativ zu diesem Thema zu sein.

xxx
7 Jahre zuvor

Wenn Kinder noch in Klasse 5 einfache Kopfrechenaufgaben anstelle zu rechnen bzw. automatisiert aufzusagen eher mit den Fingern zählen und darüber hinaus generell schwache Leistungen in Mathematik aufweisen, sollte man aus meiner Sicht die Benutzung der Finger nicht verbieten, aber mal auf mögliche Dyskalkulie untersuchen.

Wohlgemerkt: Ich bin kein Fan von einem ausufernden Dyskalkulismus wie er bei LRS stattfindet. Ich trenne nach wie vor zwischen nicht gekonnt und nicht gelernt. Es dauert außerdem sehr lange, bis ich ein nicht gekonnt tatsächlich glaube und noch länger bis aus einem nicht gekonnt ein wegen Dyskalkulie nicht gekonnt wird.

Ich habe erst letzte Woche erfahren, dass einer meiner Schule eine mittlerweile abgeschlossene Dyskalkulie-Therapie hinter sich hat, bei einer anderen Schülerin, die ich 2009 unterrichtete wurde trotz eklatant schlechter Leistungen Dyskalkulie ausgeschlossen. Mit mehr Dyskalkulie hatte ich keinen unmittelbaren Kontakt, hingegen gibt es oft genug 2-3 LRS-Fälle pro Klasse. Diese Verhältnismäßígkeit stimmt nicht, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass es so viele Größenordnungen mehr LRS als Dyskalkulie in Deutschland gibt (zwei Schüler in 10 Jahren im Vergleich zu 20 Schüler pro Jahr). Sehr böse und überspitzt formuliert behaupte ich, dass Mathematiker Ahnung von Testerstellung und Statistik haben.

Barbara
7 Jahre zuvor

Mehr Informationen über die Kybernetik wären in diesem Artikel angebracht!

GriasDi
7 Jahre zuvor

Wo ist das Problem, wenn Kinder die Finger zum Rechnen benutzen???

xxx
7 Jahre zuvor
Antwortet  GriasDi

siehe mein kommentar vom 4. mai