Kinder stark machen! Wie das Bildungssystem endlich gerechter werden kann – ein Plädoyer

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BERLIN. Der eigentliche Schock von PISA war nicht das nur unterdurchschnittliche Abschneiden der deutschen Schüler im internationalen Vergleich, sondern das hohe Maß an sozialer Ungleichheit, das die Studie zutage gefördert hat. In keinem anderen Land war der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg enger. Seitdem hat die Schulpolitik gehandelt – allerdings: Hat sie die richtigen Schwerpunkte gesetzt? Unser Gastautor, der renommierte Soziologe und Bildungsforscher Prof. Lothar Krappmann, meint, das die Akzente verschoben werden müssten: weg von messbaren Leistungszuwächsen, hin zur Stärkung von Resilienz, also Widerstandsfähigkeit. Der Beitrag ist dem neuen, lebhaft diskutierten Buch „Worauf Kinder und Jugendliche ein Recht haben“ entnommen.

Resilienz, also Widerstandsfähigkeit, brauchen Kinder, um in der Schule und im späteren Leben erfolgreich sein zu können. Foto: Marnie Joyce / flickr (CC BY 2.0)
Resilienz, also Widerstandsfähigkeit, brauchen Kinder, um in der Schule und im späteren Leben erfolgreich sein zu können. Foto: Marnie Joyce / flickr (CC BY 2.0)

Soziale Ungleichheit, Kinderrechte und Schule

Das massivste Problem, das auf dem deutschen Bildungswesen lastet, ist der bislang kaum verminderte mächtige Einfluss der sozialen Herkunft eines Kindes auf seinen Schulerfolg. Ein Bildungswesen, in dem die Qualität der Abschlüsse in weitem Ausmaß durch die sozialen Verhältnisse bestimmt wird, in denen die Kinder aufwachsen, schmälert nicht nur die Lebensaussichten der Kinder aus bildungswidrigen Lebenslagen, sondern gefährdet auch demokratische Mitwirkungsprozesse im Gemeinwesen. Denn fehlende Bildung ist ein Nährboden für Vorurteile, Simplifizierungen, Verschwörungstheorien, ewige Wahrheiten und radikale Lösungen. (…)

Die Ohnmacht des Bildungswesens

Seit durch die PISA-Studien deutlich wurde, dass dieser Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildung in Deutschland stärker das Schulschicksal der Kinder bestimmt als in Nachbarländern, konzentrieren sich Pädagogen, Lernpsychologen und Bildungswissenschaftler darauf, Kindern aus Lebensverhältnissen, die den Lernerfolg behindern, den Weg zu einem guten Schulabschluss zu erschließen. Die Beurteilung des Erfolgs dieser Bemühungen stützt sich weitgehend auf quantitative Leistungsbeurteilungen. Gerade in Deutschland werden Punktwerte und Rangpositionen, die Kinder in nationalen und internationalen Vergleichstests erringen, besonders ernst genommen. Folglich dominiert in den Debatten um die Qualität des Bildungswesens eine Vorstellung, die den messbaren Lernerfolg in Fächern, insbesondere in Mathematik und Naturwissenschaft sowie im Lesen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.

Gewiss sind die Beteiligten an Lernforschung und Unterrichtsreform auch darauf bedacht, die heranwachsenden jungen Menschen durch gute Schulabschlüsse vor einer unsteten Berufskarriere zu bewahren und ihnen ein zufriedenstellendes Einkommen zu sichern. Ebenso werden diese Bemühungen jedoch von der Überzeugung angetrieben, dass sich Deutschland in einem permanenten weltweiten Existenzkampf behaupten muss, in dem man mit Wachstum und Handelsbilanzen seine Stellung festigt und ausbaut. Denjenigen, von denen erwartet wird, dass sie nach erfolgreicher Schulkarriere zum wirtschaftlichen und technologischen Erfolg beitragen, werden Positionen zugänglich, die nicht nur anspruchsvoller sind, sondern auch mehr Anteil an den erwirtschafteten Erträgen bieten. Das scheint soziale und ökonomische Ungleichheit zu rechtfertigen, denn man unterstellt, dass der unterschiedliche Zugang an den Gütern durch Schulleistung erarbeitet wurde. Allerdings müsste dann auch jedes Kind eine faire Chance haben, erfolgreich zu lernen und durch gute Schulabschlüsse eine der erwünschten sozialen Positionen zu erreichen.

Das ist nach den Daten zahlreicher Studien jedoch nicht der Fall. Sie belegen, dass dieses Qualifizierungs- und Selektionssystem nicht offen ist, sondern der Bildungsstatus sich über die Generationen hinweg in hohem Maße vererbt und Schule somit Kinder in eine Berufswelt hineinleitet, die der ihres Elternhauses ähnelt. Dass Kritik an diesem Zustand sich nicht durchsetzt, liegt zum einen daran, dass Eltern und Kinder aus Sozialschichten mit herkömmlich wenig Schulerfolg Selbstbewusstsein und Vertrauen auf ihren politischen Einfluss verlieren, und zum anderen weil Eltern und Kinder aus Sozialschichten, die daran glauben, sozialen Status durch Schulerfolg sichern zu können, diese Schule verteidigen und gegebenenfalls bereit sind, mit großem finanziellen und psychischem Aufwand ihren Kindern diesen Zugang eröffnenden Schulabschluss zu ermöglichen.

Die frühzeitige Verteilung der Kinder auf Schulzweige auf der Basis von Schulnoten in Fächern und damit soziale Trennung der Kinder verstärkt die Interpretation der Sozialwelt als System der Ungleichheit. Viele Sozialwissenschaftler behaupten daher, das Bildungswesen sei ein wesentlicher Mechanismus, soziale Ungleichheit zu erhalten und zu verstärken1. Das Bildungssystem dient sogar zur Legitimation der Ungleichheit, weil weithin unterstellt wird, berufliche Verteilungs- und Aufstiegsprozesse beruhten auf schulischen Leistungen und honorierten in der Schule erbrachte Leistungen.

Eine einseitige Bildungspolitik

Immer wieder geäußerte Kritik an der sozialen Ungerechtigkeit des Bildungswesens blieb im Allgemeinen ohne Wirkung, weil sie sich auf das Bildungssystem eines Landes bezieht, in dem trotz mancher Unzulänglichkeiten offensichtlich Wissenschaft, Technik und Wirtschaft florieren, Demokratie, Freiheitsrechte und Rechtsordnung stabil und kulturelles Leben und Künste reichhaltig sind. Es liegt nahe, diese Erfolge auch dem Bildungswesen des Landes zuzuschreiben und die herkömmliche Aufteilung der Schüler in drei Qualitätswege schulischer Bildung zum Erfolgsmodell zu erklären. Desto überraschter waren Bildungspolitik und Schulverwaltung, als die Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien (PISA) nachwiesen, dass die durchschnittlichen fachlichen Kompetenzen fünfzehnjähriger Schüler Deutschlands hinter dem Leistungsniveau vergleichbarer und konkurrierender Staaten zurückblieben.

Seitdem wurde viel unternommen, um dieses als schlecht empfundene Resultat zu verbessern. In den nachfolgenden Testrunden steigerten sich die Schulleistungen der deutschen Schüler tatsächlich um einige Rangplätze. Die Frage, ob die Leistungen der Bundesrepublik sich möglicherweise nicht nur und sogar weniger als angenommen auf Schulfächer stützen, wurde nicht gestellt. Möglicherweise profitieren sie von anderen Ressourcen und historischen Bedingungen, die mit den Leistungen in Schulfächern weniger korrelieren als weithin vorausgesetzt wird. (…)

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Es sind so viele Themen, die das Leben der jungen Menschen prägen werden: Menschen verlieren dauerhaft den Anschluss an die Entwicklung von Wohlstand und Lebenskultur; Ressourcen werden knapp: Naturausbeutung und -zerstörung werden bedrohlich und verlangen neue Lebensweisen; die Ränder des demokratischen Spektrums, die Vernunft nicht zugänglich sind, wachsen; Populismus profitiert von der Intransparenz vieler Vorgänge und vom Gefühl der Einflusslosigkeit; Wirtschaft setzt am effektivsten ihre Interessen durch; Finanzmärkte bleiben ungebändigt; viele Entwicklungsländer schreien nach gerechtem Anteil am Reichtum der Welt, den wenige Staaten und Magnaten kontrollieren; Menschen fliehen vor Not und Verfolgung und brauchen Schutz; radikale Gruppen brennen nieder und morden anders Denkende und Lebende; despotische Regime gewinnen Terrain und drohen mit Gewalt. Nichts von dem wird in naher Zukunft verschwinden. Kann man angesichts der neuen Herausforderungen darauf vertrauen, dass weiterhin „naturwüchsig“ außerhalb des Bildungswesens Fähigkeiten und Bereitschaft wachsen, die gemeinsames gutes Leben verteidigen und sichern?

Viele dieser Entwicklungen belasten zusätzlich vor allem Menschengruppen, die in prekärer sozialer Lage leben, denn ihnen fehlen zumeist die materiellen und oft auch die mentalen Mittel für individuelle Auswege, die besser gestellte Menschen einsetzen können. Befriedigende und in allen sozialen Lagen akzeptierte politische Lösungen und nachhaltige Lebensformen, die auf diese Themen und Probleme antworten, können nur erarbeitet werden, wenn sich an den dafür erforderlichen demokratischen Aushandlungsprozessen auch die Sozialgruppen wirkungsvoll beteiligen können, denen das Bildungswesen bislang ungenügend hilft, ihre Fähigkeiten zu entfalten, ihre Urteilskraft zu stärken und ihre Mitverantwortung wahrzunehmen. Längst wissen wir, dass alle diese Potentiale auch in den Sozialgruppen angelegt sind, die in sozialer Unsicherheit leben. Das beweisen Menschen dieser Herkunft, die es geschafft haben, sich gegen diese widrigen Lebensverhältnisse durchzusetzen und nun in allen gesellschaftlichen Bereichen erfolgreich und anerkannt tätig sind.

Mit der Aufarbeitung und Bewältigung fehlgelaufener und bedrohlicher Entwicklungen muss folglich zugleich die bislang nicht effektiv bekämpfte soziale Ungleichheit in der Gesellschaft zu Fall gebracht werden. Wenn es nicht gelingt, allen Menschen fairen Zugang zu einem die Menschenwürde achtenden Leben zu verschaffen, bleibt ein Einfallstor für Vorurteil, Ablehnung, Ausschluss, Minderwertigkeits- oder Überlegenheitsgefühle, Verschwörungs- und Untergangstheorien bis hin zu Fantasien von Rache, Gewalt und Gottesgericht, die die Gesellschaft insgesamt verseuchen. Das Bildungswesen ist bei diesen Anstrengungen im Zentrum, aber nicht durch die Verbesserung von PISA-Rangplätzen, sondern durch Stärkung bürgerlich-demokratischer Kompetenzen. (…)

Schule kann Resilienz fördern

Armutsforscher beziehen sich heute oft auf die Resilienzforschung, um die Frage zu beantworten, wie man Kindern aus Lebensverhältnissen heraushelfen könne, in denen ihre Entwicklung und ihr Schulerfolg behindert werden. Sie verweisen auf Langzeit-Studien, die demonstrieren, dass keineswegs alle Kinder, die unter den Risiken von Armut, Gewalt und Vernachlässigung aufwachsen, als Erwachsene wieder in elenden Verhältnissen landen. Ein Teil dieser Kinder erweisen sich als „resilient“, als widerstandsfähig. Sie entgehen den eigentlich zu erwartenden Folgen ihres Aufwachsens in materieller und psychischer Entbehrung vor allem dann, wenn es in ihrem sozialen Umfeld Personen (Großmutter, Nachbar, Lehrer/in) gibt, mit denen diese Kinder eine sichere Beziehung aufnehmen können, und wenn diese Personen den Kindern ermutigend zur Seite stehen, ihr Selbstvertrauen und ihre Selbstverantwortung stärken und Bemühungen und Fortschritte anerkennen. Auch Anerkennung und Unterstützung in der Schule war ein wichtiger Faktor für eine positive Entwicklung.

Entscheidend ist, dass Resilienzforscher betonen, Resilienz sei kein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal. Vielmehr entwickelt sich Resilienz im Zusammenspiel von Eigenschaften des Kindes und Merkmalen seiner sozialen Umwelt. Resilienz bündelt die Fähigkeiten, Belastungen auszuhalten, bei negativen Vorkommnissen nicht aufzugeben und auch in schwierigen Situationen weiterhin nach Lösungen zu suchen. Für jedes Kind gibt es Grenzen. Aber wo diese Grenze der Belastbarkeit liegt und welche Schwierigkeiten noch als Herausforderung angenommen werden, ist von Kind zu Kind verschieden und auch nicht ein für alle Mal festgelegt, aber durch angebotene Erfahrungen von Anerkennung, Selbstwirksamkeit, Beteiligung an Entscheidungen und Verantwortungsübernahme beeinflussbar.

Dennoch kann man Resilienz nicht produzieren, sondern sie kann entstehen, wenn ein Kind Aufmerksamkeit spürt, seine Interessen berücksichtigt werden, es Wirkungen seines Handelns wahrnehmen kann und merkt, respektvoll und ermutigend unterstützt zu werden, vor allem wenn etwas misslingt. Diese die junge Person stärkenden Erfahrungen werden durch einen stabilen und verlässlichen Kontext erleichtert, der individuelles Aufeinander-Eingehen ermöglicht.

 Einen solchen Kontext sollten die Einrichtungen des Bildungswesens für alle Kinder schaffen. Besonders wichtig wäre es für Kinder, die ihn zu Hause und in ihrem sozialen Umfeld nicht finden. Schulen sind der einzige Ort, an dem die Gesellschaft eine wirkliche Chance hat, auch die Kinder zu erreichen, die den Entwicklungs- und Bildungsrisiken ihrer unterstützungsarmen Herkunft zu unterliegen drohen, denn wir holen sie alle in die Schule. Es ist wichtig, dass die Schule die Aufgabe, in Kindern Fähigkeiten zu aktiver Beteiligung und konstruktiver Bewältigung von Problemen zu entwickeln, nicht auf die frühkindliche Bildung, die Kindertagesstätten oder den Nachmittag der Ganztagsschule abschiebt. Schule spielt im Kinderleben eine so zentrale Rolle, dass schwer wiedergutzumachen ist, wenn ein Kind gerade dort nicht erlebt, dass es respektiert wird, seine Meinungen und Interessen, Probleme und Schwierigkeiten berücksichtigt werden und dass es Einfluss auf sein Lernen und soziales Leben hat.

Hier geht es zu einer Besprechung des Buches „Worauf Kinder und Jugendliche ein Recht haben“ in der „Süddeutschen Zeitung“:

Zur Person
Setzt sich für Kinderrechte ein: Prof. Lothar Krappmann. Foto: Debus Pädagogik Verlag
Setzt sich für Kinderrechte ein: Prof. Lothar Krappmann. Foto: Debus Pädagogik Verlag

Prof. Dr. Lothar Krappmann ist ein international anerkannter Forscher im Bereich Kindheit und Kinderpolitik. Seine Dissertation über „Soziologische Dimensionen der Identität“ gilt als soziologisches Standardwerk. Er war bis 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung im Forschungsbereich Entwicklung und Sozialisation in Berlin und bis 2011 Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes. Heute ist er als Honorarprofessor für Soziologie der Bildung an der Freien Universität Berlin tätig und arbeitet in diversen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Organisationen, die sich für die Umsetzung der Kinderrechte einsetzen.

Kinderrechte

Gemeinsam mit dem Mitherausgeber Christian Petry und einer Autorengruppe aus Wissenschaft und Praxis zeigt Krappmann in dem neuen Buch „Worauf Kinder und Jugendliche ein Recht haben“ auf, dass Kinderrechte eine zentrale Orientierung für die Weiterentwicklung von Schule sind. Es geht dabei um die Frage, was jungen Menschen zusteht und welche Entwicklungsmöglichkeiten ihnen gegeben werden müssen, um die Herausforderungen im Erwachsenenalter meistern, in Gemeinschaft mit anderen gut leben, ihre Wünsche nach Freiheit und politischer Mitbestimmung bestmöglich verwirklichen, ihre Urteilskraft entwickeln und sich auch mal Nonkonformismus leisten zu können. (Debus Pädagogik Verlag, 29.90 Euro)

 

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Joss Hans
5 Jahre zuvor

Sehr interessantes Projekt. Wird es auf der Oberstufe weiter geführt? (7.-9. Schuljahr)

AvL
5 Jahre zuvor
Antwortet  Joss Hans

Ein noch größerer Schock durfte die Hattie-Studie für die Anhänger offener Lernmethoden gewesen sein.
Will man sich über die PISA-Studie weiter mit Ländern, wie Südkorea, China und Singapur vergleichen ?

m. n.
5 Jahre zuvor
Antwortet  Joss Hans

Welches Projekt meinen Sie? Ich lese nur die üblichen Behauptungen von ungerechtem Schulsystem und ungleicher Chancenverteilung verbunden mit moralistisch ilusionären Forderungen von Gleichmacherei.

AvL
5 Jahre zuvor
Antwortet  m. n.

So ist es, denn der Artikel stellt sich als eine allgemein gehaltene Anklage gegen das bestehende Schulsystems dar.