Grundschulen können komplett auf Noten verzichten – das gilt jetzt auch in Niedersachsen

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HANNOVER. Die rot-grüne Landesregierung von Niedersachsen hat in ihrer Koalitionsvereinbarung beschlossen, den Stress aus den Schulen zu nehmen. Dazu zählt ab sofort die Möglichkeit für Grundschulen, Berichts- statt Zensurenzeugnisse zu vergeben. Die Opposition kritisiert die Neuregelung als leistungsfeindlich.

Grundschulen in Niedersachsen müssen künftig keine Ziffernoten mehr vergeben. Foto: Luis Priboschek
Grundschulen in Niedersachsen müssen künftig keine Ziffernoten mehr vergeben. Foto: Luis Priboschek

Niedersachsens Grundschulen dürfen von diesem Schuljahr an auf Zeugnis-Noten verzichten. Nach einem am 1. Juni in Kraft getretenen Erlass des Kultusministeriums können sie per Konferenzbeschluss entscheiden, ob sie Noten- oder Berichtszeugnisse erstellen. Wie viele Grundschulen jetzt ohne Noten arbeiten wollen, ist nicht bekannt. Schleswig-Holstein hatte als erstes Bundesland eine solche Regelung eingeführt; die Resonanz der Grundschulen blieb jedoch unter den Erwartungen: Nur 13,5 Prozent der Grundschulen in Schleswig-Holstein nutzen die neue Freiheit.

Bisher erhielten niedersächsische Grundschüler ab der dritten Klasse Zensuren von eins bis sechs, also von sehr gut bis ungenügend. Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) sagte auf Anfrage: «Wir schaffen in Niedersachsen damit aber keine Noten ab, sondern wir geben den Grundschulen, die mit besonderem pädagogischen Konzept arbeiten, mehr Gestaltungsspielräume.»

Kritik von der CDU

Die Opposition im Landtag kritisiert den neuen Zeugniserlass scharf. «Rot-Grün schafft den Leistungsgedanken ab», sagte der CDU-Schulexperte Kai Seefried. Die Noten seien für Eltern eine hilfreiche Richtschnur, um zu entscheiden, ob ihr Kind nach der vierten Klasse aufs Gymnasium, die Gesamt-, Real-, Haupt- oder Oberschule gehen sollte. Außerdem sei es ein Unding, einen Erlass mit Wirkung für dieses Schuljahr zehn Tage vor den Zeugniskonferenzen an die Schulen zu schicken, kritisierte Seefried. Rund 850.000 Kinder und Jugendliche an den allgemeinbildenden Schulen in Niedersachsen erhalten am morgigen Mittwoch ihre Zeugnisse.

An der IGS Roderbruch gibt es schon seit Gründung der Schule 1973 Lernentwicklungsberichte statt Noten. Diese seien viel aussagekräftiger und differenzierter, sagte Schulleiterin Brigitte Naber. Wie viele andere Grundschulen Noten abschaffen wollen, ist nicht bekannt, denn die Konferenzbeschlüsse müssen den Behörden nicht mitgeteilt werden.

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Die Landeschefin des Lehrerverbandes VBE, Gitta Franke-Zöllmer, sagte: «Vielleicht kann man in einem Jahr aus internen Rückmeldungen eine Tendenz ablesen. Die Entwicklung von den reinen Noten weg wird auch ein längerer Prozess sein.»

Studien belegen, dass drei Viertel aller Eltern Noten wollen. «Eltern sind Wähler. Deshalb fassen nur wenige Politiker dieses heiße Eisen an», sagte der Bremer Bildungsforscher Hans Brügelmann. Als in Schleswig-Holstein den Grundschulen freigestellt wurde, Noten- oder Berichtszeugnisse zu vergeben, brachte die Landes-FDP gleich eine Volksinitiative «Pro Noten in der Grundschule» auf den Weg.

Brügelmann plädiert dennoch für einen Verzicht auf Zensuren in der Grundschule. Sie seien weder objektiv noch verlässlich noch vergleichbar, weil je nach Niveau der Klasse Leistungen höher oder niedriger eingestuft werden. «Außerdem sind sie nicht aussagekräftig», sagte der emeritierte Professor für Erziehungswissenschaft von der Uni Siegen. «Eine Drei in Deutsch kann für einen sprachbegabten, aber faulen Schüler stehen oder aber für einen Seiteneinsteiger aus einem anderen Land, der in kurzer Zeit viel gelernt hat.»

Was die kognitive Entwicklung angeht, lägen gleichaltrige Grundschüler oft drei Jahre auseinander. «Die einen können vor der ersten Klasse schon lesen, andere kaum einen Buchstaben schreiben», sagte der Forscher. Vergleichende Noten stempelten Spätentwickler als faul, nicht normal oder unintelligent ab. dpa

Zum Bericht: Precht: Noten fördern Vereinzelung – dabei ist Teamfähigkeit immer stärker gefordert

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Pälzer
7 Jahre zuvor

Den Stress kriegen dann die weiterführenden Schulen. Wenn dann dort auch die Noten abgeschafft sind, macht den Stress später der Arbeitgeber bzw. das Sozialamt.

Michael
7 Jahre zuvor
Antwortet  Pälzer

Haben Sie auch nur den geringsten sachlichen Anhaltspunkt für Ihre Behauptungen? Es gibt dokumentierte Schulversuche, die den Sinn von verbalen Beurteilungen untermauern. Gute Verbalzeugnisse geben bessere Rückmeldung für die Kinder und Eltern (wenn sie sie denn lesen) und erklären genau, in welchen Bereichen ein Kind eine gute Entwicklung zeigt und welche noch ausbaufähig sind. All diese Informationen geben Noten nicht.

malum
7 Jahre zuvor

Ein Glück, dass die Grundschulen noch selbst entscheiden dürfen, ob sie mit oder ohne Noten arbeiten.

mississippi
7 Jahre zuvor

Ich sage dazu nur, dass es einfacher ist, eine Note aufzuschreiben, als ein Berichtszeugnis zu verfassen. Und was sagen die Noten? Das ist doch egal. Unsere Eltern machen nach Abschaffung der Grundschulempfehlung sowieso was sie wollen.

xxx
7 Jahre zuvor
Antwortet  mississippi

und bei Berichten fragen die Eltern nach der Entsprechung in Ziffernnoten …

Ilke
7 Jahre zuvor

Klasse! An unserer Grundschule läuft es schon seit sechs Jahren erfolgreich ohne Noten. Natürlich ist das für die Lehrer zum Ende des Schuljahres mehr Arbeit als einfach nur einige Zahlen in einen Vordruck einzutragen, aber solch eine Art Zeugnis würde auch nicht mit dem Konzept unserer Schule („Das Kind im Mittelpunkt“) in Einklang zu bringen sein.
Reine Textzeugnisse mit ellenlangem Text in dem man zwischen den Zeilen lesen muss, müssen ja nicht die einzige Alternative zu den althergebrachten Notenzeugnissen sein.

Ursula Prasuhn
7 Jahre zuvor

@Michael
Sie vertreten m. E. eine schöne, für viele aber lebensfremde These. Pfälzer hat völlig Recht, mit dem, was er sagt.
Außerdem wünscht sich die Mehrzahl der Eltern Noten, weil ihnen diese nach eigener Auskunft mehr und nicht weniger sagen.
Man nehme – nicht nur in diesem Fall – doch bitte die Wünsche und Meinungen einer Mehrheit von Eltern und vielleicht auch Lehrern ernst, anstatt wieder mal Besserwisserei und Bevormundung zu betreiben.
Berichtszeugnisse sollen bekanntlich möglichst positiv und ermutigend klingen. Ob Eltern da so ohne weiteres Leistungsschwächen oder -nöte erkennen, ist die Frage. Ich bezweifle das und behaupte: Eltern haben ein gesundes Misstrauen gegenüber Auskünften, die eine Leistungsbewertung durch Noten verweigern, obwohl diese massiv gewünscht wird.
Den Gegnern von Noten, die in der Regel wie Sie argumentieren, könnte ich mehr Glauben schenken, wenn mein Eindruck nicht so stark wäre, dass es ihren Anführern vor allem die Abschaffung geht und weniger um mehr Information durch Berichte.

Ich vermisse den Vorschlag, die Lern- und Leistungsbeschreibungen mit einer abschließenden Note zu versehen. Das käme allen Wünschen entgegen, stieße bei den Geistesführern der Notenabschaffung aber vermutlich auf strikte Ablehnung und veranlasste sie nur, fieberhaft weitere Gründe für die Verbannung von Zensuren ins Feld zu führen.
Da drängt sich die Frage auf, was wirklich hinter der Verteufelung von Noten steckt, auch wenn – wie so oft – die Berufung auf handverlesene „Experten“-Aussagen dem Ganzen einen seriösen und pädagogisch wertvollen Anstrich verleiht.

dixo
7 Jahre zuvor
Antwortet  Ursula Prasuhn

Bei der Notenabschaffung geht es um dieselbe Gleichmacherei wie bei der allgemeinen Senkung des Lernniveaus, des immer leichteren Zugangs zum Abitur, der Inflationierung der Noten, der Inklusion und Schaffung einer Schule für alle.
Bestimmt fehlt bei der Aufzählung noch einiges, doch alles läuft auf Gleichmacherei auf niedrigem Niveau hinaus.

Elisa
6 Jahre zuvor
Antwortet  Ursula Prasuhn

Denkanstoß:
„Warum sollten auch Eltern bewusst darauf verzichten, von einem professionellen Berater differenzierte Informationen über Lerntyp, Lernwege, Lernperspektiven und Fördermöglichkeiten ihres Kindes zu bekommen. Man stelle sich ein entsprechendes Beispiel aus dem medizinischen Bereich von: Nach einer intensiven Untersuchung sagen die meisten Patienten zum Internisten: ‚Nennen sie mir nur die Note für meinen Gesundheitszustand. Das andere verstehe ich doch nicht.'“
Aus: Böttcher, W. /Brosch, U. /Schneider-Petri, H.: Leistungsbewertung in der Grundschule. S. 63

mississippi
7 Jahre zuvor

@ U. Prasuhn: „Ich vermisse den Vorschlag, die Lern- und Leistungsbeschreibungen mit einer abschließenden Note zu versehen. “ Aber das ist doch in den Regelschulen seit Jahren gang und gäbe bei den Jahreszeugnissen.

Sabine
7 Jahre zuvor
Antwortet  mississippi

Mit Verlaub, dass dies überall bei den Jahresabschlusszeugnissen „gang und gäbe“ sei, stimmt nicht.
Der ewige Streit um ein Entweder-Oder von Berichts- oder Notenzeugnissen wäre bei einem Sowohl-Als-Auch zudem sinnlos und überflüssig.

mississippi
7 Jahre zuvor

… aber wahrscheinlich nur bei den Grundschulen

mississippi
7 Jahre zuvor

Wahrscheinlich Bundeslandsache. In BaWü ist es so.

GriasDi
7 Jahre zuvor

Ein Beispiel aus den Vera-Tests gefällig?
Beim Vera-Test werden ja individuelle Rückmeldungen versprochen. Die individuellen Rückmeldungen sahen dann so aus: Es gab 5 Kategorien (man hätte auch Noten vergeben können). Zu jeder Kategorie gab es dann eine blumige Umschreibung. Mehr nicht!!!

xxx
7 Jahre zuvor
Antwortet  GriasDi

die lesen sich wie computergenerierte textbausteine. insgesamt nicht mehr als datenmüll oder altpapier

Lemming
7 Jahre zuvor

Die CDU will den Leistungsgedanken durch Noten hochhalten? Kein Problem, ich fordere die ständige Benotung der Leistungen der CDU-Politiker durch die Wahlberechtigten!

Referendar
6 Jahre zuvor

Man braucht einfach ein Textzeugnis mit Klartext und nicht solchen weichgespülten Antworten, die man in alle Richtungen interpretieren kann.

Mit Noten können nur alle was anfangen, weil es jeder schon durchlaufen hat.. Dass es besser ist, sei doch mal dahingestellt. Es gibt lediglich allen die Sicherheit irgendwas einschätzen zu können, weil jeder eben in der Schule war und das kennt. Hätten Eltern als Kind selbst schriftliche Beurteilungen bekommen, würde jetzt keiner nach Noten fragen. Alles reine Gewohnheit.

Es sagt aber trotzdem nicht viel aus.
Einer kann eine 2 in Deutsch haben und talentiert, aber faul sein, wohingegen der andere mit der 2 vielleicht nicht talentiert ist, aber fleißig und womöglich noch Deutsch für ihn oder sie eine Fremdsprache ist.. Wen stelle ich nun lieber ein? Diese Charakterzüge wie faul, fleißig und Sonstiges müssen doch irgendwo stehen, sonst führen Noten einen doch in die Irre.!!

Susan
6 Jahre zuvor

Zu meiner Zeit gab es zum Halbjahr und zum Jahresende Zeugnisse mit Noten, wobei im Jahresendzeugnis zusätzlich eine individuelle schriftliche Beurteilung enthalten war (dafür waren 10 Zeilen auf einem A5-Blatt vorgesehen, und es wurden positive und auch negative Sachen für die Eltern notiert:

Klasse 1: In den Fächern Werken und Zeichnen muss es ihr gelingen, in ihrem Verhalten ausgeglichener aufzutreten und Hiweise der Fachlehrer ernster zu nehmen.

Klasse 2: Im Elternhaus müsste er auch mehr zur Selbstständigkeit angehalten werden. Er wird sehr viel Fleiß aufbringen müssen, um auch im kommenden Schuljahr den Anforderungen gerecht zu werden.

Klasse 3: Noch bessere Lernergebnisse kann sie erreichen, wenn sie bei der mündlichen Unterrichtstätigkeit aktiver in Erscheinung tritt.

Ich glaube, heutzutage würden viele Eltern wegen solcher Aussagen Sturm laufen und die Lehrer verklagen, weil sie sich angegriffen fühlen. Ich persönlich finde solche ehrliche Einschätzung in Zusammenspiel mit Noten als den besseren Weg, um daraus das Beste für sein eigenes Kind zu finden (z.B. Fördermöglichkeiten oder Hilfesstellungen, die man zuhause übernehmen kann). Sicherlich spielt da zwingend ein intensiver Austausch zwischen Eltern und Schule auch eine wichtige Rolle, was meiner Meinung nach, heute nicht mehr so den hohen Stellenwert hat.

Leider gab es bei meinem eigenen Kind zum Halbjahr (1. Klasse) weder Noten noch ein Gespräch, sodass wir gar nichts einschätzen können. Anscheinend wurden bis letztes Jahr Zeugnisgespräche geführt (lt. Infozettel der Schule). Stattdessen bekommt unser Kind einen Zettel mit, auf dem steht, dass es toll gelernt hat. Aufgrund der nicht stattgefundenen Zeugnisgespräche sollen wir Eltern diesen Zettel unterschreiben und das Kind soll das der Lehrerin wieder vorzeigen – welchen Wert hat das denn!!!!

Palim
6 Jahre zuvor
Antwortet  Susan

Das sind 2 Paar Schuhe, wenn nicht drei:

1. Angesichts dessen, dass es in Nds. seit Jahrzehnten keine Halbjahreszeugnisse in Klasse 1 gibt, geben etliche Schulen in Klasse 1 zum Halbjahr Briefe o.ä. mit, damit die Kinder als „Schulkinder“ nicht ohne etwas nach Hause gehen müssen. Das kann wie ein individuelles Zeugnis gestaltet sein mit beschreibenden Sätzen oder auch eine ganz andere Form haben. Es fungiert nicht wirklich als Zeugnis, aber schon häufig als Rückmeldung. Es kann aber auch der gleiche Brief an alle SuS sein.
Wenn man diesen Brief wie ein Zeugnis handhabt, lässt man ihn von den Eltern unterschreiben, damit er (oder das Kind) die notwendige Beachtung erfährt.
Ggf. werden in den anderen Klassenstufen dennoch Zeugnisgespräche zu den Zeugnissen angeboten, nicht aber in Klasse 1, da es ja keine „offiziellen“ Zeugnisse gibt.

2. Wenn man als Elternteil den Bedarf sieht, sich über die Leistungen oder das Zurechtkommen des eigenen Kindes zu informieren, kann man zu jeder Zeit um ein Elterngespräch bitten – sprich: nach einem Termin fragen.
Auch an meiner Schule gab es schon unterschiedliche Verfahren, wann im ersten Schuljahr zum ersten offiziellen Elternsprechtag eingeladen wurde: nach den Herbstferien, im Januar, im Mai – also nach fast 1 Schuljahr.
Aber niemand muss auf solche Tage warten!
Viele Schulen weisen Sprechzeiten, je Lehrkraft. Wir sind davon wieder abgekommen, da sich Termine nicht an Sprechzeiten orientieren. Wir sind gesprächsbereit, vereinbaren mit den Eltern geeignete Termine, sprechen selbst die Eltern an oder werden angesprochen.

3. Der obige Artikel ist quasi veraltet, hinsichtlich der Zeugnisse ohne Noten gibt es eine Rolle rückwärts. Gegenwärtig wurde abgefragt, welche Schulen auf Noten verzichten, in Zukunft müssen – soweit ich es mitbekommen habe – zumindest Ende 4 Noten im Zeugnis gesetzt sein. Üblich waren/ sind in Niedersachsen in Klasse 1+2 Berichtszeugnisse sowie in Klasse 3+4 Noten + schriftliche Bemerkungen zu Arbeits- und Sozialverhalten.
Und ja! Eltern laufen Sturm, wenn solche Bemerkungen in Zeugnissen auftauchen. Immer muss alles weit positiver formuliert sein und auch die Bemerkung „Die Versetzung ist gefährdet.“, die eine Warnung ist und die Versetzung selbst nicht bestimmt, wird angefochten.