Gastbeitrag: Aufwachsen in einer unreifen Gesellschaft – warum Jugendliche Mutproben brauchen

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OLCHING. Koma-Saufen, gefährliche Autofahrten, verrückte Mutproben wie „S-Bahn-Surfen“, Vandalismus, zunehmende Gewaltexzesse, Drogen-, Computer- und Smartphonesucht, extremes Piercing und Tätowieren. Diese Reihe könnte fast beliebig fortgesetzt werden. Aber auch noch ein anderes Phänomen ist gerade bezüglich unserer Heranwachsenden heute mehr und mehr zu beobachten: Viele kommen einfach nicht in die Puschen, hängen jahrelang orientierungslos herum, scheitern oftmals in der Schule, neigen zur Depression oder zur Magersucht, leiden unter großer Sinnlosigkeit und finden einfach nicht in ihr eigenes Leben, auch wenn sie schon längst volljährig sind. Was ist mit unserer Jugend los?

Wir Eltern, Lehrer, Psychologen, Sozialpädagogen und Politiker stehen diesem Verhalten eines Teils unserer jungen Leute im Grunde hilflos gegenüber, auch wenn sich viele Lehrer mit großem Engagement gerade um die „schwierigen“ von ihnen bemühen. Was bringt Jungen dazu, sich aggressiv und gewalttätig zu verhalten? Warum besaufen sich viele Jungen und Mädchen regelmäßig und glauben, keine Party ohne viel Alkohol bestreiten zu können? Warum sind so viele von ihnen orientierungslos und finden nicht den „Dreh“ für ein selbstverantwortliches Leben? Sicher kann man eine Reihe von Argumenten dazu anführen: schlechtes soziales Milieu, fehlende Vorbilder, überforderte Eltern, unkontrollierter Computerkonsum, Smartphone-Sucht. Keiner dieser Gründe allein wirkt für mich als Pädagoge wirklich überzeugend. Was aber sind die tieferen Ursachen für dieses Verhalten vieler unserer Jugendlichen?

"Draußenschule" heißt, einmal in der Woche mit den Schülern nach draußen zu gehen. (Foto: twicepix/Flickr CC BY-SA 2.0)
Die Idee des Autoren: Eine Nacht als Mutprobe im Wald ganz allein verbringen. (Foto: twicepix/Flickr CC BY-SA 2.0)

Jungen brauchen Mutproben

Betrachtet man die ganze Thematik jedoch aus der Perspektive des Initiationsgedankens, so wird sofort Vieles verständlicher: Vor allem Jungen brauchen geeignete Übergangsrituale – sogenannte „rites of passage“ –, um kraftvoll durch die Phase der Pubertät hindurchzukommen und in den Lebensabschnitt des Erwachsenseins eintreten zu können. Doch in unserer Gesellschaft ist das Bewusstsein für Initiation und für Initiationsrituale weitgehend verloren gegangen. Dies ist fatal. Denn so gibt es für die meisten Jugendlichen keine adäquaten Zeremonien mehr, die den Übergang von der Jugend ins Erwachsensein klar markieren könnten. All die oben genannten negativen Phänomene können daher als Folge des Fehlens von und als Schrei von Jugendlichen nach geeigneten Initiationsritualen gedeutet werden. Besonders die Jungen brauchen solche Zeremonien, durch die sie ihre Kraft, ihren Mut und manchmal auch ihre Wildheit zeigen können und dafür die Anerkennung von Erwachsenen erhalten. Um eine Art von kontrollierter Mutprobe geht es also.

Zudem wird in unserer heutigen Leistungs- und Konsumgesellschaft beständig der Traum einer „ewigen Jugend“ beschworen, die nie erwachsen wird. Andererseits wird von der gleichen Gesellschaft ganz selbstverständlich erwartet, dass junge Menschen erwachsen und voll verantwortlich sind, sobald sie einen Beruf ergreifen. Das erscheint mir als bizarrer Widerspruch, der vielfältige Frage aufwirft:

Was bedeutet in unserer heutigen Gesellschaft eigentlich „Erwachsensein“?

  • Wie, auf welchem Wege und mit welchen Ritualen und Zeremonien können Jungen und Mädchen den Lebensabschnitt der Jugend verlassen und in die neue Lebensphase des Erwachsenseins hinübergeleitet werden?
  • Wohin, besser gesagt „wohinein“, also in welches moderne Weltbild und in welches Wertesystem, wollen wir als Gesellschaft unsere Heranwachsenden zu Beginn des dritten Jahrtausends eigentlich initiieren?
  • Wer soll dies machen, das heißt, wer kann ein „Initiations-Mentor“ sein, der den Jugendlichen bei diesem so würdevollen Übergang mit Rat und Tat zur Seite steht und sie dabei einfühlsam begleitet?
Peter Maier ist Gymnasiallehrer in Bayern. (Foto: privat)
Peter Maier ist Gymnasiallehrer in Bayern. (Foto: privat)

Traditionelle Kulturen wussten über das Erwachsenwerden Bescheid

Um brauchbare Antworten auf diese Fragen zu bekommen, musste ich außerhalb des herkömmlichen Bildungssystem suchen. Viele indigene Völker schickten besonders ihre Jungen unter der Anleitung von eigens dafür ausgesuchten Mentoren für einige Tage zu einer „Erwachsenenprüfung“ allein in die Wildnis. Durch solche Aktionen sollten die Heranwachsenden den Übergang von der Kindheit ins Erwachsensein besser vollziehen können. Es ging also um eine sehr bewusste Initiation.

Die beiden nordamerikanischen Ethnologen Steven Foster und Meredith Little, die sich jahrelang mit Indianerstämmen beschäftigten, haben mir die Augen geöffnet: Sie haben schon vor 35 Jahren den Grundgedanken der Indianer-Initiation übernommen und daraus in ihrer „School of Lost Borders“ die sogenannte Jugend-Visionssuche entwickelt. Sie dauert etwa zehn Tage und ist sehr gut geeignet für unseren westlichen Kulturkreis. Für 15- bis 18-jährige Jugendliche wurde später aus praktischen Gründen das kürzere Format des „WalkAway“ geschaffen, eine Art Visionssuche im Kleinen. Die langjährige Erfahrung hat gezeigt, dass dieses Ritual für Jugendliche dieser Altersstufe Herausforderung genug und sehr geeignet ist, sie auf ihren Weg zu bringen. Übersetzen würde ich WalkAway mit „Gehe deinen Weg zu dir selbst – in das Innere deines Herzens“. Seit Jahren habe ich damit nur gute Erfahrungen gemacht.

WalkAway – Schüler allein auf dem Weg zu sich selbst

Monatelang bereiten sich die Jungen und Mädchen, die sich dafür gemeldet haben, darauf vor. In einer sogenannten ganz persönlichen schriftlichen „Absichtserklärung“ machen sie klar, warum sie sich diesem Ritual unterziehen wollen, das großen Mut erfordert und Entbehrungen mit sich bringt. Der Ritualleiter gibt dann jedem Teilnehmer einen „Spiegel“, ein schriftliches Feedback auf dieses Schreiben, in dem er jeden Jugendlichen auf seine bevorstehenden Entwicklungsschritte hinweist. Das eigentliche Ritual dauert dann vier Tage. Nötig sind dazu ein passendes Seminarzentrum und ein Waldgebiet, in dem das naturpädagogische Ritual des WalkAway möglichst ungestört ablaufen kann. Er hat drei Phasen:

Phase 1: Vorbereitung

In den ersten beiden Tagen gehen die Jugendlichen jeweils für zwei Stunden mit einer konkreten Naturaufgabe allein in den Wald. Anschließend erzählen die Teilnehmer ihre Erlebnisse und Erkenntnisse in der Gruppe im Beisein der Ritualleiter. Diese geben dann zu jeder Geschichte ein aufbauendes und bestärkendes Feedback. Aufgabe der Leitern ist es, die Jugendlichen in den zwei Tagen der Vorbereitung Schritt für Schritt auf ihren Aufenthalt ganz allein in der Natur, ihrer „Solozeit“, hinzuführen.

Phase 2: Solozeit 

Am dritten Tag beginnt die zweite Phase, der eigentliche Kern des Rituals: Alle Teilnehmer werden bereits am frühen Morgen zur sogenannten 24-stündigen Solozeit allein in den Wald geschickt. Am Ritualkreis aus Steinen vor dem Wald wird jeder einzelne Teilnehmer in einer kleinen Zeremonie verabschiedet. Ab jetzt gilt er als unsichtbar, vermeidet jeden Kontakt mit Menschen, verzichtet auf Essen und auf eine Behausung und gibt vorher Handy und Smarphone ab. Mit dabei hat er nur einen Rucksack mit etwas Wechselwäsche, einen Schlafsack und eine Matte, vier Liter Wasser, eine Plane gegen Regen, ein Tagebuch und eine Trillerpfeife, um sich im Notfall bemerkbar machen zu können.

Ab diesem Zeitpunkt haben die Jugendlichen viel Zeit, um die Wesenheiten der Natur wahrzunehmen und sich mit sich selbst und ihrem Inneren zu beschäftigen. Alles, was in der Solozeit passiert, jeder Baum, jede Formation, jeder Stein oder jede Tierbegegnung, kann einen Hinweis auf den Prozess in der eigenen Psyche geben. Die Jugendlichen werden gleichsam vom Wald verschluckt und befinden sich während dieser Zeit in einer Art „Anderswelt“.

Phase 3: Rückkehr und Wiedereingliederung

Am vierten Tag warten die frühmorgens angereisten Eltern bereits um 7.30 Uhr vor dem Wald, um mit dabei zu sein, wenn die Ritualleiter die jungen Frauen und Männer aus dem Wald trommeln. Damit beginnt die letzte Phase, die sogenannte Wiedereingliederung in die Gemeinschaft. Mit einer Bussardfeder werden die Teilnehmer symbolisch wieder sichtbar gemacht. Jeder bekommt eine Tasse Tee und eine Breze, um das Fasten zu brechen.

Anschließend geht es in das nahegelegenen Seminarzentrum. Dort kann man einige Stunden lang eine Stecknadel fallen hören, wenn jeder Teilnehmer vor Eltern, Familienangehörigen und Leitern seine berührende Geschichte von „allein da draußen im Wald“ erzählt – von vielfältigen Naturerlebnissen, seinen Stimmungen, Gefühlen und Gedanken, von dem Hunger und der Langeweile, aber auch von All-Eins-Erlebnissen bei „Mutter Natur“. Wieder geben die Ritualleiter ein bestätigendes, bestärkendes und wertschätzendes Feedback und heben den mutigen Schritt jedes einzelnen Teilnehmers hervor. Schließlich werden die Eltern gebeten, auf die Geschichte ihres Sohnes oder ihrer Tochter zu antworten.

Ergreifende Geschichten vom WalkAway

Nachfolgend einige authentische Geschichten vom WalkAway-Ferienkurs:

Der 17-jährige Markus (alle Name geändert) litt an einer Angstphobie in der Dunkelheit, die bis dahin sein ganzes Leben bestimmt und ihn in seiner Entwicklung blockiert hatte. Als er von seiner Solozeit zurückkehrt, erzählt er dieses Erlebnis:

„Ja, ich hatte Angst, bevor es Nacht wurde. Wie würde es in der Dunkelheit sein? Ich vergrub mich in meinem Schlafsack, um der erwarteten Panik zu entgehen. Etwa um 3.00 Uhr nachts sprang ich plötzlich aus dem Schlafsack und lief über eine Stunde lang im Wald umher. Dabei fielen meine Angstdämonen von mir ab und ich fühlte mich mit jedem Schritt leichter. Als ich heute Morgen aus dem Wald zurückkehrte, war alle Panik verschwunden. Ich habe meine Dämonen besiegt!“

Die 17-jährige Maria hatte Angst allein im Wald. Schon am Tag zuvor bekam sie eine Panikattacke, als sie sich bei einer Übung im Wald verirrt hatte. Maria erzählt uns dann folgende Geschichte von ihrer Solozeit:  

„Ich suchte mir einen Platz für die Nacht auf einer kleinen Lichtung nur etwa 100 Meter von den Leitern entfernt, die am Waldrand übernachteten. Als es dämmerte, lag ich bereits eingekuschelt in meinem Schlafsack. Würde ich wieder in Angst geraten? Doch dann erlebte ich etwas Unerwartetes. Stundenlang schaute ich zum Himmel und sah immer mehr Sterne in der klaren Nacht aufgehen, je dunkler es wurde. Plötzlich hatte ich das Gefühl, vollkommen in den Kosmos hineingezogen zu werden und mit dem Universum, mit allen Menschen, Tieren und Pflanzen und mit den Himmelskörpern zu verschmelzen. Ich hatte ein All-Eins-Erlebnis wie noch nie zuvor und fühlte mich total geborgen. Es war einfach wunderbar. Von Angst war nichts mehr zu spüren.“

Nachdem die Geschichten von allen Teilnehmern erzählt und gespiegelt worden sind, endet die sehr berührende Veranstaltung mit einem feierlichen Essen, das die Eltern von zu Hause mitgebracht haben. Mir als Ritualleiter bleibt nur noch, meinen großen Respekt vor diesen mutigen Jungen und Mädchen zu bekunden, die durch dieses Ritual selbständiger und selbstverantwortlicher geworden sind und einen großen Schritt hin zum Erwachsensein gemacht haben. Peter Maier

Über den Autor

Peter Maier  ist Gymnasiallehrer in Bayern, Initiations-Mentor und Autor. Mehr Informationen und Buch-Bezug unter www.initiation-erwachsenwerden.de

Bereits erschienene Bücher:

 

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„Schule – Quo Vadis? Plädoyer für eine Pädagogik des Herzens“. ISBN: 978-3-95645-659-6

„Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band I: Übergangsrituale“ ISBN: 978-3-86991-406-6cover1

„Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band II: Heldenreisen“ ISBN: 978-3-cover286991-409-1

Mehr Texte vom Autor

Gastbeitrag: Acht Gründe, warum Jungen das schwache Geschlecht in der Schule sind – und was wir dagegen tun können

Gastbeitrag: Schule unter Reformdruck – Plädoyer für eine Pädagogik des Herzens

 

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