Gastbeitrag: Flüchtlinge „14 aus Millionen; oder: Jedes Kind mag Schokolade“- Teil 4

0

DÜSSELDORF. Erinnerung an Begegnungen mit geflüchteten Kindern: Flüchtlinge begegnen uns in den Medien allerorten. Doch in der „echten“ Realität erleben die meisten von uns nur selten ein wirkliches Zusammentreffen. Abgesehen von professionellen Betreuern und engagierten Bürgern bilden Lehrer und Schüler noch die Ausnahme. Sie haben in ihrem beruflichen Alltag direkt mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen zu tun. Zu engeren Beziehungen kommt es aber auch dabei in der Regel kaum.

Bei der 19-jährigen Schülerin, die uns den folgenden Text geschickt hat, ist das anders. Aus einem Schulprojekt heraus entwickelte sich eine komplexe Begegnung mit Flüchtlingen, die sie in einem literarischen Aufsatz verarbeitet hat, den wir hier in mehreren Fortsetzungen veröffentlichen.

4. Teil
(zum Beginn des Berichts gelangen Sie hier…)

An einem Samstagmorgen gingen Lisa und ich hinüber, um unseren syrischen Freund zum Essen einzuladen. Wir wollten zusammen kochen und den Abend verbringen.
Im Haus war es sehr still, kein Mensch zu sehen. Wir klopften an seine Tür. Jemand bat uns herein. Er lag auf seinem Bett, rauchte und starrte ins Nichts. Der Tag war um, bevor er begonnen hatte, die Stimmung grau und trist. Er sah abgekämpft aus. Als würde der Rauch der Zigaretten in jeden Winkel kriechen und die Zeit und die Gefühle anhalten. Momo und die grauen Herren…
Nigger lehnte mit verschränkten Armen an der Kommode. Er ging weg, als wir kamen. Unser Freund dagegen schien sich zu freuen, als Lisa ihn anstieß. Er hob den Kopf und für einen Moment kam Leben in ihn. Eine leichte Regung, dann wurde sein Blick wieder trüb.
Wir sprachen kurz, luden ihn ein, sagten auch, er könne jeden mitbringen. Er wollte nicht, aber Lisa zog, also versprach er schließlich zu kommen. „Ist auch ohne Schweinefleisch!“, fügte ich noch hinzu.
„Egaaal!“
Es gab nichts, was wir sonst noch tun konnten. Lisa, die zu tief in diesem verqualmten Raum geatmet hatte, wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Dann gingen wir wieder und waren selbst draußen im Regen fröhlicher als in diesem beängstigend kafkaesk-depressiven Zimmer.
Nach dem letzten Erlebnis hatte ich schon fast damit gerechnet, dass er einfach nicht kommen würde. Es hätte mich nicht überrascht. Aber er kam! Mit seinem Habibi. Dieser bekniete uns fast, als unser Freund rauchen ging, zu schauen, dass er mehr als nur zwei Höflichkeitslöffel aß, denn er habe ansonsten heute noch nichts gegessen und würde sich auch strikt weigern. Das taten wir.
Und er aß brav, was wir ihm vom Auflauf gaben, immer noch viel zu wenig für einen normalen Menschen, um satt zu werden. Dennoch bekam er etwas Farbe ins Gesicht.
Habibi rannte nach dem Essen weg, als werde er gejagt und wolle nur noch unter seiner Decke verschwinden und nie mehr wiederkommen. Wir wussten nicht, warum.
Der Syrer blieb und schaute uns beim Abwasch zu.

Verschüchterte Kinder, die staunend vor der bunten Warenwelt in unseren Supermärkten stehen, diese Klischeevorstellung von Flüchtlingen geht an der Realität meist vorbei. Foto: garycycles / Wikimedia Commons (CC BY 2.0)
Verschüchterte Kinder, die staunend vor der bunten Warenwelt in unseren Supermärkten stehen, diese Klischeevorstellung von Flüchtlingen geht an der Realität meist vorbei. Foto: garycycles / Wikimedia Commons (CC BY 2.0)

Dann spielten wir Karten, tranken Kaffee und hörten Musik. Gefährliche Themen schnitten wir praktisch nicht an. Er rührte sich ohnehin kaum. Wie gefällt lag er in meinem Zimmer auf dem Boden. Fast mechanisch waren seine Bewegungen und der Blick leer. Nicht, dass er wirklich weggetreten gewesen wäre oder gelallt hätte, nein: Vielmehr wirkte er verloren oder hatte sich einfach nur in sich selbst verkrochen. Er wollte nicht wirklich reden, war auf der Suche nach Ablenkung. Offensichtlich hatte er aufgegeben.
Aber den Ring hatte er noch nicht weggeworfen.
Ich wollte ihn nicht aufgeben.

Manchmal, ganz selten, so merkte ich, blitzte etwas auf in seinen Augen, etwas wie ein Funken, eine ferne Erinnerung. Dann war er da, der Junge, der Herzblutdamaszener, den ich noch kennenlernen durfte.
Als er an meinem Herd stand und mit dem Jeswe Kaffee kochte, schauten wir zu. Er fragte nach Finjal, kleinen Tassen, mit denen man den Kaffee serviert. Ein Backblech diente schon als Ersatztablett. Ich holte die Tassen aus dem Schrank und reichte sie Lisa. Sie guckte, lachte dann und rief laut: „Und jetzt – Finjal!“
Er lächelte! Für einen Augenblick kehrte die alte Zeit zurück. Es war der Satz aus einem Werbespot, offensichtlich in der Türkei ebenso bekannt, der sich da in ihm rührte.

Ich glaube auch, er bekam einiges von dem mit, was um ihn herum abging, auch wenn er sich nicht äußern wollte. Eric war an dem Abend ebenfalls zu mir gekommen; es wurde fröhlich und bunt. Als Lisa dann meine Gastgeberrolle übernahm, was mich fuchste, wenn ich ehrlich bin, weil es das Einzige war, das ich geben konnte und Eric sich in sich selbst zurückzog, wollte unser Freund mir vermutlich beistehen, was ich zu spät begriff.
Sein albanischer Habibi hatte gefragt, ob er helfen könne, während wir den Tisch deckten. Wir verneinten das natürlich. Und da wurde unser Freund plötzlich deutlich und wiederholte mehrmals, für alle klar und verständlich: „Nicht fragen, einfach machen, Habib!“ Ich dachte da schon, dass in dem Satz mehr enthalten sein musste. Es war die Art, diese starke Betonung, die klar machte, dass er darin etwas verpackt hatte. Dabei schaute er konsequent an Habibi vorbei.
Zu spät begriff ich, dass er mich gemeint hatte! Er hatte mir helfen wollen, hatte gemerkt, dass ich das Ruder verlor.
Kurz vor Mitternacht begleitete Lisa ihn nach Hause. Seitdem habe ich ihn nicht wiedergesehen.

Ob ich nochmal hingehen sollte? Ich weiß es nicht. Ich bin so leise… Ich bin das Mädchen… Derzeit fehlen mir die Ideen, was ich tun könnte, um die Situation zu verbessern und wenn wieder ein Hendrik kommt, der sie zum Shisha rauchen einlädt, dann ziehen die Drogen natürlich viel stärker als Kartenspielen. Hendrik war im Gegensatz zu uns auch viel früher aktiv. Während wir noch über Schokolade diskutierten, handelte er schon.
Vom Dichter selber werde ich wohl keine Antwort bekommen, denn die Gastfreundschaft ist heilig und er wird mich nie der Tür weisen.

Tatsächlich schreibt er mir manchmal noch, letzte Woche führten wir nachts seltsam-philosophische Gespräche via Facebook. Er schrieb selbst, dass er müde sei und viel machen müsse, aber nicht könne. Er wünschte mir viel Glück in meinem Leben. Als ich antwortete, dass ich ihm das erst recht gönnen würde, kam ein überraschend ruhiges: „Ich hab schon viel gehabt!“ zurück.
„Ich kann jetzt nicht viel erzählen, aber ich möchte“, schrieb er weiter, „und irgendwann ist mein Deutsch super, dann erzähle ich dir ganz viel! Natürlich bleiben wir Freunde!“
Es war wieder alles möglich.

***

Ich wünsche mir sehr, ich hätte manche Anfangsfehler nicht gemacht. Aber leider kann ich das nicht ändern. Ich wünsche mir auch, meinem neuen Freund könnte es bald besser gehen und der Krieg würde aufhören. Ich wünschte, wir wüssten die kleine Blume in Sicherheit. So vieles, was ich nicht ändern kann.
Meine Erlebnisse mit den Jungen haben aber anderweitig viel bei mir verändert, in meinem Denken und Handeln. Ich habe zum wiederholten Mal gelernt, dass es sehr dumm sein kann, sich nur auf die Aussagen anderer zu verlassen, gelernt, dass Flüchtlinge Menschen sind – und zwar Menschen wie wir. Wir leben nicht auf unterschiedlichen Planeten! – und auch, dass manche Dinge so banal sind, so unwichtig im Vergleich zu dieser Erde, dass man sich eigentlich nicht darüber aufzuregen bräuchte. Es gibt so viele schlimme Dinge auf der Welt, schlimmer als meine Alltagsprobleme, die es nicht wert sind, traurig zu sein. Man schaut anders darauf.
Und die, die es wirklich am Härtesten trifft, stellen sich dem mit einer so beeindruckenden Würde, dass ich es nicht beschreiben kann. Ich verbeuge mich still.

Sie wirken erwachsen auf mich, diese Jungen. Sie sind schon erwachsen hierhergekommen, das mussten sie in den meisten Fällen wohl leider schnell werden, um zu überleben. Wie sie herumlaufen, sich umsehen, handeln – man kann ihnen nichts vormachen. Sie beobachteten mich sehr genau. Mögen sie auch jung sein, ihre Bewegungen scheinen mir fast nie unkontrolliert. Sie sind sich allem bewusster. Sie sind sicherlich unterschiedlich stark traumatisiert, doch etwas ist gleich: Ihnen allen wurde unwiderruflich – mindestens – ein Teil ihrer Jugend genommen.
Illusionen existieren oft nur noch wenige.

Was sie wollen und suchen, ist eine Zukunft und dabei im Einzelnen noch viel mehr. Jedes Schicksal ist verschieden.
Manche können ihre Zeit beinahe nachholen, genießen und auch pubertieren. Während andere immer damit zu kämpfen haben, plötzlich nach hiesigem Ermessen altersentsprechend behandelt zu werden und sich an Regeln zu halten, von denen sie sich vorher niemals verabschieden mussten, da sie viel früher oder anders als erwachsen galten.

Im Übrigen halte ich unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die Tatsache, dass es sie gibt, wie den Krieg an sich, sowieso für eins der größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit!

Und ja, natürlich gibt es auch die, die sich jünger lügen, um diesen besonderen Schutz zu erhalten. Das habe ich zu verstehen, zu verschweigen und zu akzeptieren gelernt.
Diese „Liebe“ hat mich tief berührt, diese Liebe und der Zusammenhalt, der unbeschreiblich zwischen den Jungen zu spüren und in kleinen Gesten nachzuvollziehen war. Mit der Zeit hat sich das noch verstärkt. Es ist mehr als Pflichtgefühl oder Zurschaustellung von Freundschaft. Es ist etwas, das darüber hinausgeht, weil es alle verbindet. Sie haben keine Heimat (mehr). Sie sind fremd. Viel Neues muss gelernt werden und man weiß nicht so recht, wem man trauen kann. Also halten sie sich aneinander, teilen ihre Not, kümmern sich umeinander, und wissen gegenseitig ihre Albträume. Das spendet Kraft und Trost. Auch die helfen einander, die sich prügeln. Wenn sie es nicht tun, vermissen sie etwas.

Ganz abschütteln konnte ich sie allerdings nie, diese oberflächlichen, medienunterstützten Gedankensortiersysteme namens: „Ich Bürger hier, du Flüchtling da“. Aber seitdem all das, was hier geschrieben steht, passiert ist, bemühe ich mich stetig, den imaginären Aufkleber von der Schublade abzukratzen, der da ebenso „behindert“ oder „langzeitarbeitslos“ lauten könnte!

Ich kann auch nicht mehr über alles lachen, habe ich erstaunt festgestellt. Als wir vor Wochen, Monaten beim Spielenachmittag vergeblich auf die Jungen warteten, kursierten plötzlich schreckliche Witze – und alle lachten mit. Es begann, als jemand vorschlug, das Spiel Reise nach Jerusalem in Reise nach Deutschland umzubenennen. Da gab es kein Halten mehr:

„Schlepper, Schlepper, wie tief ist das Wasser?“ (Fischer, Fischer…)
„Wer hat Angst vor Assad? – Niemand! – Und wenn er kommt? – Dann fliehen wir!“
„Wir spielen Tabu: Beschreibe das Wort Diktator, ohne die Begriffe Bürgerkrieg, Assad oder Folter zu verwenden!“
Nachdem ich in der Rheinstraße gewesen war, lachte ich nicht mehr darüber.

Das alles habe ich gelernt.
Und natürlich: Jedes Kind mag Schokolade!!!

========================================

Fortsetzung:

Anzeige

Im März wurde Herr Infinitiv verabschiedet, der, nun volljährig, nach Albanien zurückkehrte. Es gab eine Abschiedsfeier, die ich nicht besuchte. Zu frisch war noch die Erinnerung an den seltsamen Abend bei mir.
Habibi wurde daraufhin noch stiller und war fast nicht mehr zu sehen. Der Dichter und seine sporadischen Nachrichten verblieben mir als mein einziger Zugang zu den Jungs. Lisa hatte keinen Kontakt mehr.
Die Blume gelangte, ebenso still und unbemerkt, wie das Sterben im Meer weitergeht, nach Griechenland, wo sie bis heute festsitzt.
Europa machte dicht.

An Ostern versuchte sich der Dichter das Leben zu nehmen, indem er sich die Arme aufschnitt, doch es gelang ihm nicht. Die psychiatrische Klinik, in die er gebracht wurde, musste ihn aus Versicherungsgründen nach Hause schicken. Mit seinem Aufenthaltsstatus konnte er keine Behandlung bekommen.
Er schrieb mir. Zünde ein Licht für mich an, bitte! Ich kann das alles nicht!

Ich wollte ihn in seinem Zimmer besuchen – keine Chance. So landete ich bei den Afghanen im Wohnzimmer, mit denen ich einen netten Abend verbrachte, den ich am Ende selbst ruinierte, weil ich sie fragte, ob sie mich nicht auch einmal besuchen kommen wollten.
Meine höflich gemeinte Geste wurde als Anmache verstanden, die so niemals beabsichtigt gewesen war! Wir hatten zusammen „Bukzashi Boys“ auf Dari geguckt und Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt. Sie hatten mir ein Blech Pommes hingestellt mit der Frage: „Willst du mehr?“, während sie selbst Brot aßen.

Ich lernte Anna kennen, eine junge, freundliche, engagierte Betreuerin, die von den Jungen sehr geschätzt wurde und für mich ein Gegenbild zu den bisherigen Betreuern in diesem Haus darstellte. Großmutter war ihr Kosename, eine ironische Anspielung darauf, dass sie kaum älter war als ich oder die Jungs selbst.

Anfang Mai fand das Schülerbandfestival in M. statt. Habibi und Nigger, die im Rahmen eines anderen Projektes an einer CD arbeiteten, wollten dort zusammen auftreten. Ich sah sie auch kurz, ebenso die anderen Jungs, die auf dem Gelände herumliefen – und dann waren sie plötzlich alle verschwunden. Habibi hatte sich wohl doch nicht getraut. Nur Nigger hatte zu Beginn einen arabischen Rap vorgetragen.
Niemand außer Habibi grüßte mich und ich war zu schüchtern, um etwas zu den anderen zu sagen. Habibi war es auch gewesen, der einige Zeit vorher wieder mit mir geschrieben hatte. Es ging um ein zweites Lied, das er für das Festival gebraucht hätte. Doch etwas Ernsthaftes wurde nie daraus, zumal er mir auch nicht verraten hatte, dass es Rap oder HipHop hätte sein müssen.

Als der polnische Gegenbesuch unseres Schüleraustauschs aus Krakau zu uns kam, hätte ich sehr gern darauf verzichtet und lieber den Tag der offenen Tür in der Rheinstraße besucht, zu dem die Jungs eingeladen hatten. Doch ich konnte nicht weg. Und selbst wenn – ich weiß nicht, ob ich es getan hätte. War ich doch schon zu gebrannt, um wirklich eine Besucherin von außen zu sein. Von fern, durch das offene Fenster, hörte ich ihre Musik, mit der sie die Straße beschallten, während zugleich vier wilde, polnische Jugendliche meine Wohnung unsicher machten.
Auch als Aeham Ahmad, der Pianist aus dem besetzten Yarmouk-Camp, wenige Wochen später auf dem Marktplatz sein Konzert gab, war ich nicht anwesend, sondern weit weg auf Klassenfahrt. Aber der Dichter machte Fotos davon, wie er Arm in Arm mit ihm dort saß und – beide lächelten.

***

Der Sommer kam näher und damit das Ende des ersten Intensivklassenjahres. Seit Langem hatte ich die Rheinstraße nicht mehr betreten. Einige wenige Versuche, den Dichter noch einmal zu treffen, waren gescheitert und das Gefühl, jedes Mal unwissend dort aufzukreuzen, war nicht schön. Es machte die Betreuer misstrauisch und erweckte den Eindruck, ich liefe ihm gegen seinen Willen hinterher. Das wollte ich auf keinen Fall. Ich wollte mich von ihm verabschieden, hatte ich doch das Bedürfnis, dem Ganzen einen ordentlichen Abschluss zu geben. Danach hätte er nie wieder etwas von mir lesen oder sehen müssen.

Er hatte mir in den letzten Wochen fast gar nichts mehr geschrieben, manchmal, dass er krank sei, nicht könne, aber auch, dass er froh sei, dass ich für ihn da wäre. Ich wollte es fast nicht ernst nehmen und so drehten sich unsere Unterhaltungen im Kreis. Falls ich etwas mitbekam, das mit den Jungs zusammenhing, dann meist durch Zufall aus dem Umfeld. Der Dichter hatte in einigen Schulstunden unseres Jahrgangs hospitieren dürfen, war aber offensichtlich rausgeflogen.

Wie es wirklich um ihn und unser Verhältnis stand, konnte ich nicht ahnen. Bis zu dieser Nachricht im Juni, die meinen Entschluss, alles zu beenden, einfach über den Haufen warf: Hallo, heute ist mein Geburtstag, ich feiere um 22 Uhr in der Rheinstraße. Es würde mich freuen, wenn du kommst!

Mit fast allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit, dass mich der Dichter zu seinem 18. Geburtstag einladen würde! Natürlich hatte ich das Datum präsent. Ich hatte es mir schon vor Monaten notiert, weil ich wusste, wie sehr er darauf hinfieberte, aber nicht im Traum daran gedacht, dass er mich dort möglicherweise sehen wollte.
Unsere Gespräche und Begegnungen erschienen mir nun seltsam unwirklich und Jahrzehnte, ach was, Jahrhunderte weit weg. Die Erinnerung vermischte alles.
Und dann diese Zeilen.
Ich komme gerne!, schrieb ich aufgeregt zurück – und kam gerne.

Hinter dem hell erleuchteten Küchenfenster hörte ich sie singen.

„Die Tür ist auf!“, rief jemand hinter mir, als ich klingelte. Die Tür ist immer offen. Jaja, das alte Dilemma. Die Tür ist offen für jedermann. Trotzdem mache ich mich lieber bemerkbar, bevor ich in eine fremde Wohnung latsche.
Anna öffnete. „Das Happy Birthday hast du gerade verpasst!“ Wir gingen in die Küche, wo ich ein Stück Erdbeertorte in die Hand gedrückt bekam. Am liebsten wäre ich gleich wieder umgedreht. So viele Menschen, die alle durcheinander redeten und ich konnte mich nicht unsichtbar machen… Ich ließ den Blick schweifen, während die Minuten verstrichen.
Da war Nigger, der sein Stück Erdbeertorte mit einem solch einmaligen Blick entgegennahm, dass ich ihn mir für immer ins Gedächtnis einbrennen möchte – dieses vollendete Strahlen! Ein Ausdruck absoluten Glücks! Das lag auf seinem Gesicht, als er sich zur Tür umwandte und zunächst gefühlt einmal durch das ganze Haus rannte, lautlos, ohne ein Wort zu sagen, bevor er, heftig zwinkernd, in die Küche zurückkehrte und seine Gabel in der Sahne versenkte.
Da war einer, ich glaube, es war A., er tauchte vor mir auf, breitete die Arme aus, atmete noch einmal tief durch und sagte dann mit einer angedeuteten Verbeugung: „Herzlich Willkommen in der Rheinstraßen-WG, ich hoffe, ihr habt hier einen schönen Tag und was möchten Sie, äh – er schaute angestrengt zur Decke – was möchtest du trinken? Fertig!“
Da war E., der still und mit gesenktem Kopf herangetrottet kam und auf Annas Frage, wie es ihm denn ginge, mit: „Können wir reden?“, antwortete.
Und da war Regi, mein arabischsprechender Nachbar mit seiner Freundin und noch zwei Mädchen aus der Hendrik- und Raucherclique. Ansonsten nur Jungs! Aber kein Hendrik.

„Wie schön, dass du gekommen bist!“ Plötzlich stand der Dichter vor mir, ganz in schwarz gekleidet, ohne Mütze und ohne Lächeln, doch verriet mir etwas in seinem Tonfall, dass er es so meinte, wie er es sagte. Wir umarmten uns.
„Ich muss…rauchen!“
„Geh nur…“
Er hob die Hände. Der Ring war immer noch da. „Wir sehen uns!“
„Die erste legale Zigarette!“, spottete Anna amüsiert hinter mir.

Jemand hatte die Lampen und Schränke liebevoll-bunt mit Luftschlangen und –ballons dekoriert. Es versetzte mir einen heftigen Stich. Hinein in einen Gedanken, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass er da war. Zunächst konnte ich mir nicht erklären, wieso. Das hier war schön. Jemand hatte sich Mühe gegeben, es schön zu machen! Sogar eine Glücksgirlande mit Aufschrift hing über der Anrichte.
Jemand hatte sich Mühe gegeben, es schön zu machen. Warum wurde ich dann dabei so traurig?

Nach und nach verließen jetzt alle die Küche. Einer saß noch am Tisch und löffelte irgendetwas Gebratenes direkt aus der Pfanne, zum Schutz ein Holzbrett auf den Knien. „Hey! Wie heißt du? Ich bin R. Ich muss jetzt essen, ich komm später. Du gehst doch auch mit an der F.?“ Entweder erinnerte sich der junge Afghane nicht mehr an mich oder er hatte alles auf Null gesetzt.
„Natürlich…“, murmelte ich. Ich hatte bis eben keine Ahnung gehabt, dass es überhaupt nach draußen gehen sollte.
„Ich bin übrigens –!“
„Brauchst du Essen?“
„Nein, danke, ich hab alles!“

So spät erst Abendessen? Draußen war es inzwischen dunkel geworden und es war lang nach 22 Uhr
Ach stimmt, da war ja was. Ramadan. Ich lächelte ihm freundlich zu, ehe ich den Rauchern auf den Hof folgte.

Fackeln wurden nebst den Zigaretten entzündet, flammten auf und gingen dann von Hand zu Hand. Ich erahnte Habibi, der grüßend an mir vorbeihuschte und hörte Anna, die R. als Letzten aus der Tür schubste, dem männlichen Betreuer zuraunen: „Die Schublade ist abgeschlossen. Ein Messer hat N., eines A. und…der Dichter hat auch eins.“
Langsam setzten wir uns in Bewegung. Wir waren ein sehr zerrissener Tross, der da in Richtung Flußufer zog. Vorneweg rannten lachend und singend einige der Jungen mit ihren Fackeln, um uns etwas den Weg zu erleichtern und wir mühten uns, ihnen nachzukommen.
Nigger schloss geräuschlos zu den Fackelträgern auf. Er selbst trug eine Musikbox über der Schulter. Eines der Rauchereckenmädchen, ich nenne sie mal Luna, legte den Arm um ihn und kreischte immer wieder schrill seinen Namen. Nigger sagte nichts. „Küss sie! Küss sie!“, brüllten die Jungen begeistert, zuerst auf Englisch, dann auf Persisch, schließlich ganz durcheinander und als dann immer noch nichts passierte, gingen sie wieder in Gesang über.

Fortsetzung folgt
(zum fünften Teil gelangen Sie hier…)

• Teil 1 (16.10.2016)
• Teil 2 (23.10.2016)
• Teil 3 (30.10.2016)

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

0 Kommentare
Inline Feedbacks
View all comments