VBE-Umfrage zu Gewalt in der Schule: Hochgerechnet 45.000 Lehrkräfte in Deutschland wurden schon zu Opfern körperlicher Angriffe

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DÜSSELDORF. Der Ton in der Gesellschaft werde rauer, die Sprache verrohe, Konflikte eskalierten öfter, schneller und würden mit härteren Mitteln ausgetragen, Autoritäten nicht mehr anerkannt. Diese gesamtgesellschaftliche Entwicklung macht auch vor der Schule nicht halt – meint VBE-Chef Udo Beckmann. Eine Umfrage seines Verbands bringt erstmals Erkenntnisse über Gewalt gegen Lehrer zutage.

Lehrkräfte werden zunehmend zur Zielscheibe von Angriffen. Foto: Shutterstock

Drohen, mobben, beleidigen – jeder vierte Lehrer ist schon einmal Opfer psychischer Gewalt von Schülern gewesen. Das geht aus einer repräsentativen Forsa-Umfrage hervor, die der Lehrerverband Bildung und Erziehung (VBE) am Montag in Düsseldorf vorstellte. Demnach ist fast ein Viertel (23 Prozent) der befragten Lehrer bereits Ziel von Diffamierungen, Belästigungen und Drohungen gewesen –  Aggressoren waren hauptsächlich Schüler, aber auch Eltern. Sechs von 100 Lehrern sind der Umfrage zufolge sogar schon einmal körperlich von Schülern angegriffen worden. Hochgerechnet seien damit mehr als 45.000 Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen aller Formen bereits Opfer von tätlicher Gewalt geworden. Zu den körperlichen Angriffen gehörten etwa Fausthiebe, Tritte, An-den-Haaren-Ziehen oder das Bewerfen mit Gegenständen.

Auch Cybermobbing wird offenbar ein immer größeres Phänomenen. 77 Prozent der Befragten sehen eine Zunahme von Formen des Mobbings über das Internet. Fast jede dritte befragte Lehrkraft gab an, dass es Fälle an der Schule gab. Allerdings gaben nur zwei Prozent der Lehrkräfte an, selbst betroffen gewesen zu sein.

„Professionelle Kampfsportler“

Gewalt gegen Lehrkräfte sei «kein Einzelfall», sagte der VBE-Bundesvorsitzende Udo Beckmann. «Viel zu oft wird das Problem kleingeredet.» Er forderte Gegenmaßnahmen. «Außer professionellen Kampfsportlern ist mir keine Personengruppe bekannt, zu deren Job es gehört, sich psychisch und physisch angreifen zu lassen», sagte Beckmann.

Vergleichszahlen gibt es nicht, da es die erste Erhebung zum Thema «Gewalt gegen Lehrkräfte» ist. Verbandsintern habe man aber eine «schleichende Zunahme» von Fällen registriert, heißt es. Das spiegelt sich auch in der Umfrage: 59 Prozent der Lehrkräfte geben an, dass es mit der Gewalt in der Schule schlimmer geworden sei (an Grundschulen sogar 66 Prozent).  Besonders an Haupt-, Gesamt- und Förderschulen kommt es laut der VBE-Umfrage zu psychischer und physischer Gewalt. «Verstörend» ist laut Beckmann aber, dass jeder zehnte Grundschullehrer (12 Prozent) schon von seinen kleinen Schülern körperlich attackiert worden sei.

Bei der Häufigkeit körperlicher Angriffe gegen Lehrer kamen zudem regionale Unterschiede heraus. So wusste ein Viertel der Lehrer in NRW (25 Prozent) von derartigen Vorfällen an ihren Schulen in den vergangenen fünf Jahren, in Bayern und Baden-Württemberg waren es nur 14 und 13 Prozent.

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Mehr als 57 Prozent der Lehrer sehen Gewalt gegen Lehrkräfte als «Tabuthema» an.  So ist es auch zu erklären, dass 15 Prozent der Befragten angaben, dass sie bei psychischen Angriffen durch Schüler nichts unternommen haben. Erfolgte der psychische Angriff durch Eltern, geben sogar 35 Prozent der befragten Lehrkrafte an, den Vorfall nicht gemeldet zu haben. Beckmann kommentiert: „Gewalt gegen Lehrkräfte wird zum Privatproblem erklärt. Fehlende Unterstützung der Verantwortlichen, Zweifel an der Erfolgsaussicht und die Angst vor Konsequenzen verhindern die konsequente Meldung und Verfolgung von psychischen und physischen Angriffen. Der Dienstherr muss sich schützend vor und vor allem unterstützend hinter die Lehrkräfte stellen.“

Immerhin: Die große Mehrheit von 81 Prozent der Betroffenen hat sich nach einem psychischen Angriff durch die Kollegen ausreichend unterstützt gefühlt, 62 Prozent sagen dies von der Schulleitung.

Beckmann forderte, dass Vorfälle künftig verpflichtend dokumentiert werden und Statistiken zur Gewalt in Schulen veröffentlicht werden müssten. Lehrer müssten auch besser von Schulbehörden unterstützt werden. Angesichts der steigenden Herausforderungen wie etwa Inklusion und Integration müssten Schulen in multiprofessionellen Teams mit Sonderpädagogen, Psychologen und Sozialarbeitern zusammenarbeiten. Auch ein Schulkodex mit klaren Regeln könne helfen, Gewalt vorzubeugen.

Allerdings würden diese Gelingensbedingungen, so Beckmann, von der Politik verweigert. Während 68 Prozent der Befragten die Zusammenarbeit mit multiprofessionellen Teams als sinnvoll für die Gewaltprävention erachten, arbeiten nur 41 Prozent der Lehrkräfte so. Beckmann empört: „Das ist ein vom Bildungsministerium geschriebenes Drama, in dem die Lehrkräfte fünf Rollen auf einmal spielen sollen. Es besteht dringender Handlungsbedarf!“

Dass die Politik reagieren müsse, zeige sich auch an diesem Ergebnis, so der VBE-Chef: 45 Prozent der Befragten erwarten von der Schulverwaltung und 58 Prozent der Befragten von der Landesregierung und dem Schulministerium, dass sie endlich mehr unterstützt und besser geschützt werden. Aber auch an den Schulen selbst muss offenbar mehr passieren: Nur 44 Prozent der Befragten gab an, dass es an ihrer Schule einen festgelegten Ablaufplan gebe, wie bei Gewalt gegenüber Lehrkräften vorzugehen sei.

Die Gewerkschaft Erziehung und Bildung (GEW) sprach hingegen von «eher Einzelfällen», die sich vor allem an bestimmten Schulen konzentrierten. Gewalt sei nicht an jeder Schule ein generelles Problem, sagte GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann. Agentur für Bildungsjournalismus / mit Material der dpa

VBE-Umfrage: Heutzutage müssen sich Lehrer vor gewalttätigen Schülern fürchten – und manchmal auch vor Eltern

Hintergrund: An wen sich Betroffene wenden können

Gewalt unter Schülern: Davon haben viele schon gehört. Dass aber auch Lehrer zu Opfern von Gewalt an Schulen werden – darüber wird seltener gesprochen. Dabei ist es für viele Alltag. Was können Betroffene tun?

Lehrer tragen viel Verantwortung und müssen sich großen Herausforderungen stellen – große Klassen und Schüler mit unterschiedlichen Bedürfnissen gehören dazu. Eine Umfrage hat jetzt gezeigt, dass ein Viertel der befragten Lehrkräfte in Deutschland bereits Opfer von psychischer Gewalt geworden ist, sechs Prozent gar von körperlicher Gewalt. Fragen und Antworten dazu, was Lehrer in so einer Situation tun können und was sie wissen müssen:

Was gilt, wenn Lehrer sich gegen physische Gewalt verteidigen wollen?

Wie jeder andere, hat ein Lehrer das Recht, sich gegen Angriffe zu verteidigen. «Wer angegriffen wird, darf in der Weise reagieren, dass er den Angriff erfolgversprechend abwehrt», sagt der Rechtsanwalt Rolf Tarneden aus Hannover, der sich unter anderem auf Schulrecht spezialisiert hat. Die Verteidigung muss aber immer in angemessenem Verhältnis zum Angriff stehen, und der Lehrer müsse dabei nicht aus Rücksicht auf den Schüler verschiedene Verteidigungsstrategien ausprobieren. Wird ein Lehrer zum Beispiel von einem Erstklässler angegriffen, muss er beachten, dass der Schüler viel schwächer ist als er. Man dürfe nicht «mit Kanonen auf Spatzen schießen», warnt Tarneden. Auch das ergibt sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der immer gilt.

Wie sollten sich Lehrer verhalten, nachdem sie Opfer von Gewalt geworden sind?

«Nicht einfach runterschlucken, das ist ganz gefährlich», warnt Christian Otto. Der Sozialpädagoge aus Düsseldorf bietet bundesweit Deeskalationstrainings zum Thema «Gewalt am Arbeitsplatz» an. Ob körperliche oder psychische Gewalt: Otto empfiehlt, diese Erfahrung psychologisch nachzuarbeiten. «Da können noch Jahre später Traumata auftreten.» Meist werden Schüler erst gewalttätig, wenn sie sonst nichts zu verlieren haben, wie Otto vermutet. Auch das sollten sich Lehrer immer vor Augen halten – besonders wenn sie unter dem Gefühl, Opfer geworden zu sein, leiden oder sich zu Unrecht dafür schämen.

An wen können Lehrer sich in einer solchen Situation wenden?

Zunächst sollten Lehrer sich an die Schulleitung wenden, rät Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Dort sollten sie darum bitten, dass die Schulaufsicht eingeschaltet wird. «Solche Fälle dürfen nicht totgeschwiegen werden», warnt Beckmann. Es dürfe nicht zum Privatproblem der betroffenen Lehrer werden, die offensiv Hilfe einfordern sollten.

 

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Küstenfuchs
7 Jahre zuvor

Gewalt gegen Lehrer muss IMMER spürbare Konsequenzen für den Schüler haben. Was auf keinen Fall sein darf, sind Schulleitungen, die in Sorge um den Ruf der Schule dies nicht unterstützen.

sofawolf
7 Jahre zuvor
Antwortet  Küstenfuchs

Volle Zustimmung, Küstenfuchs.

Solche Schulleitungen gibt es tatsächlich. Als Referendar wurde ich mal von einer Schülerin, die einen für sie schlecht ausgefallenenTest zurückerhielt, „Penner“ beschimpft. Oder Wichser? Weiß nicht mehr. Die Direktorin fragte als Erstes: „Hat das Herr XY gehört?“ (der Studienleiter) Als ich sagte, ja, meinte sie, dann müsse sie einen Tadel bekommen.

xxx
7 Jahre zuvor
Antwortet  sofawolf

Mit anderen Worten: Wenn nein, dann wäre nichts passiert, weil ein Referendar kein Lehrer ist, sondern nur eine sehr billige Arbeitskraft ohne eigene Persönlichkeitsrechte. Den Tadel hätte die Direktorin für die mehr als unangebrachte Frage selbst verdient.

sofawolf
7 Jahre zuvor

Ob daraus (Aussage im Artikel) die „Unattraktivität“ des Lehrerberufs resultiert?

Wie wollen dann Gewerkschaften, Berufsverbände und Politiker die Attraktivität wieder erhöhen? Mit Gehaltserhöhungen?!? 😉

sofawolf
7 Jahre zuvor

Und noch ein Tipp:

In 2 Fällen durften Lehrer zumindest bisher selbst „gewalttätig“ werden.

(1.) Wenn ein Lehrer angegriffen wird und sich dem anders nicht mehr erwehren kann, als selbst gewalttätig zu werden.

(2.) Um einen Schüler vor Gewalt zu schützen und dies anders nicht mehr möglich ist, als selbst gewalttätig zu werden.

Die Crux liegt natürlich dann darin, nachzuweisen, dass andere Mittel nicht möglich waren.

xxx
7 Jahre zuvor
Antwortet  sofawolf

Zum „gewalttätig“ ein sehr subjektiver Begriff ist, der je nach Anwalt gegnerischen Seite und Rückhalt durch die Schulleitung bzw. das Dezernat leicht zum Problem für den Lehrer werden kann.