BERLIN. Der PISA-Schock vor 15 Jahren gehörte für das deutsche Schulsystem respektive die Schulsysteme der deutschen Bundesländer zu den einschneidensten Ereignissen der letzen Jahre. Seither hat sich eine wahre Reformwelle über die Schulen ergossen, mit teilweise respektablen Ergebnissen. Am Dienstag kommen nun die Ergebnisse der mittlerweile sechsten Erhebungswelle heraus.
Der «PISA-Schock» sitzt vielen Eltern, Lehrern und Bildungspolitikern bis heute in den Gliedern. Bei der Premiere der großen OECD-Schulvergleichsstudie zu Mathematik, Naturwissenschaften sowie Lese- und Textverständnis erlebten Deutschlands 15-Jährige 2001 ein Fiasko, das mit den damals noch miesen Ergebnissen des Fußball-Nationalteams vergleichbar war. Danach ging es auch bei PISA zaghaft, aber stetig bergauf. Doch vor der nächsten Präsentation am Nikolaustag gibt es Warnsignale.
Am Dienstag stellt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aktuelle Ergebnisse vor. 10 000 Mädchen und Jungen aus Deutschland starteten im Mai 2015 von einem soliden Platz im oberen Mittelfeld in die Tests. Die Bildungspolitik hatte aus dem Debakel gelernt und bis zur Studie von 2012 Reformen umgesetzt. «In den ersten Jahren nach dem PISA-Schock ist unglaublich viel in Bewegung gekommen in Deutschland», lobt OECD-Chefkoordinator Andreas Schleicher. «Insgesamt hat diese Dynamik das Land wirklich nach vorn gebracht.»
Längst bezweifelt niemand mehr, dass PISA die deutsche Schulpolitik aus dem Tiefschlaf geweckt hat. «Davor haben wir uns zur Qualität unseres Bildungssystems doch jahrelang in die Tasche gelogen», sagt Heinz-Peter Meidinger, Chef der Lehrergewerkschaft Deutscher Philologenverband. Zwar gab es Zweifel an der OECD-Testmethodik, und moniert wurde auch, dass sich die Studie zu sehr auf den Nutzwert von Schule etwa für den Arbeitsmarkt fokussiere. Die Kultusministerkonferenz der 16 Länder (KMK) rückte von PISA-E (einer regionalisierten Vergleichstest-Aufschlüsselung) ab, blieb aber ansonsten im OECD-Boot.
Die schwachen Test-Leistungen vor 15 Jahren waren hochnotpeinlich. Die soziale Kluft im deutschen Bildungssystem indes musste jeden tief schmerzen, der sich Chancengerechtigkeit in einer demokratischen Gesellschaft auf die Fahnen schreibt. Bis heute ist das Land trotz Milliardenausgaben für seine Schulen nicht so weit wie erwünscht. Die Studie «TIMSS 2015» zu Viertklässlern zeigte soeben: Es gibt hier im internationalen Vergleich zu viele «Risikoschüler» aus bildungsfernen Elternhäusern, die früh den Anschluss verlieren; es finden sich zu wenige Leistungsstarke; Kinder von Migranten haben oft massive Probleme, im Unterricht mitzuhalten.
Einen neuen «PISA-Schock» werde es nach 15 Reform-Jahren gleichwohl nicht mehr geben, da sind sich die Experten auch nach einigen neueren, wenig berauschenden Studien einig. Philologenverbands-Chef Meidinger erwartet für Dienstag «weder einen jähen Absturz noch einen überraschenden Höhenflug». Die Fachpolitiker aus Bund und Ländern betonen, dass neue Pläne und Programme in der Schublade liegen. Man fühlt sich – bei aller Unzufriedenheit mit den fortbestehenden Mängeln – insgesamt ganz gut gewappnet. Doch TIMSS-Leiter Wilfried Bos sagt, man dürfe in Deutschland durchaus wieder «Angst haben, abgehängt zu werden».
Vor nachlassender Reformdynamik warnt schon länger Andreas Schleicher. Hierzulande sei der Schwung eher abgeflaut. Mit Bildungsinvestitionen von 4,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liege Deutschland unter dem OECD-Schnitt (4,8). Schleicher verweist gern auf asiatische Länder, wo weitsichtige Politiker, tolle Lehrer und motivierte Schüler Erfolgsgeschichten schrieben. Auf der anderen Seite stehe Frankreich noch vor «deutlich größeren Herausforderungen», sagt der Hamburger OECD-Statistiker angesichts bisheriger PISA-Desaster des Nachbarlandes. Schleichers Credo: «PISA spiegelt wider, was im Klassenzimmer passiert. Die Länder, die viel getan haben, sehen verbesserte Leistungen – und die Länder, wo wenig passiert, die sehen auch wenig Gutes.» (Werner Herpell, dpa)
2016 ist wieder ein PISA-Jahr – Schleicher: Deutschland hat seine Hausaufgaben gemacht, aber…
Und es werden wieder dieselben Ergebnisse sein, wie in den letzten Studien. Nur: warum andere Länder besser sind, können die Pisa-Verantwortlichen nicht sagen, sie spekulieren nur.
Herr Schleicher meint mit den “asiatischen Ländern” sicherlich in erster Linie den fernen und nicht den nahen Osten. Allerdings sind in Japan & co Disziplin und Fleiß hoch angesehen, hierzulande werden diese Tugenden eher belächelt.
…und vor allem steht bei der ostsiatischen Paukmentalität im Frontalunterricht restlos jedes pädagogische und didaktische Prinzip diametral entgegengesetzt zu den Überlegungen, die Schleicher selbst als Weg aus der hiesigen Pisa-Schwäche sähe.
Der eine klagt über “nachlassende Reformdynamik”, andere (wie ich) sehnen sie herbei.
Herr Schleicher kann zum tausendsten Mal sagen: “Die Länder, die viel getan haben, sehen verbesserte Leistungen – und die Länder, wo wenig passiert, die sehen auch wenig Gutes.»
Ich glaube ihm nicht und gestehe, dass ich herzlich wenig Vertrauen in die von der OECD-gesteuerten Pisa-Tests habe.
Wenn fast jeder Lehrer über die Hektik ständiger Reformen stöhnt und sich endlich nach mehr Ruhe und längere Planbarkeit sehnt, kann einfach etwas nicht stimmen mit dem Aufruf zu noch höherer Reformdynamik.
Wie gesagt: Mir fehlt das Vertrauen in etwas, das von oben angeordnet und übergestülpt wird, ohne dass die Menschen an der Basis (Schüler und Lehrer) die Besserung merken, die immer wieder auf ähnliche Weise begründet und in Aussicht gestellt wird.
Nun, der Anblick des Heldenportraits des Herrn Schleicher, lässt mich als Lehrer dann doch wieder ruhig schlafen. Ein Glück, dass mir der Artikel erklärt, dass es bei den bildungspolitischen Anstrengungen der letzten 15 Jahre tatsächlich um Bildung der Gesellschaft (denkt denn keiner an die Kinder!?!) geht und nicht etwa um Wahlkampftaktik und Sparmaßnahmen, wie böse, böse Zyniker aus unerfindlichen Gründen immer wieder feststellen.
Herr Schleicher, der im australischen Schulsystem groß geworden ist, vergisst auch grundsätzlich die australischen Rahmenbedingungen zu erwähnen. Die gemeinsame Beschulung in Australien führt eben nicht zu gleichen Abschlüssen.. Es gehen zwar alle 12 Jahre zur Schule, aber die daraus resultierenden Abschlüsse sind zwar formell gleich, inkludieren aber vollkommen unterschiedliche Berechtigungen in Hinblick auf den weiteren Bildungsweg.