Eltern wollen gemeinsames Lernen nach Klasse 4 – Schwarz-Rot will‘s nicht. Forscher kritisiert neues Schulgesetz: Chance vertan!

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DRESDEN. Am morigen Dienstag will der Landtag ein wichtiges Vorhaben der Legislatur beschließen: das neue Schulgesetz. Die Koalition lobt es, Kritiker verweisen auf ungenutzte Möglichkeiten – vor allem die verpasste Chance, eine Gemeinschaftsschule einzuführen.

Es ist zunehmend schwierig, Kinder auf Schulformen aufzuteilen, wenn immer mehr aufs Gymnasium wollen. Foto: Departement of Education / flickr (CC BY 2.0)
Es ist zunehmend schwierig, Kinder auf Schulformen aufzuteilen, wenn immer mehr aufs Gymnasium wollen. Foto: Departement of Education / flickr (CC BY 2.0)

Sachsens neues Schulgesetz ignoriert nach Ansicht des Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Melzer den Mehrheitswillen der Eltern. «Auch im Landtag gibt es eine klare Mehrheit für längeres gemeinsames Lernen. Die Dominanz der CDU und die Koalitionsdisziplin der SPD verhinderte aber eine Lösung, die sich nicht nur die meisten Menschen in Sachsen wünschen, sondern die zudem Erkenntnissen der Forschung und dem internationalen Trend entspricht», sagte er auf Anfrage. In einer aktuellen Repräsentativstudie zu diesem Thema hätten drei Viertel der Eltern ein gemeinsames Lernen über die Klasse 4 hinaus befürwortet.

«Der Elternwille ist da. Man fragt sich, warum die sächsische Union resistent bleibt. In Thüringen gibt die CDU Gemeinschaftsschulen eine Chance. CDU-Bürgermeister verteidigen diesen Kurs», sagte Melzer. Mit Kollegen hatte er die in der ersten CDU/SPD-Koalition in Sachsen (2004-2009) vereinbarten «Schulen mit besonderem pädagogischen Profil/Gemeinschaftsschulen» evaluiert und positive Ergebnisse ermittelt: «Ich frage mich, warum man uns Wissenschaftler um Begleitung bittet und Vorschläge dann nicht aufnimmt.» Im neuen Schulgesetz habe man eine Chance vertan. Die Unzufriedenheit von Eltern und Probleme würden aber bleiben. Das könnte den Schulfrieden gefährden und den Freien Schulen weiteren Zulauf bereiten.

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Melzer zufolge wird eine bessere Lösung politischem Kalkül geopfert: «Das war ein Machtpoker – nicht nur zwischen den Regierungsparteien, sondern auch mit der Opposition.» Diese habe vernünftige Vorschläge eingebracht, die leider auf der Strecke blieben: «Notwendige und mögliche Reformen ließen sich so nicht umsetzen. Bei der allgemeinen Politikverdrossenheit ist das kein gutes Signal für die Bevölkerung.» Der nun gefundene Kompromiss sei aber «besser als gar nichts». Um Schulen auf dem Lande zu erhalten, habe man es immerhin geschafft, einen jahrgangsübergreifenden Unterricht zu ermöglichen.

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Melzer führt Forschungsergebnisse für seine Argumentation gegen das frühe Selektieren von Kindern nach der vierjährigen Grundschule an. Gerade für Jungen käme das viel zu früh: «Entwicklungspotenziale kann man zu einem solch frühen Zeitpunkt nur schwer prognostizieren. Die Entscheidung hat Nebenwirkungen bis in davorliegende Schuljahre. Es wird Stress erzeugt. Eltern üben Druck aus, dem manche Kinder nicht gewachsen sind. Psychosomatische Beschwerden sind die Folgen.» In Sachsen würden derzeit 13 bis 14 Prozent der Viertklässler Nachhilfeunterricht in Deutsch und Mathematik erhalten. Eltern gäben dafür pro Jahr 4,8 Millionen Euro aus, nur um Defizite auszugleichen.

Es sei unverständlich, warum man sich in Sachsen nicht zu Nachjustierungen am Schulsystem entschließen könne, betonte Melzer. Der letzte PISA-Ländervergleich, der Sachsen ein gutes Niveau der Schülerleistungen bescheinigt, liege mehr als zehn Jahre zurück. Die Mängelverwaltung in der Lehrerversorgung sei mit Sicherheit ein Risikofaktor für die Qualität des Schulsystems. «Es geht nicht darum, das ganze System umzukrempeln. Die Errichtung von Gemeinschaftsschulen könnte aber gerade Schulen auf dem Land erhalten und wäre in der Stadt eine gute Ergänzung», erklärte der Professor.

Melzer plädiert für ein optionales Modell, das auf dem Willen der Eltern und dem Konsens mit dem Schulträger beruht und als moderate Ergänzung zum jetzigen System dient: «Keine gesellschaftliche Gruppe, die andere Vorstellungen von Bildung hat, darf benachteiligt werden.» In seinen Studien seien Schulen mit gemeinsamen Unterricht von Klasse 1 bis 10 besonders erfolgreich gewesen. Aber auch andere Modelle wären denkbar und müssten den regionalen und lokalen Besonderheiten angepasst werden, sagte Melzer. Chancen auf das Abitur könnten durch Wechselmöglichkeiten aufs Gymnasium ermöglicht werden. dpa

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sofawolf
6 Jahre zuvor

Sag ich doch: Für Volksabstimmungen treten immer nur die ein, die die Mehrheit hinter sich wissen.

Wer die Mehrheit nicht hinter sich hat, nennt das dann „Stammtischparolen“.

Je nach Bedarf – unsere Politiker !

Küstenfuchs
6 Jahre zuvor

Das Problem dieser Volksabstimmungen ist doch auch in diesem Artikel offensichtlich: Es wird mit sogenannten „alternativen Fakten“ argumentiert. Erziehungs“wissenschaftler“ wie dieser Wolfgang Melzer sind das beste Beispiel: PISA-Ergebnisse werden als zu alt bezeichnet, weil sie nicht ins Bild passen.

Weiter aus dem Artikel: “ In seinen Studien seien Schulen mit gemeinsamen Unterricht von Klasse 1 bis 10 besonders erfolgreich gewesen.“
Worin sind sie erfolgreich? Wo hat er diese Studien gemacht und vor allen Dingen: Was war denn die Vergleichsgruppe? Hauptschulen? Gymnasien? In welchem Bundesland denn, in Sachsen ja wohl eher nicht?
Das ist genau ein daher geschwafelter Unsinn wie der deutsche Schulpreis, wo die Hamburger Preisträger aus 2015 bei der Vorabipleite in Mathematik extrem schlecht abegschnitten haben. Sind tolle Schulen, doch den Schülern bringen sie nichts bei.

xxx
6 Jahre zuvor
Antwortet  Küstenfuchs

Die Schüler haben an solchen Schulen bestimmt eine für sie tolle Schulzeit mit ebenso zufriedenen Eltern. Bei der Ausbildung oder im Studium zählen aber gelernte Fakten. Ob diese mit oder ohne Spaß erworben wurden, spielt dabei keine Rolle — so lange sie gelernt wurden. Bei den mit Preisen ausgezeichneten Schulen spielen Spaß und Außenwirkung eine weitaus größere Rolle als alles andere.

ketzer
6 Jahre zuvor

„Zum Schuljahresbeginn in Mecklenburg-Vorpommern hat die Linksfraktion Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) ein ‚fatales Signal’ in der Bildungspolitik vorgeworfen. Anlass ist Schwesigs Schulwahl für ihr älteres Kind. Das wird zum Start der fünften Klasse jetzt an einer Privatschule unterrichtet. Die Regierungschefin umgeht damit das eigentlich auch von ihrer Partei unterstützte Konzept vom ‚längeren gemeinsamen Lernen’ an einer staatlichen Regionalschule. Dieses sieht nach der Grundschule einen mindestens zweijährigen gemeinsamen Unterricht eines Jahrgangs vor.“

https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Fatales-Signal-Kritik-an-Schwesigs-Schulwahl,freieschulen108.html

Die Linken und Grünen scheinen aber auch nicht besser: „In den wichtigsten Gremien von SPD, Grünen und Linker findet sich kaum ein Politiker, der seine Kinder auf eine Gesamtschule schickt. Im Parteivorstand der Linkspartei, unter den ersten zehn Plätzen der linken Landesliste sowie im Parteivorstand der Grünen gibt es kein einziges Mitglied, das Kinder auf der Gesamtschule hat oder früher hatte.“

https://www.welt.de/politik/nrw-wahl/article7505590/Gemeinschaftsschule-die-Bigotterie-der-Politik.html

anonymus
6 Jahre zuvor
Antwortet  ketzer

Nicht zu vergessen ist hier auch noch Karl Lauterbach, einer der Gerechtigkeitsexperten von der SPD.
Seine 4 Kinder besuchen noch oder besuchten alle eine exklusive Privatschule. Er hat allerdings eine vergleichsweise recht gute Begründung (Ausrede). Seine geschiedene Frau hat das angeblich so gewollt und er konnte dagegen nichts tun.

@Küstenfuchs und Anna
So sind sie, diese ach so aufrichtigen und ehrlichen Vertreter der etablierten Parteien im Gegensatz zu den verlogenen Rechtspopulisten.
Ihr AfD-Bashing können Sie sich beide schenken. Es prasselt überreichlich aus allen Ecken hernieder und macht nur noch überdrüssig und widerspenstig.
Wenn die AfD so schlimm ist, dann vertrauen Sie doch auf die nächsten 4 Jahre, die alles von Ihnen und anderen behauptete Übel beweisen müsste, und dann wäre Schluss mit der AfD.
Dann wäre das wenigstens ein Ende durch Beweis und nicht durch ein immer gleiches Malen des Teufels an die Wand.

xxx
6 Jahre zuvor
Antwortet  ketzer

die meisten Eltern wollen das beste für ihre Kinder. wenn das Kind eine volle gymnasiale Eignung hat, warum soll man es eine schlechtere Schulbildumg auf der Gesamtschule zumuten, die noch dazu länger dauert?

Die Inklusion ist in der gewählten Form ein Fehler, privat werden die Politiker das wohl auch glaube, beruflich hat die private Meinung aber keinen Einfluss. Da regiert der Kämmerer und das Gutmenschentum.

ein Vater
6 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Wenn Politiker privat anders handeln als öffentlich predigen und den Menschen dadurch einen Weg als vielversprechend darstellen, den sie für sich selbst und ihre Kinder ablehnen, dann ist das schlichtweg unehrlich und bewusste Täuschung.
Natürlich wollen alle Eltern das beste für ihr Kind, auch Politiker. Dann sollen sie aus parteiideologischen Gründen den Bürgern bzw. anderen Eltern aber nichts Falsches erzählen und sie zu Entscheidungen drängen, die sie selbst nicht so treffen würden.

Cavalieri
6 Jahre zuvor
Antwortet  ketzer

„… findet sich kaum ein Politiker, der seine Kinder auf eine Gesamtschule schickt.“

Der ehem. Kultusminister von Baden-Württemberg (Herr Stoch, SPD) schickte seine vier Kinder in Waldorf-Schulen. Das konnte man in der Presse lesen. Frau Löhrmann (grüne Schulminsterin in NRW, ehem. Gesamtschullehrerin) schickte ihr Kind auf ein Gymnasium. Frau Ypsilanti (SPD) machte ähnliche Schlagzeilen. Solche Meldungen gibt es regelmäßig, seit es Gesamtschulen gibt, also seit ca. 50 Jahren. Und immer gibt es die passenden Ausreden.

xxx
6 Jahre zuvor
Antwortet  Cavalieri

Warum sollen Eltern ihre Kinder auf Schulformen anmelden, die den Möglichkeiten der Kinder nicht entsprechen? Das mag den Zielen der eigenen Partei widersprechen, aber auch Politiker sind ganz normale Eltern. Über die Vorbildfunktion kann man allerdings streiten.