„Mir drohten 20 Jahre Haft“: Lehrergewerkschafterin Yilmaz musste aus der Türkei fliehen und fand in Deutschland Asyl – was sie berichtet

7

DÜSSELDORF. Sakine Esen Yılmaz ist 40 Jahre alt, türkische Staatsbürgerin, Kurdin, Lehrerin, Gewerkschafterin – und Flüchtling. Im vergangenen Jahr fühlte sich die ehemalige Generalsekretärin der Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen. Sie strandete in Deutschland und erhielt hier nun am 12. April 2017 Asyl. Zum Interviewtermin begleitet sie Süleyman Ateş, Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), einer Schwestergewerkschaft der Eğitim Sen. Er übersetzt das Gespräch.

"Die AKP bezeichnet uns als Terroristen, wie jeden, der oppositionelle Ansichten vertritt": Yilmaz im Gespräch. Foto: Tina Umlauf
„Die AKP bezeichnet uns als Terroristen, wie jeden, der oppositionelle Ansichten vertritt“: Yilmaz im Gespräch. Foto: Tina Umlauf

Frau Yılmaz, Sie sind als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Warum haben Sie die Türkei verlassen müssen?

Sakine Esen Yılmaz: Die Eğitim Sen, die Gewerkschaft, für die ich gearbeitet habe, tritt für eine laizistische, wissenschaftliche, demokratische, kostenlose Bildung ein sowie für die Erziehung in der Muttersprache. Wegen dieser Forderungen bezeichnet uns die Regierungspartei AKP als Terroristen, wie jeden, der oppositionelle Ansichten vertritt. Seitdem ich für Eğitim Sen tätig gewesen bin, wurden daher immer wieder Ermittlungsverfahren gegen mich eingeleitet, zweimal bin ich verhaftet worden.

2009 saß ich fünfeinhalb Monate in Haft, nachdem ich mit Gewerkschaftern in Izmir bei einer Protestaktion festgenommen worden war. 2012 habe ich dann in Ankara mit 72 Lehrerinnen und Lehrern demonstriert und bin erneut verhaftet worden. Danach war ich zehn Monate in Haft. Nur auf Druck internationaler Bildungsgewerkschaften, darunter die GEW, bin ich jeweils freigekommen. 2016 liefen mittlerweile sechs Disziplinar- und vier Strafverfahren gegen mich, davon war ein Urteil rechtskräftig geworden. Insgesamt hätten die Strafverfahren über 20 Jahre Haft für mich bedeuten können und da musste ich entscheiden, ob ich mein restliches Leben im Gefängnis verbringen will oder ob ich die Türkei verlasse. Da habe ich mich entschieden, die Türkei zu verlassen.

Erdoğan ließ bereits 35.000 Lehrkräfte entlassen – und die Jagd auf angebliche Putschisten geht auch nach dem Referendum weiter

Wie lange haben Sie für diese Entscheidung gebraucht?

Sakine Esen Yılmaz: Am 8. April 2016 habe ich erfahren, dass eines der Urteile aus den vier Strafverfahren gegen mich rechtskräftig geworden war. Von da an habe ich mich in der Türkei versteckt: Ich habe den Kontakt zu meinen Freunden, meinen Kolleginnen und Kollegen abgebrochen, elektronische Kommunikationsmittel wie das Handy nicht mehr benutzt, mein Aussehen verändert, meine Haare gefärbt. Und dann habe ich gewartet – in der Hoffnung, dass sich die Situation irgendwann wieder ändert, aber es hat sich nichts geändert.

Fünf Monate habe ich mich in der Türkei versteckt. Während dieser Zeit konnte ich überhaupt nichts tun, nicht einmal meine Grundbedürfnisse stillen. Ich war ein Nichts. Es wurde unerträglich und unter diesen Umständen sah ich keine Möglichkeit, mein Leben im Versteck weiterzuführen. Mit meinem Verhalten hatte ich auch das Leben der Menschen, die mich aufgenommen hatten, in Gefahr gebracht, weil ich gesucht wurde, auch das hat mich bedrückt – da habe ich meine Entscheidung getroffen. Aber ich wusste, ehrlich gesagt, nicht, wohin ich gehen soll. Seit der Verhaftung 2009 bestand für mich ein Ausreiseverbot und ich war niemals im Ausland gewesen und wusste nicht, welches Land mich aufnehmen würde, welches besser für mich wäre.

Lehrergewerkschafter müssen aus der Erdogan-Türkei fliehen – GEW warnt: Verfolgung setzt sich in Deutschland fort

Wieso haben Sie sich schließlich für Deutschland entschieden?

Sakine Esen Yılmaz: Also, im Grunde habe ich das nicht selber entschieden. Die Schlepperorganisation hat auf verschiedene Weise versucht, mich aus der Türkei zu bringen. Zuerst wollte sie mich in einem Boot nach Italien schicken; das funktionierte aber nicht. Dann wollte sie mich nach Griechenland bringen, ohne Erfolg, und letztlich ist es Deutschland geworden.

Wie sind Sie nach Deutschland gekommen?

Sakine Esen Yılmaz: Die Schlepper haben mich in einem LKW versteckt. Die Fahrt hat vier Tage gedauert. Ich wusste nicht, wohin es geht, in welchem Land ich mich gerade befinde – das war sehr anstrengend und sehr beängstigend. Mit mir im LKW war auch ein syrischer Vater mit seinen zwei Kindern und ich musste ein Kopftuch und einen langen Rock tragen, sodass es aussah, als ob wir eine Familie wären. Ich wurde als syrischer Flüchtling ohne Ausweis ausgegeben. Deshalb hatten mir die Schlepper auch verboten zu reden, wenn wir unterwegs angehalten werden.

Wie ist es für Sie weitergegangen, nachdem Sie in Deutschland angekommen waren?

Sakine Esen Yılmaz: Nach der Ankunft habe ich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft informiert; die hat mich aufgenommen und zwei Personen beauftragt, mir zu helfen: Süleyman Ateş und Manfred Brinkmann. Am 14. September 2016 hat mich Herr Ateş in eine Erstaufnahmeeinrichtung begleitet, damit ich dort meinen Asylantrag stellen konnte.

Ist Ihr Asylantrag bereits entschieden?

Sakine Esen Yılmaz: Am 12. Oktober 2016 bin ich angehört worden, danach musste ich lange warten, aber seit dem 12. April ist klar: Er ist bewilligt worden.

Das freut mich zu hören. Was ist nun Ihr nächstes Ziel?

Sakine Esen Yılmaz: Mein nächstes Ziel ist es, so schnell wie möglich Deutsch zu lernen, denn die Sprachlosigkeit ist ein sehr großes Problem. Und ich hoffe, dass ich mit dem bewilligten Asylantrag mein Leben hier neu einrichten kann. Ich möchte auch meine Ziele, für die ich schon in der Türkei gekämpft habe, weiter verfolgen und mich für eine gerechte, demokratische, friedliche Welt einsetzen, vor allem auch für die Rechte der Frauen. Wenn die Türkei irgendwann wieder über ein demokratisches Regierungssystem verfügt, dann will ich aber auch wieder zurück in meine Heimat.

"Niemand weiß, wer auf der nächsten Liste steht. Fast jeder wartet auf seine Entlassung": Sakine Esen Yılmaz, GEW-Vertreter Süleyman Ateş und Redakteurin Anna Hückelheim. Foto: Tina Umlauf
„Niemand weiß, wer auf der nächsten Liste steht. Fast jeder wartet auf seine Entlassung“: Sakine Esen Yılmaz, GEW-Vertreter Süleyman Ateş und Redakteurin Anna Hückelheim. Foto: Tina Umlauf

Seit dem Putschversuch dort im vergangenen Juli berichten Medien immer wieder, dass türkische Beamte, darunter auch Lehrer, beurlaubt oder direkt entlassen werden. Haben Sie noch Kontakt in die Türkei und wissen Sie, wie der Staat dabei vorgeht?

Sakine Esen Yılmaz: Ich telefoniere mit meinem Mann und meiner Familie, meinen Freunden, Kolleginnen und Kollegen. Dieser Kontakt besteht.

Die betroffenen Staatsbeamten, auch die Lehrer, werden vorher nicht benachrichtigt. Es werden nicht einmal Disziplinar- oder Ermittlungsverfahren eingeleitet. Mein Mann hat das erlebt; er ist auch entlassen worden. Er hat mich angerufen und gesagt, dass die Regierung eine Liste entlassener Lehrerinnen und Lehrer veröffentlicht hat und dass dort sein Name stand. Das Schlimme ist, dass diese entlassenen Staatsbeamten auch nicht woanders arbeiten können, weil die Arbeitgeber Angst vor der AKP haben und sie daher nicht einstellen wollen. Wenn ich mich mit meinen Kollegen und Freunden unterhalte, dann erzählen sie von Gerüchten, dass es neue Listen geben soll. Niemand weiß, wer auf der nächsten Liste steht. Fast jeder wartet auf seine Entlassung.

Heftiger Vorwurf: Erdogan lässt türkischstämmige Schüler in Deutschland nötigen, kritische Lehrer heimlich im Unterricht zu filmen

In so einer angespannten Situation, wie müssen wir uns das Arbeitsklima an den Schulen vorstellen?

Sakine Esen Yılmaz: Meine Freunde, Kolleginnen und Kollegen, die noch im Dienst sind, erzählen mir, dass in den Schulen absolute Ruhe herrscht. Keiner traut sich mehr, mit Kollegen zu sprechen, weil sie Spitzel fürchten, AKP-Anhänger, die dem Schulleiter beziehungsweise der Polizei Bericht erstatten. Da herrscht absolute Ruhe und Unsicherheit. Viele haben Angst.

Anzeige

Können sich die Entlassenen irgendwie zur Wehr setzen?

Sakine Esen Yılmaz: Am Anfang haben die Entlassenen noch beim Verwaltungsgericht Widerspruch eingelegt, aber das Verwaltungsgericht hat diese Widersprüche zurückgewiesen, sich als nicht zuständig erklärt. Mittlerweile haben sich Hunderttausende solcher Fälle angestaut. Die Regierung hat zwar eine Kommission gebildet, damit diese Fälle nun untersucht werden, aber es wird vermutlich mehrere Jahrzehnte dauern, bis sie fertig ist. Und das Ergebnis des Ausschusses ist ja nicht rechtlich bindend, das ist ja kein Gericht.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, an den sich einige gewandt haben, hat darauf verwiesen, dass zunächst die innertürkischen rechtlichen Prozesse zu Ende gebracht werden müssen, bevor er die Fälle untersuchen könne. Wenn er sie dann annimmt, wird es wieder Jahre dauern, bis ein Urteil fällt. Die Betroffenen haben also überhaupt keine Möglichkeit, ihre Rechte zu verteidigen. Das einzige, was sie tun können und müssen, ist, politisch aktiv zu werden.

Von jetzt auf gleich arbeitslos zu sein, ohne Chance, woanders eine Anstellung zu finden, ohne Möglichkeit, dagegen vorzugehen – das stellt die Betroffenen auch vor finanzielle Probleme. Wie gehen Ihre Freunde mit dieser Situation um?

Sakine Esen Yılmaz: Acht meiner Freundinnen haben sich zusammengeschlossen und ein Café eröffnet, um damit ihren Lebensunterhalt zu sichern und eine andere Freundin betreibt nun einen Vorspeisenladen. Die Eğitim Sen-Mitglieder, die entlassen worden sind, erhalten auch Unterstützung von der Gewerkschaft. Das ist natürlich nicht das volle Gehalt, aber wenigstens so viel, dass sie ihren Lebensunterhalt weiter bestreiten können. Viele Mitglieder anderer Gewerkschaften haben diese Möglichkeit nicht, da sich das nicht alle Gewerkschaften finanziell nicht leisten können. Manche meiner Freundinnen bieten auch ihre Nähdienste an. So geht es weiter.

Kann denn eigentlich der Unterricht in der Türkei überhaupt noch verlässlich stattfinden, wenn auf einen Schlag so viele Lehrkräfte nicht mehr unterrichten dürfen?

Sakine Esen Yılmaz: Die Bildungssituation ist besonders in kurdischen Städten schlimm. Viele Schulen sind ja sowieso schon in Polizei- oder Armeestationen untergebracht, weil die Schulgebäude zerbombt oder zerstört worden sind und nun findet in vielen dieser Orte gar kein Unterricht mehr statt. Die Lehrer dort werden massiver unterdrückt, Entlassene nicht ersetzt. In den Großstädten und Städten ist das anders. Viele der 350.000 arbeitslosen Lehrerinnen und Lehrer in der Türkei leben dort. Daher ist es einfacher, den Nachschub zu leisten.

Die Lehrerinnen und Lehrer, die neu eingestellt werden, sind das alles Unterstützer der AKP?

Sakine Esen Yılmaz: Wir wissen nicht, ob sie alle der AKP angehören, aber Bewerber müssen sowohl einen schriftlichen als auch einen mündlichen Einstellungstest bestehen. Kritische Stimmen kommen da nicht weit und die neuen Lehrerinnen und Lehrer werden lediglich befristet und unter prekären Bedingungen eingestellt. Sie können jederzeit ihre Stelle wieder verlieren, Referendare können etwa mündlich entlassen werden. Das heißt, wenn sie was Kritisches sagen oder ihre äußere Haltung der AKP nicht passt, riskieren sie ihren Arbeitsplatz – das wissen sie und das können sie sich nicht leisten. So versucht die Partei, die neuen Lehrkräfte unter Kontrolle zu halten.

Inwiefern hat sich die Arbeit der Lehrer in der Türkei verändert?

Sakine Esen Yılmaz: Im Unterricht haben vor allem nationalistische und religiöse Inhalte stark zugenommen, das war früher nicht so schlimm. In jeder Schule gibt es jetzt eine Ecke für die Märtyrer, die während des Militärputsches ermordet wurden. Auf diese Weisen sollen auch Schulen und Lehrer das Märtyrertum indirekt propagieren.

"Ich musste entscheiden, ob ich mein restliches Leben im Gefängnis verbringen will oder ob ich die Türkei verlasse.": Lehrergewerkschafterin Yilmaz. Foto: Tina Umlauf
„Ich musste entscheiden, ob ich mein restliches Leben im Gefängnis verbringen will oder ob ich die Türkei verlasse.“: Lehrergewerkschafterin Yilmaz. Foto: Tina Umlauf

Kritiker sagen, dass das Ziel des neuen Bildungsplans die Islamisierung des Schulunterrichts sei. Wie schätzen Sie das ein?

Sakine Esen Yılmaz: Also, das kann ich bestätigen, die Islamisierung des Schulunterrichts ist Teil der sunnitischen Islamrichtung und diese wurde zunehmend normalisiert. In jeder Schule sind die Lehrer beispielsweise schon seit Jahren gezwungen, eine Woche lang den Geburtstag von Mohammed zu feiern und in diesem Zusammenhang Projekte durchzuführen, auch ist der sunnitisch-islamische Religionsunterricht für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend. Als hätte das noch nicht gereicht, müssen Schulen nun auch Koranunterricht anbieten und das Leben des Mohammed unterrichten. An den Schulen gibt es nun Gebetsräume und im vergangenen Jahr ist ein neuer Erlass in Kraft getreten, nach dem alle Jugendlichen freitagnachmittags frei haben, um für das Freitagsgebet zur Moschee gehen zu können. Das war früher nicht so. Auf diese Weise werden sunnitisch-islamische Rituale in die gesamte Gesellschaft getragen. Mittlerweile gibt es über eine Million Schülerinnen und Schüler, die eine der religiösen Schulen besuchen. Selbst junge Mädchen sollen inzwischen Kopftuch tragen und der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen soll nach und nach abgeschafft werden, viele Schulen haben die Geschlechtertrennung schon umgesetzt.

Vor dem Hintergrund dieser bereits weitreichenden Entwicklungen: Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf das Ergebnis des Verfassungsreferendums in der Türkei?

Sakine Esen Yılmaz: Der 16. April war für die Türkei ein kritischer Tag. Wenn die Wähler für „Nein“ gestimmt hätten, wäre es zur Zerreißprobe für die AKP gekommen und es hätte ihre Gegner motiviert, sich weiter gegen sie zu stellen. Die Wähler haben jedoch für „Ja“ gestimmt. Nun kommen noch sehr schlimme und harte Zeiten auf die Türkei zu, denn dadurch wurde das diktatorische und kriegerische System, das ja schon vor der Wahl zum Teil bestand, normalisiert und legitimiert.

Ich würde abschließend gerne noch einmal nach Deutschland kommen: Fühlen Sie sich hier sicher?

Sakine Esen Yılmaz: Das ist eine schwierige Frage. Also, letztendlich sollte ich mich hier sicher fühlen, Deutschland ist eine funktionierende Demokratie, aber – das berichten auch die Medien immer wieder – die Türkei ist auch hier sehr stark organisiert. Es gibt ja viele türkisch-nationale Organisationen, die hier agieren und da habe ich manchmal meine Bedenken. Muss ich aufpassen, dass mich niemand erkennt, dass mir niemand was antut? Ich fühle mich nicht richtig wohl. In der Stadt Hagen war ich etwa mit Süleyman Ateş auf einer Veranstaltung, um über die aktuelle Situation in der Türkei zu berichten. Im Veranstaltungssaal waren organisierte AKP-Anhänger und haben mich als Vaterlandsverräterin beschimpft, mich erniedrigt. Am nächsten Morgen, nachdem ich in der Stadt übernachtet hatte, musste ich noch etwas besorgen und während ich unterwegs war, hatte ich auch Angst, einer von denen könnte mich verfolgen oder mir was antun.

Süleyman Ateş: Ich würde auch gerne etwas dazu sagen. Ich lebe seit 44 Jahren in Köln und habe 38 Jahre hier als Lehrer gearbeitet. Diesen Druck organisierter Türken habe ich immer gespürt. Oftmals sind sie auf mich zugekommen und haben verlangt, dass ich den türkischen Eid oder die türkische Nationalhymne oder die Werte, die wir in der Türkei vertreten, unterrichten solle. Ich habe mich gewehrt, auf meinen Lehrauftrag und die Landesvorgaben verwiesen und wurde von meinen Kolleginnen und Kollegen in der Schule und von der Gewerkschaft gestützt. Deswegen konnte ich auch standhalten. Aber ich kenne viele Lehrerinnen und Lehrer, die sind verunsichert und ängstlich. Der türkische Staat ist durch Konsulate, Moscheevereine und die Ditib in Deutschland gut organisiert und versucht, über diese seine nationalistische und religiöse Sicht durchzusetzen und demokratischen Kräfte unter Druck zu setzen. Vier türkische Konsulate haben etwa versucht, Menschen zu mobilisieren, die melden sollen, wenn Lehrer im Unterricht kritisch über die Türkei oder Erdogan sprechen. Das Schlimmste ist, dass viele Lehrerinnen und Lehrer, die davon wissen, sich nicht trauen, in der Öffentlichkeit dazu zu äußern. Das heißt, dieser Druck reicht bis in die deutschen Schulen.

Was erwarten Sie von der Politik in Deutschland?

Sakine Esen Yılmaz: Die deutsche Politik scheint sich nicht entscheiden zu können. Auf der einen Seite hat sie etwa den Auftritt des türkischen Justizministers verhindert, aber auf der anderen Seite hat sie Symbole der kurdischen Arbeiterpartei PKK verboten, die auch gegen den „Islamischen Staat“ in Syrien kämpft. Ich denke, sie versuchen, ihre Politik auszubalancieren, weil es zwischen Deutschland und der Türkei wirtschaftliche und sozio-kulturelle Beziehungen gibt. Deutschland liefert beispielsweise Waffen an die Türkei und ist mit Blick auf das Flüchtlingsabkommen zwischen den Staaten erpressbar. Dass über meinen Asylantrag so lange nicht entschieden worden ist, hängt vermutlich auch mit der unentschiedenen Haltung der deutschen Politik zusammen.

Ich erwarte von der deutschen Regierung und deutschen Politikern, auch auf Landesebene, und von der Gesellschaft, dass sie sich für die Probleme der Menschen, die hier in Deutschland leben, zuständig fühlen, dass sie konsequent verhindern, dass andere Staaten, für ihre unterdrückende Politik hier werben dürfen, dass weder der türkische Staat, noch eine faschistische religiöse Partei hier Fuß fassen kann. Deutschland hat lange geschwiegen, während sich die ultranationalistischen Grauen Wölfe und auch die Millî Görüş-Bewegung, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, hier organisierten. Die kriegen ihren Auftrag aus der Türkei von ihren Parteien und versuchen hier, das demokratische Gesellschaftsleben zu zerstören. Diese ausländischen politischen Organisationen haben in Deutschland nichts zu suchen. Sie müssen entschieden, selbstbewusst bekämpft werden und zwar sofort! Bis jetzt wurden sie entweder unterstützt oder ignoriert – das muss aufhören, das ist meine Erwartung an die deutsche Politik. Außerdem sollte Deutschland Immigranten das Gefühl vermitteln, dass es ihre Interessen vertritt, sei es sprachlich, religiös oder kulturell, damit sie sich nicht in radikale Organisationen flüchten. Natürlich müssen sie sich gleichzeitig auch integrieren – das ist überhaupt keine Frage. In Deutschland haben wir eine sehr gute Grundlage, nämlich eine auf Menschenrechten beruhende Verfassung. Auf diesem Grundgesetz basierend müssen die Menschen auf Augenhöhe aufeinander zugehen und miteinander sprechen.

Anna Hückelheim, Redakteurin der Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.

 

Hintergründe

Eğitim Sen: Die türkische Bildungsgewerkschaft vertritt die Interessen von rund 120.000 Mitgliedern und setzt sich für eine laizistische Erziehung und muttersprachlichen Unterricht an öffentlichen Schulen und gegen Privatisierungen im türkischen Bildungswesen ein.

AKP: Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung regiert die Türkei mit absoluter Mehrheit. Sie stellt mit Recep Tayyip Erdoğan den Staatspräsidenten der Türkei und mit Binali Yıldırım auch den Ministerpräsidenten.

PKK: Die Arbeiterpartei Kurdistans setzt sich für die Anerkennung der kurdischen Identität und der kulturellen Autonomie der Kurden ein – auch mit Waffengewalt. Die PKK ist als Terrororganisation in der Türkei und Deutschland verboten.

Ditib: Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion ist die größte islamische Organisation in Deutschland. Sie ist personell eng mit dem staatlichen Präsidium für Religiöse Angelegenheiten der Türkei (Diyanet) verbunden.

Millî Görüş-Bewegung: „Millî Görüş“ bedeutet „Nationale Sicht“. Die Bewegung verfolgt das Ziel, die von Menschen geschaffenen Regeln durch islamische Grundsätze zu ersetzen. Ihr können dem Verfassungsschutzbericht 2015 zufolge verschiedene Vereinigungen in Deutschland zugeordnet werden.

Die Grauen Wölfe: Als „Graue Wölfe“ bezeichnen sich umgangssprachlich laut Verfassungsschutzbericht 2015 die Anhänger der „Idealisten“-Bewegung („Ülkücü“). Sie fußt auf einer nationalistischen und rassistischen rechtsextremistischen Ideologie. Ihr Ziel ist ein ethnisch homogener Staat unter Führung der Türken. Politisch organisieren sie sich in der „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP).

 

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

7 Kommentare
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
Aslan
6 Jahre zuvor

Ich bin 1974 in Deutschland auf die Welt gekommen, bin Türke. türkischer Staatsbürger und erinnere mich gerne an meine Schulzeit. Wir haben zur Adventszeit hier auch viele schöne Erlebnisse gehabt, Adventskalender gebastelt und viele biblische Geschichten vorgelesen bekommen und teilweise nachgespielt. Wir hatten auch eine Unterrischtsfach namens „Bilblische Geschichte“. Ich fand das sehr schön, auch rückblickend und es ist nicht verkehrt daran, wenn man bestimmte Werte als Kind vermittelt bekommt.
Nun könnte ich das als Muslim natürlich bemängeln und tadeln, aber selbst meine Mutter, die jahrelang auf einer Werft in Bremen als Schweißerin gearbeitet hat, gab mir Geld damit ich mir einen Adventskalender im Supermarkt kaufen konnte. Ich bin übrigens nicht zum Christentum konvertiert, hatte auf der GO Sek II das Fach „Religion“ als Leistungskurs neben „Englisch“.

Wenn ich nun dieses Interview der:
…“Sakine Esen Yılmaz ist 40 Jahre alt, türkische Staatsbürgerin, Kurdin, Lehrerin, Gewerkschafterin – und Flüchtling. Im vergangenen Jahr fühlte sich die ehemalige Generalsekretärin der Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen. Sie strandete in Deutschland und erhielt hier nun am 12. April 2017 Asyl.“…
fallen mir als erstes die bekannten Merkmale auf, die viele Asylmigranten in Deutschland, die aus der Türkei kamen und kommen auf. Unabhängig von der Person an sich, ich habe auch keine wirkliche Meinung zu ihr persönlich, liest sich das Interview insgesamt wie ein Plädoyer für das anerkannte Asylverfahren und man kann es ihr nicht verdenken, dass sie bestimmte Stigmata aufgreift, die in Deutschland als Kriterien für Asyl paraktiziert und bewährt sind. Ich finde das allerdings nicht gut, wenn Vorgänge in der Türkei, die die Anpassung der Lebenswirklichkeit an die Traditionen und sozialen Anforderungen hier latent negativ stigmatisiert werden und insgesamt auch zu beobachten ist, dass sich etwaige Interessengruppen gerne damit bedienen, dass Ressentiments hierzulande für persönlichen Profit geschürt werden, wie bspw.:
…“ alle Jugendlichen freitagnachmittags frei haben, um für das Freitagsgebet zur Moschee gehen zu können. Das war früher nicht so. Auf diese Weise werden sunnitisch-islamische Rituale in die gesamte Gesellschaft getragen“…
Wir haben seinerzeit hier auch zu religiösen Feiertagen Unterrichtsbefreieung bekommen.
Wenn sie hierzulande kritisiert, dass es an Ostern, Sonntag und Weihnachten Schulfrei gibt, dann möchte ich die Resonanz dazu erfahren.
Ich glaube auch nicht, dass sie zufällig in Deutschland „gestrandet“ ist, sondern hier in eingebettet Strukturen aufgenommen wird. Die Kurdische Gemeinde zu Deutschland ist gesellschaftlich und politisach breit vertreten.
Und ich erlebe seit Jahren einen massiven Gesinnungsterror durch solche Interessengruppen, die mich dazu bewegen nach Möglichkeiten zu suchen aus Deutschland zu fliehen, damit ich mich der Tyrannei dieser Netzwerke entziehen, ein normales Leben führen und auch medizinische Versorgung erhalte…und meine Lebenssituation ist noch viel schlimmer hier in Bremen, mitten in Deutschland, ohne das ich mir etwas Schulden gekommen lassen habe.

Katha
6 Jahre zuvor
Antwortet  Aslan

Es war nach Veränderungen gefragt worden, die in die Richtung eines religiös-fundamentalistischen Staates weisen. Diese Frage beantwortet Frau Yilmaz, indem sie mehrere Aspekte aufzählt. Eine Bewertung dieser, etwa des freien Freitags für das Gebet, wird im Einzelnen nicht vorgenommen. Ein Vergleich mit Deutschland ist an dieser Stelle unangemessen – es gibt hier keinen Zwang, an einem bestimmten konfessionellen Religionsunterricht teilzunehmen. Schüler anderer Glaubensgemeinschaften als christlicher bekommen im Übrigen für religiöse Feste der eigenen Religion zusätzlich frei – ob das in der Türkei wohl auch so ist?

Im Übrigen hat sich Frau Yilmaz auch nichts zu Schulden kommen lassen und ich sehe kein Problem darin, in ein Land zu fliehen, WEIL man dort eine Gruppe Gleichgesinnter erwarten kann. Das würde jeder so machen.

Bernd
6 Jahre zuvor

Sie sprechen von einem „Gesinnungsterror dieser Interessengruppen“? Sie wollen wegen der kurdischen Gemeinde aus Deutschland fliehen? Worin besteht denn die angebliche „Tyrannei dieser Netzwerke“?

Worin die Tyrannei der AKP besteht, ist hinreichend belegt – und wird in dem Interview mit Frau Yilmaz eindrucksvoll anschaulich gemacht: Willkürliche Entlassungen von mehr als 100.000 Staatsbediensteten. Willkürliche Verhaftungen Tausender, darunter Wissenschaftler, Lehrer, Gewerkschafter, oppositionelle Abgeordnete. Ein Referendum, das so unfair war wie eine Wahl in Russland. In keinem anderen Land der Welt sitzen derzeit so viele Journalisten im Gefängnis wie in der Türkei.

Es geht doch nicht darum, dass türkische Schulen das Zuckerfest feiern sollen – es geht darum, dass eine islamistische und nationalistische Partei sich einen seit Atatürk laizistischen Staat (samt der Schulen) einverleibt, um ohne Opposition und Widerworte herrschen zu können.

Wenn Ihre Lebenssituation als türkischer Staatsbürger in Bremen angeblich so schlimm ist – dann gehen Sie doch zurück in die Türkei, wenn dort aus Ihrer Sicht alles prima ist. In Deutschland in Freiheit und Sicherheit zu leben und von hier aus einen Diktator wie Erdogan zu unterstützen, der die Türkei mit Staatsterror und Willkür überzieht, ist – ehrlich gesagt – erbärmlich.

Cavalieri
5 Jahre zuvor

„Aber ich kenne viele Lehrerinnen und Lehrer, die sind verunsichert und ängstlich. Der türkische Staat ist durch Konsulate, Moscheevereine und die Ditib in Deutschland gut organisiert und versucht, über diese seine nationalistische und religiöse Sicht durchzusetzen und demokratischen Kräfte unter Druck zu setzen. […] Das Schlimmste ist, dass viele Lehrerinnen und Lehrer, die davon wissen, sich nicht trauen, in der Öffentlichkeit dazu zu äußern. Das heißt, dieser Druck reicht bis in die deutschen Schulen.“
Und Ditib arbeitet mit Milli Görüs eng zusammen, einer höchst zweifelhaften Organisation (man vergleiche dazu Wikipedia):
https://www.ksta.de/politik/tuerkische-islam-verbaende-ditib-und-milli-goerues-im-schulterschluss-29949890
Mir scheint, man sollte da mal genauso hineinleuchten wie in die Aktivitäten der AfD gegen kritisch eingestellte Lehrer. Welche Drohungen die Schlimmeren sind, kann ich nicht beurteilen. Aber die der türkischen Organisationen laufen schon viel, viel länger. Umso seltsamer, dass das so wenig kritisiert wird. die Einstellung scheint zu sein: „wenn Ausländer sich gegenseitig beharken oder verprügeln, geht uns das doch nichts an.“ Und das sagen dann dieselben Leute, die strikt gegen jeden Fremdenhass sind.

Bernd
5 Jahre zuvor
Antwortet  Cavalieri

Wer sagt das? Ach, gar keiner. Nur Ihre Fantasie ist gerade spazierengegangen – und Sie haben sich gedanklich-experimentell in „Leute“ hineinversetzt, die „strikt gegen jeden Fremdenhass sind“. Soll es ja geben … Da gehören Sie ja gottseidank nicht dazu.

Cavalieri
5 Jahre zuvor
Antwortet  Bernd

Sie wollen (mal wieder) ablenken auf einen Nebenschauplatz. Es geht doch offensichtlich um ganz anderes, nämlich um die türkischen Organisationen, die Lehrer bedrohen. Haben Sie doch gemerkt, oder nicht?

Cavalieri
5 Jahre zuvor

Merkwürdig, dass diejenien, die sich mächtig darüber aufregen, wenn die AfD Lehrer unter Druck setzt, hier nicht kommentieren wollen, wenn türkische Organisationen in Deutschland Lehrer unter Druck setzen. Das ist die Einäugigkeit, die manchen Leuten nicht gefällt.
Richtig ist ja wohl beides nicht. Ich könnte mir denken, dass der „ideologische Druck“, der von Agenten der türkischen Regierung ausgeht, eher noch schlimmer ist. Und er dauert schon viel länger an als die AfD existiert.