Die Schulpolitik ist jetzt ein echtes Wahlkampfthema – was Schulz fordert und was Merkel entgegnet. Und was dahinter steckt

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Eine Analyse von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.

BERLIN. Premiere für Deutschland: Erstmals spielt das Thema Bildung – eigentlich Ländersache – im Bundestagswahlkampf eine Rolle. Gut so. Die Schulen sind zu wichtig und die Herausforderungen zu groß, um sie in einem föderalen Kleinklein zu belassen. Nebenbei steht dabei auch noch ein Postulat des Grundgesetzes auf dem Spiel.

News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek. Foto: Tina Umlauf
News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek. Foto: Tina Umlauf

Im Artikel 72 des Grundgesetzes wird die „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ zu einem Ziel der Politik erklärt – und zwar zu einem so wichtigen, dass seine Missachtung einen Eingriff in Landesrecht durch die Bundesregierung begründen kann. Der Sinn der Forderung ist leicht einzusehen: Es soll nicht sein, dass Menschen aufgrund ihrer Wohnlage sozial derart abgehängt werden, dass sie keine Chance mehr auf eine Teilhabe in der Gesellschaft haben.

Die Frage allerdings ist, ob dieser Fall nicht schon längst eingetroffen ist – in der Bildungslandschaft eben. In Essen beispielsweise (einer der am höchsten verschuldeten Städte in Deutschland) sind die Schulgebäude derart marode, dass die Schülervertretungen angesichts der miesen Lernbedingungen im Mai zu einem „Streik“ aufriefen. Die angebotene Schulverpflegung ist laut Medienberichten in der Stadt meist so schlecht, dass von den 1400 Schülern der größten örtlichen Gesamtschule zum Beispiel nur acht (!) dort essen wollen. Zum Vergleich: Die Stadt Hürth bei Köln hat ihrer örtlichen Gesamtschule gerade einen Neubau spendiert – für 40 Millionen Euro. Mit Lerninseln für jede Jahrgangsstufe, mit Differenzierungsräumen, einer „Lehrerstation“ und großzügigen Aufenthaltsbereichen. Kann ernsthaft noch von einer „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ die Rede sein, wenn die Bedingungen für die pädagogische Arbeit vor Ort sich derart krass unterscheiden? Wohl kaum.

Vermessener Anspruch

Insofern liegt SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz, der für „gleiche Bildungschancen“ eintritt, völlig richtig, wenn er ein größeres Engagement des Bundes für die Bildung einfordert – auch wenn der Anspruch vermessen ist: Chancengleichheit kann der Staat nicht bieten. Niemals wird ein Kind aus einer armen Familie identische Möglichkeiten haben, sich Bildung zu erschließen, wie ein Sprössling aus wohlhabendem Hause. Aber Chancengerechtigkeit, um‘s mal eine Nummer kleiner zu machen, wäre ja auch schon mal etwas. Würde bedeuten: Jedes Kind in Deutschland hätte einen Anspruch auf eine geistige Grundversorgung, die bei entsprechendem Einsatz eine begabungsäquivalente Bildungskarriere ermöglicht. Das, was dafür notwendig ist, hat Schulz ja richtig benannt: mehr Ganztag, mehr Sozialarbeiter in Schulen (als Synonym für ein besseres pädagogisches Unterstützungssystem für die Lehrkräfte), „moderne, schöne und helle“ Schulgebäude überall. D’accord.

Dummerweise verheddert sich der Kandidat dann aber doch wieder im Gestrüpp des deutschen Bildungsdschungels. Schulz fordert dafür nämlich die Abschaffung des „Kooperationsverbots“, was de facto bedeuten würde, der Bund darf in die Schulen der Länder hineinregieren. Die Vorhersage sei erlaubt: Mit dieser Initiative wird er scheitern.

Es ist ja bezeichnend, dass die SPD das Ende der Länderhoheit in der Bildung erst dann als Herzensthema für sich entdeckt, nachdem sie in Deutschland kaum noch Landesregierungen führt. Was die Einflussnahme von Berlin aus auf ihre jeweilige Schulpolitik angeht, sind sich beispielsweise der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann und sein christsozialer Amtskollege Horst Seehofer höchst einig: bloß nicht! Ob sich die frisch gebackene Mecklenburg-Vorpommersche Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) vom Kanzleramt (das ja womöglich weiterhin von einer CDU-Vorsitzenden geführt wird) vorschreiben lassen möchte, wieviel Lehrer sie einzustellen hat? Wohl kaum.

Die Klatsche saß

Womit wir bei Angela Merkel wären. Das Sensationelle ihres Auftritts beim großen Interview des ZDF blieb von den meisten Medien fast unbemerkt: Die Kanzlerin sprach dabei fast vier Minuten lang (von insgesamt 21) über Schulpolitik – über ein Thema also, das sie seit Jahren möglichst weiträumig umschifft.

Seit wann genau, das lässt sich datieren: Im November 2011 nämlich scheiterte die damalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan damit, ihren Parteifreunden auf dem CDU-Parteitag eine einheitliche(re) Schulpolitik in Deutschland schmackhaft zu machen, die unter anderem den Verzicht auf die Hauptschule vorsah. Monatelang hatte Schavan – mit dem Segen der Kanzlerin – öffentlich für ihr Modell getrommelt. Um dann erleben zu müssen, dass das Thema (das ursprünglich sogar das Titelthema des Parteitags hatte sein sollen) von den Länderfürsten im Süden weitgehend von der Tagesordnung geschoben wurde. Die Klatsche saß. Seitdem hielt sich Merkel bei der Schulpolitik weitgehend zurück.

Geradezu übersprudelnd

Jetzt, unter dem Druck von Schulz‘ Schulinitiative, äußerte sich die Kanzlerin im ZDF-Sommerinterview für ihre Verhältnisse geradezu übersprudelnd zum Thema. Und wartete sogar mit einer echten Nachricht auf: Sie wies Befürchtungen zurück, die Bundesregierung habe sich von dem Digitalpakt für Schulen verabschiedet. „Wir werden den Digitalpakt mit den Ländern schließen“, erklärte Merkel. Warum die in Aussicht gestellten fünf Milliarden Euro für die Ausstattung der Schulen nicht schon jetzt fließen? Die amtierende Bundesregierung sollte für die nächsten Jahre angesichts des Endes der Legislaturperiode keine Zusagen mehr machen, meinte Merkel – sie wolle das Thema aber in den künftigen Koalitionsverhandlungen auf die Tagesordnung setzen. Die Kanzlerin betonte darüber hinaus, der Bund habe auch schon milliardenschwere Zusagen für die Renovierung von Schulen in finanzschwachen Kommunen und die digitale Ausstattung der Schulen gemacht. Überhaupt: Der Etat sei in ihrer Amtszeit „mehr als verdoppelt“ worden, der Bund habe so viel Geld für Bildung und Forschung ausgegeben wie noch nie.

Soweit, so solide. Allerdings auch nicht gerade ein großer Wurf für die Bildung. Eine Zusage von 3,5 Milliarden Euro für Schulgebäude ist bei einem Sanierungsstau von geschätzten 34 Milliarden Euro bundesweit nicht wirklich paradiesverheißend. Und Antworten auf die großen Probleme in den Schulen – Inklusion, Flüchtlingskinder, Lehrermangel – lieferte Merkel auch nicht. Hier hat Schulz eigentlich mehr zu bieten: Sein „1000-Schulen-Programm“, mit dem er insbesondere Schulen in sozialen Brennpunkten besonders unterstützen will, wäre eine durchaus richtungsweisende Idee. Wenn der Sozialdemokrat sie selbst aktiver bewerben würde. Im aktuellen großen ARD-Interview war davon leider keine Rede mehr. Wahrscheinlich, weil echte Lösungsansätze dann doch schnell zu komplex für plakative Wahlkampfaussagen wären.

Wie wäre es, wenn …?

Deshalb sei hier an dieser Stelle (ich will ja nicht gewählt werden) der Faden aufgenommen – und weitergesponnen: Wie wäre es denn, wenn der Bund sich neben den Kommunen als Schulträger engagieren würde? Erfahrungen hat er damit bereits – bei den deutschen Auslandschulen nämlich, die vom Auswärtigen Amt aus verwaltet werden. Die Bundesrepublik Deutschland könnte Schulen übernehmen und diese zu Vorzeige-Einrichtungen entwickeln. Überall dort, wo finanziell schwache Städte und Gemeinden überfordert sind. Sie würde damit Kindern zu gerechten Bildungschancen verhelfen, die diese bisher aufgrund ihrer Lebensverhältnisse kaum haben. Und sie würde damit nicht in die Hoheit der Länder hineinregieren, die den schulpolitischen Rahmen ja weiterhin setzen könnten. Das Modell wäre also praktikabel. Und würde vielleicht wirklich mal ein bisschen Wettbewerb im Bildungsförderalismus anheizen, von dem die KMK so gerne spricht. Denn so manches Bundesland sähe sich durch gute Bundesschulen womöglich herausgefordert, selbst eine Schippe drauf zu legen.

Nebenbei, es entspräche auch einer zentralen Forderung des Grundgesetzes. Nochmal zur Erinnerung: Im Artikel 72 des Grundgesetzes wird die „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ zu einem zentralen Ziel der Politik erklärt. Wäre doch nicht schlecht, sich auch dran zu halten.

Hier geht es zum ZDF-Interview mit Angela Merkel.

Hier geht es zum ARD-Interview mit Martin Schulz.

 

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Wolfgang Kuert
6 Jahre zuvor

tichyseinblick.de, 29.08.2017

AUSGERECHNET
Mit SPD-Verliererländern möchte Schulz die Bildungsnation auf Trab bringen
VON JOSEF KRAUS
Di, 29. August 2017
Es bleibt zu hoffen, dass in Sachen Bildung ein Wettbewerbsföderalismus neu ausbricht und kein Kanzler in Bundestag und Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit hinbekommt, mit der Berlin 42.000 Schulen in Deutschland sagen könnte, wo es lang bzw. abwärts geht.

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@ Odd Andersen/AFP/Getty Images
Nun ja, leicht hat er es nicht, der Schulz Martin! An der Teflonkanzlerin gleitet alles ab. Und dort, wo Schulz sie „packen“ könnte, traut er sich nicht: bei den Themen Zuwanderer – irreführend alle Flüchtlinge genannt, Kriminalität, Islam, Griechenland“rettung“, explodierende Kosten bei der Umlage des „Erneuerbare-Energie-Gesetzes“ EEG (nach Insidermeinung allein 2018 ca. 40 Milliarden!)

Also weicht er auf ein sogenanntes Soft-Thema aus: auf die Bildungspolitik. Das bringt zwar Schlagzeile, aber sonst nichts. Denn weder eine Bundeskanzlerin Merkel noch ein Bundeskanzler Schulz haben hier etwas zu sagen. Und das ist gut so. Denn hätte der Bund 1969 mit seiner sozialliberalen Koalition in der Bildung etwas zu sagen gehabt, dann hätten wir jetzt deutschlandweit Bremer oder Berliner Schulverhältnisse. So aber haben sich doch wenigstens einige deutsche Länder (unionsregierte) nicht ganz in den Strudel einer nach unten offenen Anspruchsskala mitziehen lassen.

GEGENENTWURF
Für motivierende Leistungsschulen
Gerade vor diesem Hintergrund mutet es wie ein Witz an, wenn Schulz nun zusammen mit sieben SPD-Länderchefs eine „Bildungsallianz“ für bessere Bildung ankündigt. Das muss man der Reihe nach buchstabieren: mit Michael Müller (Berlin), Dietmar Woidke (Brandenburg), Carsten Sieling (Bremen), Olaf Scholz (Hamburg), Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern), Stephan Weil (Niedersachsen), „Malu“ Dreyer (Rheinland-Pfalz). Hannelore Kraft (SPD) lassen wir mal außen vor; die hat mit der Landtagswahl vom Mai 2017 auch bildungspolitisch ihre Quittung bekommen. Außen vor lassen wir zudem Baden-Württemberg, das zwischen 2011 und 2016 mit SPD-Kultusministern dafür „sorgte“, dass das vormalige Bildungs-Musterländle binnen kürzester Zeit ins hintere Drittel der Rankingskalen abrutschte.
Schauen wir uns die innerdeutschen Leistungsvergleiche an und nehmen dafür als Maßstab die innerdeutschen Ergänzungsstudien zu den Pisa-Studien (die Pisa-E-Studien). Letztere gab es übrigens nur bis 2009. In den Pisa-Studien 2012 und 2015 verzichtete man auf diese innerdeutschen Vergleiche. Warum wohl!? Für manche Länder wäre es wieder mal peinlich geworden. Was waren die Ergebnisse? Das einzige SPD-geführte Land, das bei diesen innerdeutschen Vergleichen halbwegs mithalten konnte, war Rheinland-Pfalz bei allen innerdeutschen Vergleichen zwischen 2000 und 2009 unter den 16 deutschen Ländern mit einem durchschnittlichen Rankingwert von 5,7. Bayern erzielte einen durchschnittlichen Rangplatz von 1,2 und Sachsen von 3,5. Nun aber die anderen SPD-geführten Länder mit ihren durchschnittlichen Rangplätzen: Berlin 10,7 – Brandenburg 12,2 – Bremen 15,0 – Hamburg 12,3 – Mecklenburg-Vorpommern 10,5 – Niedersachsen 10,7. Streng statistisch mögen solche durchschnittlichen Rangplätze nicht ganz wissenschaftlich sein, aber einen deutlichen Trend geben sie doch wieder.

MEHR WETTBEWERB, NICHT ZENTRALISMUS
„Bildungsgouvernante Bund“ – die letzte (Platz-)Patrone des Martin Schulz?
Wenn Bildung in Deutschland an die Wand gefahren wurde, dann vor allem in den Stadtstaaten, in Brandenburg und in Nordrhein-Westfalen. Dort hat man auf Einheitsschule (beschönigend Gemeinschafts-, Sekundar- oder Stadtteilschule genannt), auf „Abitur light“ und auf höchste Abiturientenquoten gesetzt. Um das zu begradigen, bedarf es keiner Bundeskompetenz, sondern endlich einer Vorstellung von einem kompetitiven Föderalismus, bei dem das Prinzip Wettbewerb dafür sorgt, dass sich die Schwachen an den Starken orientieren. Aber nicht – wie leider aus populistischen Gründen oft genug praktiziert – umgekehrt: die Starken an den Schwachen. Frei nach dem Motto: Warum sollen es meine bayerischen Landeskinder schwerer haben, zum Abitur zu kommen als die Altersgenossen in Berlin.
All das heißt nicht, dass die Partei Merkels bildungspolitisch viel besser aufgestellt ist. Mit Bildungspolitik hatte man in dieser Partei nämlich fast ein Jahrzehnt gar nichts mehr am Hut. Mehrere CDU-Ministerpräsidenten gaben ihr Schulministerium an die Grünen, an die SPD oder an die FDP. Ansonsten machte man in der Kultusministerkonferenz (KMK) alles mit, was die langsameren Länder vorgaben. Und auch auf Bundesebene fabrizierte die Partei der Kanzlerin Ankündigungs- und Schaufensterpolitik. Die Bildungsnation Deutschland wurde 2008 von der Kanzlerin kurzerhand zur Bildungsrepublik verkleinert; herausgekommen ist nichts. Und die CDU-Bundesbildungsministerin Wanka kündigt zwar so manches – zum Beispiel fünf Milliarden zur Förderung der Digitalisierung der Schulen – an. Aber selbst zehn Monate nach der Ankündigung vom Oktober 2016 hat ihr Finanzminister Schäuble das Geld noch nicht eingeplant, geschweige denn freigegeben.

So bleibt zu hoffen, dass in Sachen Bildung endlich ein Wettbewerbsföderalismus neu ausbricht und dass kein Kanzler in Bundestag und Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetzänderung hinbekommt, mit der der Bund den 42.000 Schulen in Deutschland sagen könnte, wo es lang bzw. abwärts geht.