Nicht bloß Mängelwesen: Lehrerin Heidemarie Brosche sieht die Stärken in den Schwächen der Schüler

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DÜSSELDORF. Zu flüchtig, zu unkonzentriert, zu mitteilsam – solche Bewertungen vermitteln Mängel und nicht selten richten sie sich an Kinder, entweder direkt oder über ihre Eltern. Gegen diese Defizitorientierung wendet sich das Buch „Mein Kind ist genau richtig, wie es ist“ von Heidemarie Brosche.

In ihrem neuen Buch wendet sich Heidemarie Brosche gegen die Defizitorientierung. Foto: Kösel-Verlag

Die Autorin, dreifache Mutter und Mittelschullehrerin in Bayern, will mit ihrer neuen Veröffentlichung Leserinnen und Leser motivieren, abwertende Zuschreibungen kritisch zu hinterfragen. Denn, so Brosches Erfahrung: „Keine dieser Bemängelungen hatte etwas zum Guten bewirkt. Im Gegenteil: Manchmal hatte das Bemühen, gegen die Schwächen anzukämpfen, den Blick auf die Stärken verstellt.“ Damit meint sie nicht nur die Schwächen, die neben den Stärken existieren, sondern auch die Stärken, die sich in den Schwächen verstecken. Diese zu identifizieren, darauf konzentriert sich die Autorin in ihrem Buch besonders.

Zwar lautet der Untertitel „Das Ermutigungsbuch für Eltern“, doch grundsätzlich richtet es sich an jeden, der sich schon einmal bei dem Gedanken erwischt hat, jemand anderes sei etwas „zu sehr“, etwa zu laut, zu aggressiv, zu dominant, zu schüchtern. Für Lehrkräfte ist das Buch vor allem interessant, da es Bestandteil ihrer Arbeit ist, Schülerinnen und Schüler zu bewerten. Dabei ist es der Autorin ein wichtiges Anliegen, nicht missverstanden zu werden. Ihr Appel: „nicht abwerten, aber auch nicht verhätscheln!“

Wie es sich anfühlen kann, immer auf dem Prüfstand zu stehen, zeigt der nachfolgende Auszug aus „Mein Kind ist genau richtig, wie es ist“:

Immer auf dem Prüfstand – ein Gedankenexperiment
Von  Heidemarie Brosche

Ich empfehle an dieser Stelle ein kleines, reizvolles Gedankenexperiment für uns Erwachsene: Stellen wir uns einfach mal vor, man ginge mit uns um wie mit unseren noch nicht erwachsenen Kindern – wir stünden also den ganzen Tag auf dem Prüfstand:

  • Zu spät aufgestanden und in Hetze geraten? Vielleicht sogar eine Minute zu spät zur Arbeit gekommen? Hier ist wohl jemand zu undiszipliniert, vielleicht auch zu unstrukturiert oder einfach zu unpünktlich!
  • Am Morgen dem Partner eine nicht so nette Antwort gegeben? Zu respektlos!
  • Während der Arbeit ein Schwätzchen gehalten? Zu kommunikativ!
  • Während der Arbeit an das letzte Wochenende oder den nächsten Urlaub gedacht? Zu verträumt!
  • Beim Betreten der Bäckerei das Grüßen vergessen? Zu unhöflich!
  • Mit hängenden Schultern durch den Tag geschlichen? Zu wenig Körperspannung!
  • Der Freundin schon wieder eine Verabredung abgesagt?  Zu unzuverlässig!
  • Während der Erzählungen des Partners geistig abgedriftet? Zu unkonzentriert!
  • Gleich nach dem Abendessen vor dem Fernseher niedergesunken? Zu bequem!
  • Trotz Müdigkeit nicht ins Bett gegangen? Zu undiszipliniert! Zu unausgeschlafen!

Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen …

Heidemarie Brosche ist Mittelschullehrerin und Autorin. Foto: Andreas Brosche

Haben Sie es beim Lesen gespürt? Wie es sich anfühlt, wenn alle eigenen Handlungsweisen von außen kritisch beäugt und bewertet werden? Stellen Sie sich vor, Sie müssten jetzt auch noch damit rechnen, dass diese abwertenden Urteile vorwurfsvoll an einen Ihnen nahestehenden Menschen herangetragen werden, an Ihren Partner, Ihre Freundin … Und der oder die würde dann den Vorwurf an Sie weiterreichen: „Ich habe gehört, du bist zu unzuverlässig!“, „Du bist einfach zu bequem, sagt dein Chef!“, „Du stehst zu krumm, hat mir deine Fitnesstrainerin mitgeteilt!“

Spüren Sie, welche Gefühle nun zusätzlich entstehen? Fühlt es sich bei Ihnen auch an wie eine Mischung aus Scham, Trotz und Wut? Bewirkt die gefühlte Abwertung irgendetwas Gutes in Ihnen?Es ist unsere Aufgabe als Erziehende, unseren Kindern auf den rechten Weg zu helfen. Aber ob der durch Dauerbeanstandungen gefunden wird? Noch einmal: Welche Gefühle wurden durch das Gedankenexperiment in Ihnen ausgelöst? Selbst wenn wir davon ausgehen, dass Kinder und Jugendliche mehr als Erwachsene Rückmeldungen auf ihr Verhalten brauchen, um zu erfahren, wie sie von anderen wahrgenommen werden, und um ihr eigenes Verhalten zu überprüfen beziehungsweise zu verändern, ist der Wert von Negativ-Rückmeldungen zweifelhaft. Noch dazu, wenn sie nicht wegweisend, sondern abwertend wirken.

Vielleicht sollten wir uns alle einmal fragen: In welcher Hinsicht war ich selbst früher zu …? Habe ich mitbekommen, dass eines meiner Geschwister, meiner Verwandten, meiner Freunde als zu … galt? Und vor allem: Haben die Bemängelungen etwas gebracht? Bin ich selbstbewusster geworden, weil man mich als zu schüchtern bezeichnete? Ist mein Cousin fleißiger geworden, weil man ihn zum größten Faulpelz der Großfamilie kürte? Hat sich meine beste Freundin ihre Wutausbrüche deshalb abgewöhnt, weil man ihr immer und immer wieder unter die Nase rieb, sie verhalte sich manchmal zu aufbrausend?

Informationen zum Buch
Mein Kind ist genau richtig, wie es ist. Das Ermutigungsbuch für Eltern
Autorin: Heidemarie Brosche
Kösel-Verlag, 192 Seiten, 16,99 Euro

Titelbild: Departement of Education / flickr (CC BY 2.0)

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