50 Jahre 1968: „Im Rausch verrückter Selbstüberschätzung“ – der Politikwissenschaftler Götz Aly erinnert sich

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BERLIN. Die 68er wollten alles anders machen als ihre Eltern – dabei seien sie ihnen in mancherlei Hinsicht ziemlich ähnlich gewesen, sagt der Journalist, Politikwissenschaftler und Historiker Götz Aly: „Es gibt Parallelen zur nationalsozialistischen Studentenbewegung.“  Aly,  der für seine Holocaust-Forschung anderem den Ludwig-Börne-Preis erhielt, muss es wissen: Er war selbst an den Protesten vor 50 Jahren beteiligt. Sein Buch «Unser Kampf: 1968 – ein irritierter Blick zurück» löste 2008 eine heftige Kontroverse aus. 

In der Schule von Auschwitz erfahren: Götz Aly. Foto: Dontworry / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Wenn Sie heute an diese Zeit zurückdenken, was kommt Ihnen dann in den Sinn?

Aly: Ich bin Jahrgang ’47, also ein typischer 68er, und zuletzt in München zur Schule gegangen. Dort schob man sich unter der Bank schon mal einen Raubdruck von Wilhelm Reichs «Die Funktion des Orgasmus» zu. Damals konnte man damit in Bayern noch Lehrer provozieren. Dann erinnere ich mich an die sehr schnellen Steigerungen: Notstandsgesetze, der Polizeimord an Benno Ohnesorg, der Mordanschlag auf Rudi Dutschke, die dann folgenden Demonstrationen mit zwei Toten, die ebenfalls die Polizei auf dem Gewissen hatte.

Und dann gerieten Sie mitten in den Berliner Sturm.

Aly: Ja. Nach der Journalistenschule in München kam ich als Volontär der dpa in die Außenredaktion in Berlin und begann parallel zu studieren. Anfangs war ich ein ganz normaler bürgerlicher Student, habe mich dann aber sehr schnell radikalisiert.

Sie haben eine Nacht in Polizeigewahrsam verbracht.

Aly: Wir wollten auf der Grünen Woche Anfang 1969 den Griechenland-Stand boykottieren, um gegen die dortige Militärdiktatur zu protestieren, wurden aber sofort von zivilen Polizisten abgegriffen und weggesperrt. Wenn ich zurückdenke und die Berliner Polizei mit der damaligen vergleiche, dann hatten die Frontstadtpolizisten von damals etwas sehr Nazihaftes. Da wirkte die Gewalt des Zweiten Weltkriegs nach.

Hatten Sie damals das Gefühl «Wir machen Revolution»?

Aly: Wir sind sehr schnell in einen deutsch-romantischen Rausch nachgerade verrückter Selbstüberschätzung geraten. Das unterschied die deutschen 68er von ihren französischen oder US-amerikanischen Altersgenossen.

Sie haben die These aufgestellt, dass die deutsche 68er-Bewegung selbst noch ein Widerschein der Nazizeit war. Ist das nicht überzogen?

Aly: Wenn Sie wie ich 1947 geboren sind, dann haben Sie eine 95-prozentige Chance, dass Ihr Vater bei der Wehrmacht gewesen ist und schreckliche Gewalttaten selbst begangen oder zumindest miterlebt hat und am Ende auch selbst nur knapp entkommen war. Ein Drittel der damaligen Väter ist Mitglied der NSDAP gewesen, die Mütter waren in Bombennächten traumatisiert worden. Folglich wuchs die erste Nachkriegsgeneration in einer eigentümlichen Kälte auf, in eingeeisten Verhältnissen. Wobei ich heute glaube, dass das nach diesem allein von Deutschen verursachten mörderischen Krieg und der selbstzerstörerischen Niederlage Deutschlands gar nicht anders sein konnte.

Sie sprechen in Ihrem Buch von einem «Heilschlaf», in den die deutsche Gesellschaft verfallen sei. Das klingt beschönigend.

Aly: Was bitteschön hätte die Generation-Sieg-Heil denn tun sollen? Ihre Verbrechen waren so unfassbar, dass man sich ihnen nicht sofort stellen konnte. Es bedurfte zunächst einer Art von therapeutischem Koma. Das sah Konrad Adenauer sehr richtig.

Aber haben nicht gerade die 68er wesentlich dazu beigetragen, dass Deutschland aus diesem Koma erwacht ist?

Aly: Das hatte vorher begonnen. Ich habe – auf Anordnung des bayerischen Kultusministeriums – als 17-Jähriger in der Schule Filme mit den Leichenbergen in Auschwitz, Bergen-Belsen und Buchenwald gesehen. Beim Abendessen wurde ich dann gefragt: «Na, wie war’s in der Schule?» Und da habe ich geantwortet: «Ach, interessant.» Tja, und als dann die Aufforderung folgte «Erzähl doch mal!», da hab ich losgelegt. Die Eltern sind erstarrt. Ich: «Das habt ihr doch gewusst?!» Die haben 1964/65 nicht mehr damit gerechnet, mit dieser Vergangenheit noch einmal konfrontiert zu werden. Das hat sich damals in Zehntausenden deutschen Familien ähnlich abgespielt.

Und diese Diskussion haben die 68er in die Öffentlichkeit getragen.

Aly: Nein! Das war vorher geschehen, etwa durch den Auschwitz-Prozess und immer mehr ähnliche Schwurgerichtsverfahren zu den deutschen Gewaltverbrechen. Davon waren wir 68er überfordert. Wir haben sehr schnell aufgehört, uns mit dem konkreten, mit lauter deutschen Familiennamen behafteten Nationalsozialismus zu beschäftigen und stattdessen «den Faschismus» bekämpft. Dieser Faschismus galt uns als weltweites Phänomen: Er hauste in Teheran beim Schah von Persien, in Washington bei den Vietnamkriegern, in Saigon, in Südafrika. Wir projizierten unsere nationalgeschichtlichen Traumata auf andere und verlegten sie in sichere Entfernung – immer mindestens 6000 Kilometer weit weg.

Demnach hätten die 68er also auch verdrängt?

Aly: Natürlich. Wahrscheinlich blieb uns nichts anderes übrig. Logischerweise trugen wir erhebliche Reste des alten Gifts noch in uns, weil wir überwiegend von Ex-Nazis, bestenfalls Neo-Demokraten erzogen worden sind. 1968 schwitzten wir den alten Dreck sozusagen aus. Das roch nicht gut, musste aber sein. All das ist geschichtlich verständlich. Ich finde es nur falsch, daraus im Nachhinein eine Heldentat zu machen.

Sie haben Ihrem Buch ja sogar den polemischen Titel «Unser Kampf» gegeben.

Aly: Das bot sich an. Das Wort «Kampf» war die zentrale Vokabel der deutschen 33er und der 68er. Es gibt durchaus Parallelen zur nationalsozialistischen Studentenbewegung: das Anti-Bürgerliche, das Niederschreien Andersdenkender, der Antiliberalismus, der totalitäre Glaube an eine angeblich gute Sache, die Hinwendung zum einfachen Volk… In meinem Buch «Unser Kampf» führe ich das genau aus. Auch fühlten sich unsere wenigen jüdischen Professoren sehr schnell an 1933 erinnert.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass es eher die Generation von Helmut Kohl gewesen sei, die die liberale Gesellschaft in Deutschland vorangebracht habe. Also die um 1930 Geborenen, die selber nicht mehr oder kaum noch im Krieg gewesen ist.

Aly: Ja, die entscheidenden Impulse zur Liberalisierung der jungen Bundesrepublik kamen aus dieser Generation. Dazu zählten zum Beispiel Erhard Eppler, Christian Graf von Krockow, Alexander Schwan, Hans-Dietrich Genscher oder Heiner Geißler. Die haben die wesentlichen Veränderungen und Reformen ins Werk gesetzt. Wir waren die erste Generation, die von diesen neuen Freiheiten profitierte, vom Ausbau des Bildungssystems und vom Wohlstand.

Aber kann man wirklich so weit gehen, den 68ern gar keine Verdienste anzurechnen? Auch nicht bei der Emanzipation, der antiautoritären Erziehung, der sexuellen Befreiung?

Aly: Sexuelle Befreiung ist kein eindeutig positiver Begriff. Wir, genauer die Frauen, waren schlicht die Ersten, die über die Pille verfügten. Das war kein eigenes Verdienst. Allerdings gab es unter den 68er-Männern den durchaus praktizierten Spruch «Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment». Derartiges bezeichnet man heute mit Recht nicht als emanzipatorisch.

Dennoch haben die 68er die Bundesrepublik doch nachhaltig geprägt, egal wie man nun zu ihnen steht.

Aly: Aus den Zerfallsprodukten der 68er hat sich sicherlich auch Vernünftiges ergeben: Ich denke an die emanzipatorischen Bewegungen von Frauen und Homosexuellen, an Hausbesetzungen, die ganze Stadtteile vor dem Abriss bewahrt haben, an die Gründung der «taz» und auch der Grünen. Aber das waren sekundäre Entwicklungen, die möglich waren, nachdem zum Beispiel Joschka Fischers Gruppe «Revolutionärer Kampf» an staatlicher und gesellschaftlicher Gegenwehr gescheitert war.

Ihr Buch war vor zehn Jahren ein Skandal. Wie sind die Reaktionen heute?

Aly: Es gibt nach wie vor Leute, die mich seither nicht mehr grüßen. Dafür grüßen mich andere. Aber von den 68ern unter meinen Lesern sagt etwa ein Viertel: «Ja, hier wird mir etwas erklärt über mein Leben, in diesem Buch erkenne ich mich wieder.» Dafür hat sich’s allemal gelohnt.

 Interview: Christoph Driessen, dpa

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Axel von Lintig
6 Jahre zuvor

Danke für den sehr informativen Beitrag,deckt dieser sich doch mit den Erfahrungen meiner Mutter,Jahrgang 1931, die während der Studentenrevolte um 1968 zügig ihr Lehramtsstudium durchziehen musste und miterlebte, wie Professoren ,die im SS-Staat mit Berufsverboten belegt waren, nun von einem tobenden Mob niedergebrüllt wurden und Vorlesungen ausfielen.
Es entsprach genau der oben skizzierten Situation.
Nur hat ein großer Teil dieser Bewegung auch gute Tugenden über Bord geworfen und stellte alles in Frage.Wir wurden dagegen von unseren Eltern aus deren eigener Erlebniswelt heraus erzogen und aufgeklärt.Mein Vater wurde mit 17 noch zum Militärdienst gezogen,musste als 15 Jähriger zum Flakdienst mit russischen Kriegsgefangenen als Helfer.
Die hatten für die 68er nicht viel Verständnis,da sie ganz andere Zeiten erlebt hatten und die neu gewonnenen Freiheiten zu schätzen wusste,aber auch ihre Pflichten kannten.