Selbst entscheiden, wann die Schule startet – Schulen berichten vom „offenen Anfang“

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KASSEL/WIESBADEN. Wann morgens die Schule beginnen sollte ist unter Schlafforschern, Pädagogen, Eltern und Lehrern umstritten. Eine passende Lösung für Alle ist nicht in Sicht. Einige hessische Schulen testen nun flexible Modelle. Die ersten Erfahrungen scheinen positiv.

Eigentlich könnte der 13-jährige Julian noch im Bett liegen. Stattdessen sitzt er um kurz nach 8 Uhr im Klassenzimmer und lernt Französisch – freiwillig. Julian ist nicht allein: Len (11) und Sophia (12) pauken einen Tisch weiter Vokabeln. Sie sind freiwillig hier, versichern die Jugendlichen. Bei Fragen hilft Lehrerin Martina Schalles. Der entspannte Start in den Schultag hat an der Kasseler Reformschule sogar einen eigenen Namen: «Früben» – die Kurzform für freies Üben.

An der nordhessischen Schule mit 550 Schülern wird seit dem Sommer der «offene Anfang» getestet. Der Unterricht beginnt hier viermal die Woche erst um 8.35 Uhr. Was die Schüler vorher machen, bleibt ihnen überlassen: ausschlafen, Aufgaben machen, frühstücken oder eben «Früben». Auch für Förderkurse ist Zeit. Das Ergebnis ist verblüffend: Anfangs habe es im Kollegium noch Befürchtungen gegeben, dass kaum ein Schüler kommt oder trotz des späteren Schulbeginns zu spät kommt, sagt Berit von Carlowitz, eine von fünf Lehrerinnen und Lehrern, die das Konzept entwickelt haben.

Ausschlafen unter der Woche, für viele Schüler ein Traum. Foto: sweetlouise/pixabay (CC0)
Ausschlafen unter der Woche, für viele Schüler ein Traum. Foto: sweetlouise/pixabay (CC0)

Doch erste Erfahrungen zeigen: Rund die Hälfte der 150 betroffenen Schüler nimmt das Angebot wahr. Ganz ohne Regeln geht es aber nicht. Einmal pro Woche ist «Früben». Und wer dabei stört, wird ermahnt. Ein Baustellenhütchen versperrt ab acht Uhr die Treppe zu den Klassenzimmern. Das soll Unruhe durch Nachzügler verhindern. Die können in der Kantine lernen oder spielen. Auch hier betreut ein Lehrer die Jugendlichen.

Der «offene Anfang» hat viele Schüler und Lehrer überzeugt. Lehrerin Martina Schalles formuliert es etwas vorsichtiger, weil eine Auswertung des Versuchs noch läuft: «Es gibt eine Tendenz für das Beibehalten des offenen Anfangs.» Was die Beteiligten bemerken: Der Start in den Schultag sei entspannter, weniger Schüler kommen zu spät, die Selbstständigkeit der Jugendlichen werde gestärkt.

In Wiesbaden testet man ein ähnliches Modell. An der Alexej von Jawlensky Schule startet der reguläre Unterricht um 08.30 Uhr – also deutlich später als an vielen anderen Schulen. Vorbild für das Konzept sind die Niederlande, aus denen die Familie von Schulleiterin Elvira van Haasteren stammt. «Die meisten Schüler finden den späteren Start toll», sagt die Pädagogin. Vor allem viele Mädchen träfen sich schon vor dem Beginn der Unterrichtsstunden an der Schule, die Gebäude sind ab 7 Uhr geöffnet.

«Die Kinder kommen dann langsam an, spielen noch mit dem Sekretariatshund oder bereiten sich auf den Tag vor», sagt van Haasteren. Bei den älteren Jungs sehe es meist etwas anders aus, die seien nicht früher da. Das hat nach Einschätzung der Direktorin mit der Pubertät zu tun, wenn sich der Biorhythmus verändert und das Aufstehen schwer fällt.

In der Jawlensky-Ganztagsschule ist der Unterricht in drei 90-Minuten-Blöcke pro Tag eingeteilt und läuft bis 14.30 Uhr. Danach gibt es Arbeitsgruppen bis 16.30 Uhr. Braucht ein Kind besonderen Förderunterricht, ist dafür morgens ab 7.45 Uhr Zeit.

«Der spätere Beginn ist sehr entspannend, es war für uns ein Grund, die Schule auszuwählen», sagt Britta Faßbinder-Lotz, die einen Sohn in der 9. Klasse hat. Auch Nicola Sachs, Mutter einer 13-Jährigen, sagt: «Ich finde das sehr angenehm, die Kinder gehen entspannt aus dem Haus.» Auch nach dem Schulschuss um 14.30 Uhr sei noch genügend Zeit für Hobbys. Das betont auch Faßbinder-Lotz, allerdings müssten dazu Schule und Vereine am besten eng zusammenarbeiten.

Es sei manchmal ärgerlich, nachmittags noch nicht frei zu haben, sagt Schulsprecher Joshua Laubinger aus der 10. Klasse. Den etwas späteren Start in den Schultag fänden jedoch alle Schüler sehr gut. Manche schliefen eine halbe Stunde länger, andere träfen sich vor dem Unterricht noch mit Freunden oder machten die Hausaufgaben fertig.

Dass Schulen in Hessen eigene Modelle testen, ist kein Problem: «Der Unterrichtsbeginn ist an Schulen in Hessen nicht zentral festgelegt», sagt Stefan Löwer, Sprecher des Kultusministeriums. Die Schulen könnten eigenständig darüber entscheiden – sofern eine Betreuung der Jugendlichen gewährleistet sei.

Der Chronobiologe Horst-Werner Korf vom Institut für Anatomie in Düsseldorf sieht im späteren Schulbeginn den «Weg in die richtige Richtung». Nach der Pubertät entwickelten sich bei Menschen sogenannte Chronotypen: Vor allem bei Männer sei dabei die Eule sehr ausgeprägt. «Die Eule ist morgens nicht so leistungsfähig», sagt er. Versuche in Großbritannien hätten gezeigt, dass ein später Schulanfang die Leistungen dieses Chronotypen steigern könnten. Korf plädiert daher für einen späteren Schulanfang an deutschen Schulen – der allerdings weiter wissenschaftlich untersucht werden müsse. (Andrea Löbbecke und Göran Gehlen, dpa)

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sofawolf
6 Jahre zuvor

Einen späteren Schulbeginn würde ich begrüßen.

Nur müsste es dann nicht auch einen späteren Arbeitsbeginn für alle geben? Was machen Eltern mit ihren Kindern, deren Schule um 09.00 Uhr beginnt, aber die um 07.00 Uhr aus dem Haus müssen?

Dann gehen die Kinder ab 07.00 Uhr in den Hort und haben vom späteren Schulbeginn gar nichts (länger schlafen).

sofawolf
6 Jahre zuvor
Antwortet  sofawolf

Das ist wohl eher was für die weiterführenden Schulen bzw. ältere Kinder, die alleine zu Hause bleiben (dürfen). Die schlafen dann länger und sind entspannter.

Für Grundschulkinder, die dann vorher in den Hort gehen (müssen), sehe ich den Effekt nicht. Es ging doch auch und gerade um das Ausschlafen.

xxx
6 Jahre zuvor
Antwortet  sofawolf

Die sind dann vielleicht entspannter, aber nach der Mittagspause für genauso wenig zu gebrauchen wie jetzt auch. Es wird lediglich der Tag-Nachtrythmus nach hinten verschoben nach dem Prinzip „Morgen Schulbeginn um 11:00 Uhr, dann kann ich ja bis 1 Uhr nachts YouTube schauen.“

Über die realen Arbeitszeiten der Lehrer brauchen wir dann erst recht nicht mehr zu diskutieren.

rfalio
6 Jahre zuvor

Mag vielleicht in der Stadt gehen, aber auf dem Land, wo 80% der Schüler mit festen Schulbuslinien fahren?
Die kommen dann genauso knapp wie bisher, nur eine halbe Stunde später und haben nichts von den Zusatzmöglichkeiten.
Außerdem verschiebt sich auch der Schulschluss nach hinten und dann noch die Busfahrt.