Wie lässt sich Schülern der Wert von Demokratie vermitteln? Ohne Allgemeinbildung geht es nicht – ein Gastbeitrag

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BERLIN. Der Bundespräsident wurde am Wochenende deutlich. „Die Mehrheitsbildung ist komplizierter geworden. Die politische Auseinandersetzung härter, der Ton schroffer. Nicht nur zwischen den Parteien in der Gesellschaft insgesamt. Sogar die Demokratie selbst ist Anfechtungen ausgesetzt“, sagte Frank-Walter Steinmeier auf dem Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes am Sonntag in Berlin. „Eine neue Faszination des Autoritären macht sich breit.“ Jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, „aufzustehen, unsere Werte zu verteidigen“.

Die Frage ist allerdings: Wie gelingt das? Eine Schlüsselrolle spielt zweifellos die Bildung. Eine rechtsstaatliche Demokratie ist eine hoch komplexe Staatsform, deren Regeln von jungen Menschen erlernt werden müssen. Doch die Schule, so beklagt der renommierte Psychologe und Bildungswissenschaftler Georg Lind, hat nach PISA ihren Fokus auf die leicht messbaren Kategorien verlegt – zulasten der Demokratie-Erziehung. Was ist zu tun? In einer vierteiligen Reihe auf News4teachers entwirft Lind eine neue Methodik. Im ersten Teil beschrieb er „Demokratie als moralisches Ideal“. Jetzt, in Teil zwei, wird Lind konkret: Ohne Allgemeinbildung geht es nicht, postuliert er.

Der Schrecken der Nazi-Zeit verblasst – und damit auch die Bedeutung rechtstaatlicher Prinzipien wie der Schutz von gesellschaftlichen Minderheiten. Hetzen ist wieder salonfähig. Foto: Bundesarchiv, Bild 102-14468 / Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0

Demokratie-Erziehung – Teil 2: Demokratie bedarf Allgemeinbildung

Die Wichtigkeit der Allgemeinbildung aller Bürger für die Schaffung und den Erhalt der De­mo­kratie wurde uns bereits von Thomas Jefferson vor Augen geführt, dem Mitautor der ameri­­ka­nischen Unabhängig­keitserklärung: „Dies ist die sicherste und legitimste Kraft der Regierung: Bilde und informiere alle Menschen. Befähige sie zu erkennen, dass es in ihrem Interesse ist, Frieden und Ordnung zu bewahren, und sie werden sie bewahren. Und es braucht nicht sehr viel Bildung, um sie zu über­zeugen. Sie sind die einzige sichere Grundlage für die Sicherung unserer Freiheit“ (Jefferson 1940, meine Übers.).

Auch der französische Politologe Alexis de Tocqueville, der die damals noch junge „De­mo­­kratie in Amerika“ ausgiebig bereiste und seine Eindrücke 1835 in einem Buch analysierte, hat – neben Gewaltenteilung und zivilem Engagement – die Bildung aller Bürger für den dritten Pfeiler der Demokratie angesehen. Er empfahl der Regierung, alles Geld, das sie erübrigen konn­ten, für Bildung auszugeben, weil nur so verhindert werden kann, dass die Demokratie in eine Diktatur um­schlägt. „Allgemeines Wahlrecht ohne Bildung produziert Mobokratie, nicht Demo­kra­tie“ (Adler 1982, S. 3). Für Demokratieforscher wie Benjamin Barber (1992) sind Bildung und Demo­kratie daher „untrennbar verbunden“ (S. 9).

Die Einsicht von Jefferson, Tocqueville, Adler und Barber – dass Bildung in erster Linie dazu dient, die Menschen zur Selbstregierung zu befähigen und damit Rassismus, Nationa­lismus, Bür­ger­krieg und Diktatur zu verhindern – prägte die Bildungspolitik der jungen Bundesrepublik nach Zusammenbruch der Nazi-Diktatur. Weil die Bildung im Interesse des demokratischen Ge­mein­wesens liegt, sollte sie allen Bürger offenstehen und kostenlos sein. Das öffentliche Bil­dungs­we­sen hat sich als wichtige, vielleicht sogar als die wichtigste Säule unserer Demokratie heraus­ge­stellt.

Die gegenwärtige Umwertung der Bildung

Heute scheint diese Einsicht jedoch immer mehr verloren zu gehen. In dem Maß, wie der Schre­cken der Nazi-Diktatur verblasst, wird aus der demokratischen Pflicht zur Bildung ein indi­vidu­el­les Recht auf Karrierevorbereitung. Der demokratische Bildungsauftrag der Schule wird heute oft gar nicht mehr erwähnt, wenn es um die Erhaltung der Demokratie geht. Bildung wird heute oft nur noch mittelbar als wichtig für das Schicksal der Demokratie an­gesehen, indem sie hilft die Wirtschaftsleistung zu erhöhen. Die Qualität der Bildung wird daher nicht mehr an ihrem Beitrag zum demokratischen Zusammenleben gemessen, sondern an den (vermuteten) Anfor­de­rungen der Wirtschaft.

Infolge dieser Umwertung der Bildung wird die Aufgabe der Schule heute oft nur noch darin gesehen, die Lese- und Rechenfähigkeit und das Sachwissen unserer Kinder zu fördern. Wohin das führt, lässt sich an den USA ablesen. Dort hat man bereits vor mehr als fünfzig Jahren an­ge­fan­gen, den Wert des Unterrichts an diesen einfach testbaren Kenntnissen der Schüler zu mes­sen, statt an der Entwicklung ihrer Denk- und Diskussionsfähigkeit. Inzwi­schen sind Test­werte die Grundlage für die Bewertung von Schülern, Lehrern und Schulen, so dass der Unterricht sich immer mehr an den Vorgaben der Testindustrie ausrichtet statt an den Bedürfnissen der Demo­kratie. Das Lernen in der Schule wird immer mehr auf die Bereiche beschränkt, die mit einfachen Tests geprüft und sanktioniert werden („teaching to the test“).

Der intensive Einsatz von Straf-bewehrten („high stakes“) Tests, die mit harten Sankti­onen für die Schüler und ihre Schulen verbunden sind (Ravitch 2010), und die Privatisierung von Schulen bedrohen die Demokratie als Lebensform (Dewey), ohne dass die Wirtschaft und Wissenschaft davon erkennbar profi­tiert (Berliner & Glass 2014; Sjoberg 2017). Noch nicht einmal zu besseren Test­leistungen hat das 50-jährige Regiment dieser Straf-Tests geführt (Lind 2009; Ravitch 2010; Koretz 2017).

Die Tests, die unter hohem Zeitdruck bearbeitet werden müssen und vielen Menschen Angst einflößen, behin­dern massiv das Denken der Lernenden und die Diskussion unterein­ander, und damit die Entwicklung ihrer moralisch-demokratischen Kompetenz. Diese Tests legen apodiktisch fest, was richtig und was falsch ist. Sie erlauben keine Rückfragen und keine Kritik, und sie lassen keine Zeit zum Nach­­denken. Am Beispiel einer Mathe-Aufgabe aus den PISA-Tests zeigt Sjoberg (2007), wie „unrealistisch und falsch“ viele der Test-Auf­gaben sind. „Schüler, die einfach ohne Denken Zah­len in die vorgegebene Formel einsetzen, bekommen den Punkt. Kritischere Schüler, die an­fangen nachzudenken, werden jedoch ver­wirrt und bekommen Probleme!“ (S. 217) Diese Tests erlauben auch keine Diskussion zwischen Schülern und Lehrern, wie das in gutem Unter­richt möglich ist.

Je mehr diese Tests das Leben der Kinder bestimmen, umso mehr schwinden für sie die Gele­genheiten, in denen sie ihre Moralkompetenz erproben können, und um so mehr bleibt ihre Moral­ent­wick­lung zurück. Wer nicht lernen darf, wie man Probleme durch Denken und Diskus­sion löst, dem bleiben nur Gewalt und Betrug. Wer nicht erfahren konnte, dass man Konflikte durch Dialog lösen kann, betrachtet andere Menschen mit Argwohn und versucht sich vor ihnen durch den Er­werb materiellen Besitzes und durch Unterwerfung unter Führer zu schützen, die ein hartes Vor­ge­hen gegen Menschen mit abweichender Meinung und die Abschaffung der Demo­kratie ver­sprechen (Adorno et al. 1950).

Wenn Moralkompetenz die Fähigkeit ist, gemäß innerer moralischer Prinzipien zu urteilen und zu handeln (Kohlberg 1964), dann ist Demokratiekompetenz ihre Erweiterung auf die dis­kursive Auseinandersetzung mit Anderen. Sie ist die Fähigkeit, Probleme und Konflikte nicht nur durch Denken, sondern auch durch Diskussion mit Anderen zu lösen, statt durch Gewalt, Betrug oder Unterwerfung unter Andere.

Geringe Demokratiekompetenz steht, wie psycho­logische Studien (zum Teil auch experi­men­tell) be­legen, in der Tat in einem kausalen Zusam­menhang mit Autoritätsgehorsam, Ge­walt, Be­trug, Vertragsbruch, Vertuschung von Straftaten, Unterlassung von Hilfe, Entschei­dungs­schwä­che, Drogenmissbrauch, ja sogar mit geringer Lernleistung und schlechten Schul­noten in den akade­mischen Fächern, sowie mit einem geringem Engagement für demokra­tische Grund­werte. (Für Quellenhinweise siehe Hemmerling 2014; Lind 2015.)

In den nächsten Tagen:

  • Teil 3: Auf Moralkompetenz kommt es an
  • Teil 4: Welche Methode? (+ Literaturangaben)
Der Autor
Georg Lind. Foto: Glenda Lind

Dr. Georg Lind, emeritierter apl. Professor der Psychologie, forscht und lehrt seit vier Jahrzehnten zur Frage, was Menschen dazu befähigt, Probleme und Konflikte durch Denken und Diskussion zu lösen, und wie man diese Fähigkeit messen und effektiv fördern kann. Er hat den Moral Competence Test (MCT) zur Messung dieser Fähigkeit und auch die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD), sowie ein Konzept zur Vermittlung dieser Methoden an Lehrkräfte entwickelt. Seine Methoden werden bereits weltweit eingesetzt, aber noch zu wenig, um die Demokratie nachhaltig zu sichern. Infos zu Literatur, Symposien und Fortbildung finden sich auf seiner Webseite: www.uni-konstanz.de/ag-moral/

Kontakt: georg.lind@uni-konstanz.de

Die rechtsstaatliche Demokratie ist eine hoch komplexe Staatsform, deren Regeln erlernt werden müssen – aber wie?

 

 

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4 Kommentare
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Ignaz Wrobel
5 Jahre zuvor

Erst einmal sollte man sich auf die Seite derer schlagen, welche einen schnellen und strukturierten Zugang zum Schriftsprachsystem und zum automatisierten Lesen fördern.
Da muss man sich notfalls von politischen Weggefährten aus alten Studienzeiten trennen, so deren Methoden einer zügigen aus eigenen Interessen dieser Vermittlung im Wege stehen.
Man wird nicht zum „Verteidiger“ unserer Demokratie , wenn man bestimmte Denkweisen übernimmt und als Diktion festschreibt, denn der Mensch wird erst durch seine soziale Erziehung in seinem direkten Umfeld zu dem, was ihn später ausmacht.
Ihr Freund Brügelmann gehört nicht gerade zu jenen, die eine Pädagogik unterstützen und fördern, die die benachteiligten Risikogruppen in eine Selbstständigkeit überführen.
Stellen sie sich den Lehrer einfach mal als Musiklehrer vor, der Ihnen und Ihren Mitbewohnern die selbstständige Anwendung eines Musikinstrumentes beibringen soll.
Wählen Sie den, der ihnen sukzessive das Instrument schrittweise strukturiert vermittelt und sie schrittweise in die Eigenständigkeit überführt, oder wählen Sie jenen Musiklehrer, der Ihnen das Instrument in die Hand drückt, damit Sie erst einmal selbst daran probieren, gegebenenfalls Noten als Zahlen ,wie c=1,d=2 etc.,vorlegt und durch ein weitgehendes Eigenstudium, ohne Vermittlung von Intonation oder der Vermittlung von Takt und von Rhythmus das Spiel zu vermitteln. Sie erhalten zum Selbststudium in den Folgejahren stapelweise Arbeitsblätter, die Sie selbstverständlich immer hochmotiviert alleine durchspielen und eigen initiativ weiter ausprobieren. Ihr Lehrer meldet Ihnen, damit Sie immer schön motiviert bleiben immer wieder schöne Smiles unter eigene Kompositionen.
Die Methode hieße Musikerfahrungsansatz und stützt sich auch auf die niedlichen Notenkritzeleien der Kinder diese Erfinders.
Wie würden Sie entscheiden ?

Ignaz Wrobel
5 Jahre zuvor
Antwortet  Ignaz Wrobel

Zeile 5. :zügigen Vermittlung

U. B.
5 Jahre zuvor

Der Wert von Demokratie erlernen junge Menschen zu weit überwiegendem Teil nur durch Aufwachsen und Erfahrung sammeln in einem auf gegenseitigem Respekt beruhenden Umfeld. In ihm werden sie geprägt und nicht nur mit dem Zeigefinger belehrt, der so gut wie nichts bringt außer wohlfeilen Lippenbekenntnissen und frommen Jasagereien.
Wenn Schulen ein prägendes Verständnis von Demokratie vermitteln wollen, muss dem „heimlichen Lehrplan“, von dem sofawolf manchmal spricht, unbedingt mehr Geltung verschafft und dazu den Lehrern mehr Macht gegeben werden, ihn auch durchzusetzen, notfalls mit Sanktionen.
Demokratisches Empfinden muss durch demokratischen Umgang miteinander trainiert und automatisiert werden.
Das Wissen über rechtstaatliche Demokratien in höheren Schuljahren ist wichtig und notwendig, es aber als primär entscheidend für das eigene demokratische Verhalten anzusehen, halte ich für falsch im Sinne von „das Pferd vom Schwanz her aufzäumen“.

Ignaz Wrobel
5 Jahre zuvor
Antwortet  U. B.

U.B.
Sie beschreiben sehr treffend Einflussfaktoren, die sich auf die Entwicklung des Demokratieverständnisse positiv auswirken. Dazu braucht es nicht unbedingt des Blickes in die Vergangenheit, obwohl dieser lehrreich sein kann.