Kleine Elternkunde: Was Lehrer über Väter und Mütter wissen sollten – zusammengefasst von einem Schulforscher

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BRAUNSCHWEIG. Mit Eltern an einem Strang ziehen? Das ist für Lehrerinnen und Lehrer keine leichte Aufgabe – angesichts einer Vielzahl von Erziehungsformen, die zu Hause praktiziert werden. Prof. Dr. Werner Sacher, der seit Jahrzehnten über die Zusammenarbeit von Schule und Elternhaus forscht und schreibt, plädiert für ein pragmatisches Vorgehen. Das setzt allerdings ein gewisses Maß an Verständnis für das Gegenüber voraus. Das Interview, dessen ersten Teil wir hier veröffentlichen, ist in vollständiger Form in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Grundschule“ erschienen. Titel des Heftes: „Gemeinsam erziehen – Anregungen für die Praxis, wie Sie die Unterstützung der Eltern gewinnen können“.

Hier lässt sich das Heft bestellen und lassen sich einzelne Beiträge – auch das vollständige Interview – herunterladen (kostenpflichtig).

Der Begriff „Helikopter-Eltern“ ist zu grob, um die tatsächlichen Erscheinungsformen elterlicher Erziehung abzubilden. Foto: Shutterstock

Immer mehr Lehrkräfte klagen über unerzogene Schüler. Sind die Klagen der Lehrer aus Ihrer Sicht berechtigt? Ist es tatsächlich so, dass viele Kinder nicht mehr das mitbringen, was sie brauchen, um in der Schule erfolgreich sein zu können?

Sacher: Es wird allgemein geklagt, dass Eltern ihre Erziehungsaufgaben immer mehr auf die Schule abschieben. Das ist meines Erachtens aber nur zum Teil richtig. Sicherlich wird mehr und mehr an die Schule delegiert – dabei geht es vor allem um  die Entwicklung sogenannter Sekundärtugenden wie Disziplin, Pünktlichkeit, Fleiß, Gewissenhaftigkeit, auch ein Stück Respektieren von Autoritäten. Solche Sekundärtugenden sind etwas unbequem zu vermitteln, das dürfen dann schon gerne die Lehrerinnen und Lehrer machen. Und Schule benötigt diese Tugenden als grundlegende Voraussetzungen für Instruktionsprozesse. Hier wird tatsächlich zu wenig von den Elternhäusern zugearbeitet. Allerdings besteht Erziehung nicht komplett daraus. Zur Erziehung gehören auch die weltanschauliche Orientierung und die ethisch-moralische Ausrichtung – und die behalten sich viele Eltern sehr wohl vor. Da gibt es bei Migranten oder auch bei deutschstämmigen Eltern große Empfindlichkeiten, wenn Schule sich dort einmischt.

Die Zeitschrift 'Grundschule'

Der Text erschien zunächst in der Ausgabe „Gemeinsam erziehen“ der Zeitschrift „Grundschule“. Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).

Die Arbeit als Lehrkraft umfasst deutlich mehr Aufgaben als nur den reinen Unterricht. Zum Gesamtpaket gehört etwa die Kooperation mit den Erziehungsberechtigten – nicht selten eine enorme Herausforderung. Trotzdem: Eine funktionierende Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus ist von entscheidender Bedeutung – nicht nur für den Lernerfolg des einzelnen Kindes, sondern auch für einen erfolgreichen Unterricht. In diesem Heft bieten wir Ihnen daher Anregungen aus der Theorie und vor allem der Praxis, wie Lehrkräfte Eltern für Ihre Anliegen gewinnen können. Dabei reichen die Impulse von umfassenden Konzepten bis hin zu alltagstauglichen Tipps – und sie zeigen, dass besonders vier Aspekte für eine Erziehungs- und Bildungspartnerschaft ausschlaggebend sind.

Eltern kommen in den Medien häufig nur in zwei Extremformen vor: als Helikopter-Eltern, die ständig um ihren Nachwuchs herumkreisen, oder als Eltern, die sich um gar nichts kümmern. Sind die beiden Bilder realistisch?

Sacher: So einfach ist es nicht. Es gibt eine interessante Publikation vom Konrad-Adenauer-Institut mit dem Titel „Eltern unter Druck“ von Tanja Merkle, Carsten Wippermann und anderen. Die Autoren haben versucht, auf empirischer Basis verschiedene Elterntypen herauszuarbeiten, also unterschiedliche Muttertypen und Vatertypen zu identifizieren. Die Autoren kommen auf jeweils neun verschiedene Typen. Um nur mal kurz hier die Muttertypen zu benennen: Da gibt es die autoritäre Erzieherin. Es gibt die Nicht-Erzieherin, die eine Laissez-Faire-Haltung zeigt. Es gibt die Erziehungsmanagerin. Es gibt die Lebensabschnittsbegleiterin. Dann gibt es die Profi-Mama, die ihr Muttersein professionell organisiert, das optimale Betreuungsangebot auswählt und professionellen Rat einholt, wo immer das geht. Und es gibt den Universalcoach oder die General-Mama, die alle Aktivitäten organisiert – bis hin zum Sport.

Ist das nicht die berüchtigte Helikopter-Mutter?

Sacher: „Helikopter-Eltern“ ist ein plakativer Begriff, der aber nicht durch empirische Forschung abgedeckt ist. Dahinter verbergen sich mehrere Varianten:

Das Leitmotiv von Helikopter-Eltern kann Überbehütung und maßlose Kontrolle des Kindes oder Misstrauen gegenüber Lehr- und Fachkräften sein, aber auch übertriebenes Förderstreben, weil man sein Kind für hochbegabt hält, oder die Absicht, dem Kind möglichst alle negativen Erfahrungen zu ersparen und der Versuch, ihm alle Hindernisse für eine optimale Entwicklung aus dem Wege zu räumen. Also, unter „Helikopter-Eltern“ kann man so viel Unterschiedliches verstehen, dass der Begriff letztlich unbrauchbar ist.

Welche Mutter-Typen gibt es noch?

Sacher: Es gibt die Versorgungs- und Kuschelmutti, sodann die Mutter als Freundin und große Schwester und schließlich die Reisebegleiterin, die einfach die Chance sieht, das eigene Leben mit dem Kind noch einmal neu zu entdecken. Und für jeden Muttertypen gibt es ein männliches Pendant, einen entsprechenden Vatertypen. Daran sieht man: Es gibt unter den Eltern eine große Vielfalt – weit über die zwei Typen der „Nicht-Erzieher“ und „Helikopter-Eltern“ hinaus.

Ist es für Lehrkräfte wichtig zu wissen, dass es solche verschiedenen Elterntypen gibt, und wie die ticken?

Sacher: Finde ich schon. Lehrerinnen und Lehrer sollten wegkommen von diesen Klischees und ungefähr wissen, aus welcher Motivation ihr Gegenüber handelt. Das eigentliche Problem ist dabei, dass die verschiedenen Eltern unterschiedliche Erziehungsvorstellungen haben. Diese Vorstellungen unter einen Hut zu bringen und als Lehrkraft zu erreichen, dass die Eltern stets am gleichen Strang ziehen, dass sie sich auf einen halbwegs gemeinsamen Erziehungsstil einlassen – das ist eine große Herausforderung.

Gibt es diesen einen sinnvollen Erziehungsstil denn?

Sacher: Ja, so etwas wie eine Rahmenvorstellung für angemessenes Erziehungshandeln gibt es durchaus: den sogenannten autoritativen Stil nach Diana Baumrind.

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… hart, aber herzlich.

Sacher: Ja, Geben von Wärme und Geborgenheit auf der einen Seite, auch Freiräume öffnen und das Kind zur Selbstständigkeit anhalten – auf der anderen Seite aber auch darauf bestehen, dass Regeln eingehalten werden. Die sollte man aber nicht aufoktroyieren, sondern vereinbaren. Es sollte klare Strukturen für den Tagesablauf geben, und Kinder sollten eigenverantwortlich Pflichten für die Familie übernehmen. Eine solche Erziehung sorgt am besten dafür, dass Kinder in der Schule zurechtkommen.

Ist dieser Erziehungsstil mit allen „Muttertypen“ vereinbar – oder gibt es da doch einige Modelle, wo man sagen muss, das geht überhaupt nicht?

Sacher: Mit der autoritären Erzieherin geht’s nicht – und mit der Nicht-Erzieherin auch nicht. Das sind die beiden Extreme. Auf der einen Seite nur Druck ausüben und auf der anderen Seite nur gewähren lassen. Und bei beiden fehlt dann auch die emotionale Komponente, also das Geben von Geborgenheit. Bei den anderen Typen geht’s schon, bei manchen vielleicht besser als bei anderen. Bei der Mutter als Freundin beziehungsweise als großer Schwester werden womöglich die Strukturen ein bisschen zu kurz kommen. Auch bei der Kuschelmutti wird nicht so viel Interesse bestehen, auf Disziplin zu bestehen.

Wie sieht es denn auf der anderen Seite aus – bei den Lehrerinnen und Lehrern? Gibt es dort auch verschiedene Erziehungstypen? Und  decken die sich mit den Typen der Eltern? Und wie sind die Kombinationen, gibt es da gute und solche, die von vorneherein zum Scheitern verurteilt sind?

Sacher: Zu den Erziehungsstilen auf Lehrerseite gibt es weniger aktuelle Forschung. Aus der Erziehungspsychologie in der Tradition des Ehepaars Reinhard und Annemarie Tausch kennen wir die direktive und non-direktive Erziehung von Lehrkräften. Letztlich aber läuft auch hier alles darauf hinaus, dass ein autoritativer Erziehungsstil zu empfehlen ist.

Wenn das in der Wissenschaft klar ist – warum klappt das in der Praxis offenbar so häufig nicht? 

Sacher: Was tatsächlich praktiziert wird, ist oft eine andere Sache. Da gibt es natürlich Verfehlungen in alle Richtungen, zum Beispiel dass Erwachsene entweder zu viel auf Wärme und Geborgenheit setzen und Strukturen und Regeln vernachlässigen oder den Kindern zu viel Selbstständigkeit und Freiräume zumuten, was dann in Laissez-Faire einmünden kann,  oder dass man zu sehr auf Disziplin setzt, die dann vielleicht auch noch aufoktroyiert wird.

Dass das so häufig nicht klappt – spielen da vielleicht auch die Lebensbedingungen der Familien eine Rolle, die zunehmend schwieriger werden?

Sacher: Ja, die spielen natürlich eine Rolle. Es gibt Lebensbedingungen, die es Eltern einfach schwer machen, eine einigermaßen sinnvolle Erziehung zu praktizieren. Das beginnt schon damit, dass seit zwei oder drei Generationen die Kleinfamilie vorherrscht. Das heißt, dass das frühere Unterstützungssystem nicht mehr zur Verfügung steht. Früher lebten in jedem Haushalt noch Omas, ältere unverheiratete Tanten oder ältere Geschwister. Es war immer irgendjemand da, der jungen Paaren mit Rat und Tat zur Seite stand. Heute ist die Normalsituation, dass Eltern auf sich allein gestellt sind, oft weit entfernt von den eigenen Eltern, irgendwo in der Großstadt, wo es Arbeit gibt, und dort die Erziehung gewissermaßen neu erfinden müssen.  Dazu kommen die heutigen Medieneinflüsse und vieles andere mehr. Es ist eminent schwierig geworden zu erziehen.

Dazu kommt die Erwerbstätigkeit. Immer mehr Frauen arbeiten tagsüber …

Sacher: Dass beide Elternteile erwerbstätig sein müssen, vielleicht sogar in Vollzeit, um den Lebensunterhalt zu finanzieren, kommt hinzu.

Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge – auch das vollständige Interview – herunterladen (kostenpflichtig).

Werner Sacher

Prof. Dr. Werner Sacher war bis zu seinem Ruhestand 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Der frühere Hauptschullehrer gilt als renommiertester deutscher Experte in der Zusammenarbeit von Schule und Elternhaus. Er ist Autor zahlreicher Bücher, darunter „Elternarbeit: Gestaltungsmöglichkeiten und Grundlagen für alle Schularten“ (Klinkhardt-Verlag, 18,90 Euro). Hier geht’s zu einer Liste seiner Publikationen zum Thema.

Selbst Grundschüler schon außer Rand und Band: Was läuft schief in der Erziehung? VBE schlägt Alarm

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4 Kommentare
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sofawolf
5 Jahre zuvor

Zitat: „Wie sieht es denn auf der anderen Seite aus – bei den Lehrerinnen und Lehrern? Gibt es dort auch verschiedene Erziehungstypen? … Und wie sind die Kombinationen, gibt es da gute und solche, die von vorneherein zum Scheitern verurteilt sind? Sacher: … Letztlich aber läuft auch hier alles darauf hinaus, dass ein autoritativer Erziehungsstil zu empfehlen ist.“

Das wollte ich mal hervorheben.

sofawolf
5 Jahre zuvor

Zitat: „Es ist eminent schwierig geworden zu erziehen.
Dazu kommt die Erwerbstätigkeit. Immer mehr Frauen arbeiten tagsüber …
Sacher: Dass beide Elternteile erwerbstätig sein müssen, vielleicht sogar in Vollzeit, um den Lebensunterhalt zu finanzieren, kommt hinzu.“

Na, da haben wir wohl wieder die n4t-These, dass heutige Probleme in den Schulen nicht an den Zuständen in den Schulen liegen, sondern daran, dass die Mütter arbeiten gehen. Wobei – weil es ja in Westdeutschland nicht so war – wieder und weiterhin ignoriert wird, dass es diese Probleme in Ostdeutschland nicht so gab, obwohl dort die übergroße Mehrheit der Mütter früher schon arbeiten ging.

Stimmte obige These, müssten von den Problemem ja auch nur Kinder nicht betroffen gewesen sein, deren Mütter früher nicht arbeiten gingen, während auch früher schon im Westen Kinder davon betroffen gewesen sein müssten, deren Mütter arbeiten gingen. Es waren zwar prozentual deutlich weniger im Westen als im Osten, aber es war doch auch im Westen so ungefähr (ich erinnere mich schlecht an die Zahlen) 50%. Haben irgendwelche Studien belegen können, dass die Kinder nicht-arbeitender Mütter früher von den heutigen Problemen nicht betroffen waren (weil ja ihre Mütter nicht arbeiteten)?

Anna
5 Jahre zuvor
Antwortet  sofawolf

Sie verdrängen immer wieder die Tatsache, dass die Qualität des Ganztags in ostdeutschen Grundschulen eine ganz andere ist als die in westdeutschen. Im Westen wurde in den vergangenen zehn Jahren fast flächendeckend der „offene“ Ganztag („Ogata“) ausgebaut, der organistorisch von der Schule völlig abgekoppelt ist, damit Elternbeiträge kassiert werden können. Schulgeld ist ja grundgesetzlich verboten. Trotzdem kommen dort in der Regel nur zwei Erzieherinnen auf 20 bis 30 Kinder – da kann von Förderung praktisch keine Rede sein.

Das lässt sich mit dem Ganztag im Osten, der als Hort organisatorischer Bestandteil der Schulen ist, kaum vergleichen.

Aufmerksamer Beobachter
5 Jahre zuvor

Da der Herr Professor das Fremdwort mehrfach falsch benutzt – und wir uns hier im Forum eines „Bildungsmagazins“ befinden, sei der folgende dezente Hinweis (bitte mit Augenzwinkern!) erlaubt:

Es heißt „oktroyieren“ (= aufdrängen, aufzwingen).
Das immer wieder falsch gebrauchte und gern auch falsch geschriebene Verb „aufoktroyieren“ klingt zwar schlau, ist aber doof, denn es hieße soviel wie „aufaufdrängen“ oder „aufaufzwingen“.
https://www.duden.de/rechtschreibung/oktroyieren