„Übertrifft schlimmste Befürchtungen“: Lehrerverbände sehen neues Abordnungschaos nach den Sommerferien voraus

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HANNOVER. Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) ist angetreten, das Abordnungs-Chaos seiner Amtsvorgängerin Frauke Heiligenstadt zu beenden. Jetzt sieht es so aus, als sei der Lehrermangel an den Grundschule sogar noch gewachsen – wodurch noch mehr Lehrkräfte als früher schon aus den weiterführenden Schulen zur Aushilfe in die Primarstufe geschickt werden müssen. Der Philologenverband schäumt. Auch der Verband Niedersächsischer Lehrkräfte (VNL/VDR) kritisiert die Abordnungspraxis des Kultusministeriums scharf.

Freut sich auf „eine der spannendsten Aufgaben, die man auf Landesebene haben kann“: Niedersachsens designierter Kultusminister Grant Hendrik Tonne Foto: SPD in Niedersachsen / flickr (CC BY 2.0)
Grant Hendrik Tonne stehen ungemütliche Sommerferien ins Haus. Foto: SPD in Niedersachsen / flickr (CC BY 2.0)

August 2017. Niedersachsens Kultusministerin Frauke Heiligenstadt verteidigte die Abordnungen von Lehrern an andere Schulen. «Die Lage ist nicht einfach, aber deshalb sind alle gefordert», sagte die SPD-Politikerin im Kultusausschuss des niedersächsischen Landtages. Abordnungen seien ein klassisches Instrument, um Engpässe bei der Unterrichtsversorgung zu überbrücken. Als befristete Maßnahme seien sie durchaus vertretbar. Der Philologenverband spricht dagegen von „planerischer Inkompetenz“. Zehn Tage nach Schuljahresbeginn sei noch immer kein geregelter Unterricht möglich.

Januar 2018. Mittlerweile ist mit Grant Hendrik Tonne (SPD) ein neuer Kultusminister im Amt. Er kündigt an, er wolle die „Abordnungskarawanen“ stoppen. An den Schulen in Niedersachsen würden zwar auch im zweiten Halbjahr Lehrer „in erheblichem Umfang“ an andere Schulen abgeordnet, so kündigt er an. Ihm sei klar, dass dies eine große Zumutung und Belastung für alle Lehrkräfte sei. „Wir stellen jetzt noch quasi täglich neue Lehrkräfte ein.“ Er hoffe, dass sich die Situation im Sommer normalisiere.

Juli 2018. Eine Antwort der niedersächsischen Landesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der FDP-Landtagsfraktion zeigt auf, dass sich die Hoffnung des Ministers zerschlagen hat: Nach Angaben des Ministeriums müssen im neuen Schuljahr nach derzeitigem Stand statt bisher schon knapp 5.500 Stunden nunmehr etwa 8.700 Stunden vom Gymnasium an andere Schulformen abgeordnet werden, was einer Steigerung von 58 Prozent entspricht. Dabei bleibt die Zahl der Abordnungen an die Grundschulen auf dem gleichen hohen Stand wie im Vorjahr, bei den Abordnungen an Gesamtschulen steigt sie aber um 89 Prozent und an Haupt-, Real- und Oberschulen sogar um 106 Prozent.

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Der Niedersächsische Philologenverband schäumt – und erklärt, dass „die Öffentlichkeit bisher durch das Kultusministerium in geradezu skandalöser Weise über die wahren Ausmaße von Lehrerabordnungen von den Gymnasien an andere Schulformen auch für das kommende Schuljahr getäuscht worden ist“. Philologen-Landesvorsitzender Horst Audritz erklärte. „Auf gemeinsamen Druck von FDP und Philologenverband musste der Kultusminister jetzt mit Zahlen ans Tageslicht kommen, die angesichts seiner monatelangen öffentlichen Beteuerungen, die Abordnungen würden im neuen Schuljahr massiv gesenkt und praktisch beendet, fassungslos machen: Das Ausmaß der Abordnungen wird im kommenden Schuljahr nochmals deutlich erhöht und damit schlimmer sein als bisher schon, was einem Offenbarungseid des Ministers gleichkommt.“

Tonne hatte in im Juni erklärt, nicht über verlässliche Zahlen zu verfügen, weil die Einstellungsverfahren noch liefen. „Der Minister und sein Haus verstricken sich immer weiter in Verschleierungsversuchen und Schönrederei bar jeder Realität. Wie kann es sein, dass das Ministerium mit den dortigen personellen wie methodischen Möglichkeiten keine belastbaren Zahlen erheben kann, wenn der Philologenverband die jetzt eintretende Entwicklung nahezu exakt prognostiziert hat“, fragte Audritz. Der Minister habe schon im ersten Amtsjahr mit diesen statistischen Ränkespielchen zulasten der Lehrer und Schüler seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt.

Auch der Verband Niedersächsischer Lehrkräfte (VNL/VDR) kritisiert die Abordnungspraxis des Kultusministeriums scharf. Wie bereits zum letzten Schuljahr versuche das Kultusministerium die anhaltende Unterrichtsmisere durch Abordnungen von einer Schulform an die andere zu beheben. „Entgegen den Ankündigungen unseres Kultusministers hat sich bislang nichts an dieser Praxis geändert. Das Abordnungskarussell dreht sich munter weiter“, sagte VNL/VDR-Vorsitzender Torsten Neumann.  „Die nichtgymnasialen Schulen wie Ober-, Real- und Hauptschulen müssen ebenfalls an Grundschulen Lehrkräfte abordnen. Deshalb müssen wiederum Gymnasiallehrkräfte an diese Schulen geschickt werden, um das dadurch entstandene Unterrichtsfehl zu beheben. Oft sei ein für beide Seiten sinnvoller Einsatz nur schwer zu bewerkstelligen. So darf es nicht weitergehen.“

„Nicht sachgerecht“

Auch der Philologenverband zieht den Sinn vieler Abordnungen in Zweifel. „Momentan werden die Abordnungen erneut aufgrund des Vergleichs der rein statistischen Unterrichtsversorgung durchgeführt. Das ist jedoch nicht sachgerecht“, betont Audritz. Manche Schulen könnten die zu ihnen abgeordneten Lehrer im Unterricht gar nicht einsetzen, weil es dort keinen realen Bedarf gebe. „Hierbei handelt es sich nicht etwa um Einzelfälle, wir haben von nicht wenigen Gymnasien die Rückmeldung, dass ihre Abordnungen als unnötig bezeichnet und sogar zurückgewiesen wurden“, so Audritz. An Gymnasien hingegen müssten „pädagogisch unsinnige Klassenzusammenlegungen vorgenommen werden“, werde  Pflichtunterricht gekürzt falle ganz aus und Ganztagsangebote und AGs sowie Fördermaßnahmen würden erheblich eingeschränkt oder gestrichen. bibo / Agentur für Bildungsjournalismus

Die GEW erwartet noch mehr Abordnungen im neuen Schuljahr

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sofawolf
5 Jahre zuvor

Es hilft alles nichts. Wenn es nicht mal mehr genügend Seiteneinsteiger gibt, dann muss vorübergehend die Stundentafel der Schüler gekürzt werden. Sachsen hat es vorgemacht!

Palim
5 Jahre zuvor
Antwortet  sofawolf

Könnte daran liegen, dass Sachsen im Vergleich zu anderen Bundesländern ohnehin sehr viele Wochenpflichtstunden in der Stundentafel stehen hat. Das sieht in anderen Ländern ganz anders aus.
https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Statistik/Wochenpflichtstunden_der_Schueler_2016.pdf

Palim
5 Jahre zuvor

Die Zahlen, wie viele Stunden denn die anderen Schulen abordnen müssen, werden gar nicht genannt, ebenso nicht, dass dies seit Jahrzehnten so ist.
Die Grundschulen verweisen seit Jahren auf den Lehrermangel, Förderstunden wurden vor ca. 20 Jahren gestrichen, Vertretungsreserven gibt es keine, Zusatzbedarfe wurden gestrichen und nun auch die Sprachförderung, die nicht länger durch Lehrkräfte erteilt werden soll.

Auch unberücksichtigt bleibt, dass bei Stellen für das Gymnasium schon in der Ausschreibung selbst die Abordnung für 2 Jahre benannt war. Hintergrund ist die Rückkehr zu G9 in 2 Jahren, wofür dann auf einen Schlag erheblich mehr Lehrkräfte für das Gymnasium benötigt werden. Da ist es doch nicht verwunderlich, wenn diese Lehrkräfte nun tatsächlich an die Grundschulen abgeordnet werden.

Wenn die Abordnung auf viele verschiedene Personen, die tageweise mit je 2 Stunden kommen, verteilt wird, die dann auch nur in ihren studierten Fächern eingesetzt werden sollen, ist darüber eine Klassenleitung in der Grundschule nicht abzubilden, selbst für ein Hauptfach ist das unsinnig. Das bedeutet nicht, dass es „keinen realen Bedarf gebe“, sondern dass mit gegebenen oder angebotenen Stunden bzw. Fächern der notwendige Unterricht nicht erteilt werden kann.

Auch hatte der Philologenverband bei einem Treffen mit Herrn Tonne eigene Ziele durchgesetzt, die die Abordnung selbst erheblich erschweren und von den anderen Schulen noch mehr Aufwand erwarten:
– Aufsichten müssen tatsächlich alle Lehrkräfte leisten. Übernehmen die abgeordneten Lehrkräfte keine, sind die anderen Lehrkräfte umso häufiger an der Reihe.
– Als „Zweitkraft“ können in Ermangelung anderer Förderstunden lediglich die Stunden der Förderschullehrkräfte gemeint sein. Erhält die Grundschule nicht ausreichend Stunden von der FöS, sollten diese Stunden zumindest im Soll der Schule aufgeführt sein, damit die ohnehin knapp ausgestattete Inklusion wenigstens diese 2 Std. pro Woche behält. Anders als an SekI-Schulen bestehen die FöS Lernen (ESE und z.T. Sprache) im Grundschulbereich nicht und die Kinder werden in Grundschulen beschult.

Die Gymnasiallehrkräfte erteilen somit Unterricht entsprechend ihrer Fächer in Klasse 3+4 am Vormittag,
die Grundschullehrkräfte übernehmen die Aufgaben der FöS-Kolleginnen und den Unterricht in Klasse 1+2 sowie sämtliche Klassenleitungen.

xxx
5 Jahre zuvor
Antwortet  Palim

Die Gymnasiallehrkräfte erteilen somit Unterricht entsprechend ihrer Fächer in Klasse 3+4 am Vormittag,
die Grundschullehrkräfte übernehmen die Aufgaben der FöS-Kolleginnen und den Unterricht in Klasse 1+2 sowie sämtliche Klassenleitungen.

Was würden Sie andererseits davon halten, wenn die abgeordneten Gymnasiallehrer in Vollzeit alle Aufgaben der Grundschullehrer übernehmen müssten? Wahrscheinlich noch weniger oder genausoviel wie Gymnasiallehrer, wenn abgeordnete Grundschullehrer den Unterricht der Stufen 8-10 oder gar Oberstufe übernehmen müssten. Theoretisch könnten die Grundschullehrer sogar jedes Fach erteilen außer zweite Fremdsprache, Religion und Sport.

@emil Eine Ausnahme mache ich bei Ihnen. Nach Ihrer Eigendarstellung können Sie alles und das viel besser als alle anderen. Viel Spaß im Physik-Leistungskurs, dem mittlerweile wirklich schwersten Schulfach, aber auch motiviertesten Schülern.