Von der Sexualkunde zur sexuellen Bildung: Seit nunmehr 50 Jahren ist Sexualität ein Unterrichtsthema – und noch immer umstritten

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BERLIN. Vor 50 Jahren, am 3. Oktober 1968, setzte die Kultusministerkonferenz mit ihren „Empfehlungen zur geschlechtlichen Erziehung in der Schule“ einen „Meilenstein in der Sexualerziehung“, wie es in einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung heißt. „Damit wurde Sexualerziehung erstmals von amtlicher Seite aus dem Zwielicht der Verdrängung und dem Ambiente der Lustfeindlichkeit geholt.“ Umstritten ist das Thema allerdings bis heute. Das Jubiläum ist Anlass, zurückzublicken. Der folgende Beitrag von der Erziehungswissenschaftlerin Dr. Renate-Berenike Schmidt, Gründungsmitglied der Gesellschaft für Sexualpädagogik, erschien zunächst in der Zeitschrift „Grundschule“.

Hier lassen sich das Heft mit dem Titel „Streit um die Liebe“ oder einzelne Beiträge daraus herunterladen (kostenpflichtig).

Aufklärung in den 50er Jahren: „Des kleinen Samenfadens wundersame Reise – Eine Bilder- und Lesefibel für Eheleute und solche, die er werden wollen.“ (1956) Screenshot von www.wirtschaftswundermuseum.de/sexualitaet-50er-1.html

Sexualität ist seit nunmehr 50 Jahren offizielles Unterrichtsthema in Deutschland. 1968 wurde ein KMK-Beschluss verabschiedet, demzufolge Sexualerziehung als Teil der Gesamterziehung und damit als Aufgabe von Schule bestimmt wurde. In der damaligen DDR war ein entsprechender Erlass kurz zuvor verabschiedet worden.

Der für die Sexualerziehung in der Bundesrepublik konstitutive KMK-Beschluss war jedoch nur eine allgemeine Empfehlung, die lediglich einen groben Rahmen für den schulischen Unterricht vorgab; den Bundesländern oblag es, eigene Richtlinien zum Thema zu entwickeln. Übereinstimmend war im KMK-Beschluss und den damaligen Richtlinien von „Sexualerziehung“ die Rede, durchaus konsequent, denn in der auf einen breiten Konsens abzielenden Empfehlung sollte es um „Erziehung zu verantwortlichem geschlechtlichem Verhalten“ gehen (KMK 1968). Daneben etablierte sich aber auch der Begriff Sexualkunde.

Dass dies geschah, hing vielleicht damit zusammen, dass das erste für den Unterricht entwickelte Material, der (in der Tat rein biologisch ausgerichtete) „Sexualkunde- Atlas“ für einige Aufregung gesorgt hatte und sozusagen in aller Munde war. Und eigentlich war der Terminus „Sexualkunde“ auch treffender, schließlich sollte es in erster Linie um die Vermittlung von „sachlich begründetem Wissen“ gehen. Für die Grundschule bedeutete dies, dass die Unterschiede der Geschlechter zum Thema gemacht und die Kinder über die „biologischen Grundtatsachen der Fortpflanzung“ sowie über Veränderungen während der Pubertät informiert werden sollten. Es ging also um klassische Sexualaufklärung und zumindest in Ansätzen, um die Prävention sexuellen Missbrauchs, denn auf Gefahren, die durch „Kinderfreunde“ drohen würden, sollten die Kinder immer wieder hingewiesen werden. (KMK 1968)

Für höhere Klassenstufen wurden dann zwar Ziele benannt, die darüber hinauswiesen. Allerdings blieb die Rhetorik auch hier in einem Problemdiskurs verhaftet: Es ging um „geschlechtliche Probleme der Heranwachsenden“, um „sozialethische Probleme“, um „strafrechtliche Bestimmungen zum Schutz der Jugend“. Diese Art von Sexualpädagogik war letztlich Bewahrpädagogik, die darauf abzielte zu verhindern, dass „junge Menschen … in ihrem geschlechtlichen Verhalten aus bloßer Unwissenheit falsche Wege gehen.“ (KMK 1968)

Und so charakterisiert der heute antiquiert anmutende – aber auch in den aktuellen Diskussionen häufig verwendete – Begriff Sexualkunde wohl tatsächlich besser, was in der Schule geschehen sollte, als der offiziell gebräuchliche Terminus Sexualerziehung. Nur einige Länderrichtlinien zur Sexualerziehung gingen deutlich über das hinaus, was die KMK-Empfehlungen vorgaben. So hieß es beispielsweise in den wenige Jahre später verabschiedeten Richtlinien Nordrhein- Westfalens, dass es schulischer Sexualerziehung nicht darum gehen könne, die biologischen Phänomene von Sexualität isoliert von ethischen und sozialen Bedeutungen zu erörtern, sie vielmehr auf Veränderungen sexueller Einstellungen und Verhaltensweisen einzugehen habe. Auch die Überwindung überholter Vorstellungen und der Abbau von Vorurteilen wurden hier als Ziele von Sexualerziehung genannt (Nordrhein-Westfalen 1974).

Eltern verklagten Schulen

Aber gerade solche weitergehende Sexualerziehung war schon damals nicht unumstritten und wurde zum Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen. In zwei Fällen wurden die Klagen von Eltern bis zum Bundesverfassungsgericht getragen. Das 1977 ergangene Grundsatzurteil machte dann zwar einerseits deutlich, dass die Schule nicht nur für sachliche Informationen zum Thema Sexualität zuständig sei, sondern sie aufgrund des staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrags auch das Recht habe, darüber hinausgehende Bildungsziele zu verfolgen. Andererseits wurde die bloße Informationsvermittlung ganz offensichtlich als der unproblematischere Teil von Sexualerziehung angesehen, denn nur für diesen galt das Recht der Schule vorbehaltlos.

Zur eigentlichen Sexualerziehung wäre sie hingegen nur dann berechtigt, sofern dies schulgesetzlich konkret verankert wäre. In den Bundesländern, in denen das noch nicht der Fall gewesen war, geschah das zwar in der Folgezeit doch die damals vorgenommene Trennung zwischen der Vermittlung biologischer Fakten und der eigentlichen Sexualerziehung wurde von verschiedenen Seiten (etwa von Berufsverbänden) heftig kritisiert.

Die Zeitschrift 'Grundschule'
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Der Beitrag von der Erziehungswissenschaftlerin Dr. Renate-Berenike Schmidt, Gründungsmitglied der Gesellschaft für Sexualpädagogik, erschien zunächst in der Zeitschrift „Grundschule“ mit dem Titel „Streit um die Liebe: Sexuelle Bildung“. Hier lassen sich das Heft oder einzelne Beiträge daraus herunterladen (kostenpflichtig).

Erklärtes Ziel der sexuellen Bildung in einigen Bundesländern ist es, alle Kinder und Jugendlichen bei der Entwicklung ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität zu unterstützen und sie über Homo-, Bi-, Trans- und Intersexualität zu informieren. Doch: Dagegen regt sich wachsender Widerstand. Wie viel Vielfalt verträgt unsere Gesellschaft? Diese aktuelle Frage rund um das Thema sexuelle Bildung beschäftigt die „Grundschule“ in dieser Ausgabe.

Dennoch bleibt zu konstatieren, dass mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts festgeschrieben wurde, dass sich die Schule nicht auf die sexuelle Aufklärung beschränken muss, vielmehr auch die eigentliche Sexualerziehung unter die staatliche Schulhoheit falle. Die Voraussetzungen dafür, dass die Sexualkunde sich zur Sexualerziehung hätte wandeln können, waren also durchaus gegeben.

Was dann in den nächsten Jahren geschah, war dann aber alles andere als eine Erfolgsgeschichte der Sexualerziehung. Zwar hatten, einer 1980 durchgeführten Befragung zufolge, zwei Drittel der Jugendlichen, wesentliche Informationen zum Thema Sexualität durch die Schule erhalten, doch beschränkten sich diese im Wesentlichen auf sexualbiologische Inhalte (vgl. Müller 1992). Auch zeigte eine ab 1985 durchgeführte Untersuchung (Glück et al. 1990), dass bei den meisten Eltern dies auf generelle Akzeptanz stieß, sonst aber starke Skepsis herrschte.

Dann kam AIDS – und alles wurde anders

Randständig und weiterhin biologielastig – so lässt sich der Stand schulischer Sexualerziehung zur Mitte der 1980er Jahre umschreiben. Doch aus diesem „Dornröschenschlaf“ (Müller 1992) wurde sie dann unsanft geweckt. Denn da, das die Krankheit AIDS hervorrufende, HI-Virus auch durch sexuelle Kontakte übertragen werden konnte, wurde dieses schwerwiegende Problem zum Anlass genommen, über (schulische) Sexualaufklärung neu nachzudenken. Eine zunächst durchaus zweischneidige Angelegenheit, denn es ging nicht nur darum, auf eine reale Gefahr reagieren, sondern auch darum, dass diese Gefahr für die Re-Etablierung konservativer Moralvorstellungen instrumentalisiert werden konnte.

Hinzu kamen in jener Zeit die ersten Diskussionen über sexuellen Missbrauch in der Familie – ein weiteres sexualbezogenes Problemfeld. So war es damals auch für Uwe Sielert (1991) noch nicht ausgemacht, in welche Richtung Sexualpädagogik sich zukünftig entwickeln würde. Immerhin aber war die Gesundheitspolitik gefordert – und sie reagierte. Mit dem „Schwangeren- und Familienhilfegesetz“ von 1992 wurde Sexualaufklärung als staatliche Aufgabe bestimmt und mit der Umsetzung die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung beauftragt.

Diese beschränkte sich programmatisch nicht auf die klassischen Themen der Aufklärung, sondern setzte sich grundsätzlich für ein sexualfreundliches und verschiedenen Lebensstilen gegenüber offenes gesellschaftliches Klima ein. Sie markierte damit Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung der Disziplin. Sexualerziehung nahm jenseits von Präventions- und Bewahrpädagogik Gestalt an.

Zentraler Topos dieser Sexualpädagogik war und ist die sexuelle Selbstbestimmung. Themen sind nunmehr nicht nur Körper- und Sexualaufklärung und Ethik und Moral. Auch die Diskurse zur Geschlechtersozialisation, sexuellen Orientierungen, kulturellen Unterschiede, um Sexualität und Behinderung sind zu zentralen Inhalten geworden. Außer Frage steht auch, dass Sexualpädagogik sich verstärkt des Themas „Gewalt und Sexualität“ anzunehmen, dabei aber einer Überschattung des Sexuellen entgegenzuwirken hat (Sielert 2013). Bei alldem geht es der sexualpädagogischen Praxis mehr um ‚Be-Mündigung‘ als um Bevormundung.

Diese Entwicklung ist wohl ein wesentlicher Grund dafür, dass sich seit einigen Jahren neben dem Begriff Sexualpädagogik auch jener der Sexuellen Bildung zu etablieren beginnt. Diese Bezeichnung signalisiert deutlich, dass es nicht nur um Abwehr oder Reflexion sexueller Gefahren geht, sondern auch um Kultivierung der Sexualität, um sexuelle Lebenskunst und Sexualkulturbildung. Gleichzeitig wird signalisiert, dass hier emotionale und psychosoziale Fragen eine Rolle zu spielen haben.

Diese paradigmatische Neuausrichtung (ausführlich dazu Valtl 2013) rückt noch stärker die Selbstbestimmung der Subjekte in den Vordergrund und macht zudem deutlich, dass sexuelles Lernen in allen Lebensaltern geschieht. Wieweit diese paradigmatische Erneuerung bereits in der Schule angekommen ist, wäre noch zu untersuchen.

Zwar hat, rein quantitativ betrachtet, die Bedeutung der Schule in diesem Themenfeld weiter zugenommen: Der BZgA-Umfrage von 2010 zufolge berichten über 90 Prozent der 14-17 jährigen Jugendlichen, dass Sexualität ein Thema im Unterricht war. Doch noch immer geht es dabei ganz überwiegend um sexualbiologische Fragen und Antworten. Die aufgeregten Diskussionen um neue Bildungspläne und sexualpädagogische Materialien (die ja gar nicht als Unterrichtsmaterial gedacht sind, aber für pädagogische Fachkräfte einen Materialfundus auch für Themen jenseits des Mainstreams bieten) offenbaren zudem, dass Elternarbeit auch immer Teil der sexualpädagogischen Arbeit zu sein hat, und dass Sexualpädagogik ganz grundsätzlich mit der Aufgabe konfrontiert wird, ideologisch aufgeladenen Diskussionen, wissenschaftliche und sachliche Aufklärung entgegenzusetzen. Dies wird in den nächsten Jahren ein wichtiges Handlungsfeld sexueller Bildung sein.

Hier geht’s zur Reihe „sex’n’tipps“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – gratis herunterladbar.

Hier lassen sich die Zeitschrift „Grundschule“ mit dem Titel „Streit um die Liebe“ oder einzelne Beiträge daraus herunterladen (kostenpflichtig).

Neue Prüderie in Deutschland? Eltern setzen Schulen wegen Sexualerziehung zunehmend unter Druck

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E. S.
5 Jahre zuvor

Sexualkunde an sich ist m. E. nicht umstritten. Bestimmte Formen sind es allerdings.
Ich lehne z.B. die genderisierte Form, den sog. „Unterricht in sexueller Vielfalt“ ab, der von Lobbyisten mit Macht gewollt und in die Bildungspläne gedrückt wird. Das hat für mich weniger mit Aufklärung als mit Indoktrinierung zu tun.