Im Schülergericht entscheiden Gleichaltrige über Sanktionen

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BENSHEIM. Im Alkoholrausch und aus Frust über einen Streit mit seiner Freundin hat ein 18-Jähriger aggressiv auf ein Auto eingeschlagen und es erheblich beschädigt. Einen Nachbarn und die Polizei beleidigt er und wird handgreiflich. Seine Eltern müssen ihn schließlich aus der Ausnüchterungszelle abholen. Ein Fall für das Schülergericht, entscheidet die Staatsanwaltschaft Darmstadt.

Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg ebnete mit dem Urteil zur Arbeitszeit der niedersächsischen Gymnasiallehrer möglicherweise auch den Weg für Klagen anderer Lehrer. Foto: Balthasar Schmitt / Wikimedia Commons(CC-BY-SA-3.0)
Bei kleineren Vergehen von Jugendlichen gibt die Staatsanwaltschaft Hessen geeignete Fälle an dreiköpfige Schülergerichte ab. Foto: Balthasar Schmitt / Wikimedia Commons(CC-BY-SA-3.0)

Wie ein Gespräch in diesen kriminalpädagogischen Projekt abläuft, haben die erfahrenen Bensheimer «Teen Court-Richter» Amal (19), Nils (18), Lorenz (20) und Lukas (18) Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) demonstriert. Ihr Fall ist aus der Praxis entlehnt.

Zunächst stellen die Schüler dem Beschuldigten, der freiwillig kommen muss und oft seine Eltern mitbringt, das Projekt vor. «Wir haben Schweigepflicht», stellen sie klar und kündigen ihre möglichen Sanktionen an: bis zu 25 Sozialstunden und eventuell eine kreative Aufgabe. Dabei werde oft an den Hobbys der Beschuldigten angeknüpft, sagt Projektleiter Helmut Kohlmann, ein ehemaliger Polizist. So habe ein Rapper die Aufgabe bekommen, einen Song über seine Tat vorzulegen.

Die Schüler erklären dem jugendlichen Straftäter auch, dass seine Mitarbeit freiwillig ist, er bei einem erfolgreichen Abschluss aber keinen Eintrag ins Bundeszentralregister bekommt. «Erzähl, was Du gemacht hast», beginnt die Befragung. Es geht um die Tat, die Motivation, die Reaktion von Familie und Freunden. Hat er sich bei den Opfern entschuldigt? Muss er die Strafe selbst bezahlen und dafür jobben? Und wie bewertet er seine Tat auf einer Skala von eins bis zehn?

Eine dreiviertel Stunde dauert eine solche Verhandlung in einem Raum der Staatsanwaltschaft in Darmstadt in der Regel, wie Kohlmann sagt. Am Ende steht die Sanktion: In diesem Fall 18 Sozialstunden und eine Entschuldigung bei den Polizisten und dem Nachbarn. Dabei berücksichtigen die Schüler, dass der 18-Jährige rund 4000 Euro abbezahlen und dafür jobben muss.

Wochenendseminar zur Vorbereitung
Welche Qualifikation haben die Schüler? Sie werden genau ausgewählt. Jugendliche, die sich gleich als Richter fühlten, seien nicht die richtigen für das Projekt, sagt Kohlmann. In einem Wochenendseminar lernen die 14- bis 20-Jährigen neben Theorie vor allem Gesprächsführung, «und wie ich mich in einen anderen Menschen rein denke». «Wir machen keine Rechtsgelehrten aus den Kids», sagt Kohlmann. Lukas berichtet: «Wir haben gelernt, wie man ein Gespräch führt, wie man vielleicht auch Geheimnisse, Details und Hintergründe rauskriegt.»

Die verhandelnden Schüler und der Beschuldigte sollen nach Möglichkeit etwa gleich alt sein und sich nicht kennen. «Meist entwickelt sich da ein richtig tolles Gespräch», sagt Kohlmann. Die richtige Sanktion zu finden sei gar nicht leicht, so die Schüler. «Viele haben eine schwere familiäre Situation und man sieht, dass die Taten auch was Tieferes haben», sagt Lukas. Viele Menschen beschäftigten ihn auch noch längere Zeit, berichtet Lorenz. Als Beispiel nennt er einen Jugendlichen, dessen Vater im Gefängnis saß und dessen Mutter drogenabhängig war.

Die meisten Verhandlungen gingen für alle Seiten positiv aus, sagt Kohlmann. «Die Schüler sind absolut anerkannt.» Lukas hat allerdings einmal die Erfahrung gemacht, dass ihn ein Beschuldigter später im Bus erkannte und anrempelte.

Fachleute sehen bei den «Teen Courts» auch durchaus Risiken: Der Wiesbadener Kriminalpsychologe Rudolf Egg etwa sagt: «Ich bin gespalten: Es muss sehr darauf geachtet werden, dass das wirklich eine Verbesserung der Situation bringt und keine Verschlechterungen, wenn etwa die Geschädigten auf Ansprüche verzichten müssen.» Wichtig sei eine Begleitforschung dieses Projekts.

Diese Forschung in Bayern habe gezeigt, dass die Rückfallquote durch die Schülergerichte nicht zurückgehe, sagt der stellvertretende Landesvorsitzende der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ), Harald Hirsch. Er hält die Schülergerichte sogar für «verfassungswidrig», unter anderem weil Daten weitergegeben würden. Ira Schaible (dpa)

Verhandlungen der Schülergerichte
Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden hat 2005 mit dem Projekt begonnen. Ende 2008 schloss sich der Landgerichtsbezirk Limburg an. Seit 2016 ist auch der Bezirk Darmstadt dabei. In Südhessen gab es im vergangenen Jahr 33 Sitzungen – vier mehr als im ersten Jahr, wie das Justizministerium berichtet. Alle endeten mit der Auflage, gemeinnützige Arbeit zu erledigen.

Dazu kamen Aufsätze, Recherche-Aufträge oder Collagen. In Wiesbaden sind im vergangenen Jahr 38 Fälle von einem Schülergericht verhandelt worden, fünf weniger als im Vorjahr. In Limburg waren es 30 (minus zwei). Fast alle zugewiesenen Fälle werden auch verhandelt. Voraussetzung ist die Zustimmung des Beschuldigten und – wenn er minderjährig ist – auch seiner Eltern. dpa

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