Das Thema Demokratie kommt in den Schulen zu kurz – aber (Überraschung!) an der Überlastung der Lehrer liegt das nicht

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GÜTERSLOH. Demokratie muss gelernt werden – keine Frage, und wo sonst sollte das geschehen als in der Schule, wo Kinder und Jugendliche sich in eine Gemeinschaft einfügen müssen. Dem werden Schulen in Deutschland derzeit aber nicht hinreichend gerecht, wie eine Befragung unter mehr als 1.200 Lehrkräften im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zeigt. Erstaunlicherweise hat die – von den Lehrerinnen und Lehrern als durchaus stark empfundene Regulierungsdichte und der hohe Zeitdruck – kaum Einfluss auf die Intensität schulischer Demokratiebildung. Die Forscher haben hingegen eine andere Ursache dafür ausgemacht, dass Demokratie im Unterricht nur eine untergeordnete Rolle spielt: Das Thema wird in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften zu wenig behandelt.

Demokratische Prinzipien in der Schule zu vermitteln, braucht Zeit. Foto: Shutterstock
Demokratische Prinzipien in der Schule zu vermitteln, braucht Zeit, aber auch Know-how. Foto: Shutterstock

Demokratie ist erklärungsbedürftig. Wofür gibt es Regeln wie die Gewaltenteilung? Bestimmt immer die Mehrheit? Warum gibt es Grenzen – etwa zum Schutz von gesellschaftlichen Minderheiten? Wieso dauern Entscheidungen häufig so lange und werden dann noch durch Kompromisse verwässert? Viele Menschen verstehen das zunehmend komplexe demokratische System nicht und sind deshalb anfällig dafür, auf (zu) einfache politische Heilsversprechen hereinzufallen. Demokratiebildung berührt nichts Geringeres als die Grundlage von Staat und Gesellschaft.

Trotzdem ist das Thema in Schulen nur eins von vielen: In einer neuen Online-Befragung des Berliner Instituts für Gesellschaftsforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung geben knapp vier Prozent der Lehrkräfte an, dass Demokratiebildung einen hohen Stellenwert in ihrem Schulalltag hat. Für die meisten Lehrkräfte (96 Prozent) ist schulische Demokratiebildung lediglich von mittlerer Bedeutung. Aber: Fast Dreiviertel der Lehrkräfte geben an, selbst einen demokratischen Umgang mit ihren Schülern zu pflegen und eine Orientierung an Werten wie Respekt, Fairness und Gleichbehandlung zu vermitteln. Dennoch sind die Möglichkeiten für Schüler, sich im Schulalltag demokratisch zu beteiligen, ausbaufähig.

Eigene Unterrichtsformate? Extrem selten

Unterrichtsformate, die Demokratiebildung stützen, werden nur von 1,3 Prozent der Lehrkräfte umfassend eingesetzt. Zum Beispiel die Teilnahme an Schülerparlamenten, Projektwochen mit Fragen zu Demokratie-Entwicklung oder etwa an einem Demokratietag ist in Schulen eine absolute Ausnahme. Weniger als zehn Prozent der Lehrkräfte geben an, dass ihre Schüler mit solchen Formaten der Demokratiebildung in den letzten zwölf Monaten Erfahrungen machen konnten. Dazu kommt, dass sich nur rund die Hälfte der Befragten von ihren Schülern in diesem Zeitraum ein systematisches Feedback eingeholt hat, in dem die Schüler auch Kritik am Unterricht üben durften.

Befragt worden waren die Lehrkräfte auch zu den Rahmenbedingungen ihrer pädagogischen Arbeit. Die Vermutung der Wissenschaftler war, dass Überlastung und zu wenige Freiräume das Engagement der Lehrerinnen und Lehrer für Demokratiebildung einschränken würden. Tatsächlich verspüren auch fast zwei Drittel der Befragten (61,8 Prozent) im Lehrerberuf hohen Zeitdruck. Knapp die Hälfte der befragten Lehrkräfte (49,4 Prozent) fühlt sich durch Vorschriften und Regeln in ihrer Arbeit stark eingeschränkt. Überraschenderweise aber lautet der Befund: „Die empfundene Regulierungsdichte und der empfundene Zeitdruck üben entgegen den Erwartungen keinen Einfluss auf die Intensität schulischer Demokratiebildung aus.“ Scheinbar bieten sich im Schulleben durchaus Möglichkeiten, das Thema umfassend anzugehen – für diejenigen Lehrkräfte, die es wollen und wissen, wie’s geht.

Aber das sind offensichtlich zu wenige. In der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften sind Inhalte der Demokratiebildung unterrepräsentiert. Nur 16 Prozent der Befragten haben sich im Studium damit intensiv auseinandergesetzt, im Referendariat sinkt der Wert auf 13 Prozent und in der Weiterbildung ist das Thema für 18 Prozent von hoher Relevanz. „Lehrkräfte haben viele Möglichkeiten, jungen Menschen in Schulen Demokratie zu vermitteln. Wir müssen sie dabei unterstützen, sich für diese Aufgabe in Aus- und Weiterbildung die notwendigen Kompetenzen anzueignen“, sagt Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung

Hier seien die Länder gefragt, um entsprechende Qualifizierungsangebote im Studium, Referendariat und der Lehrerweiterbildung auszubauen. Aber auch zivilgesellschaftliche Akteure könnten durch Projekte und Programme einen Beitrag leisten. „Die Bertelsmann Stiftung hat zum Beispiel mit Experten aus Wissenschaft und Praxis den digitalen MOOC-Kurs ‚Citizenship Education – Demokratiebildung in Schulen‘ entwickelt und stellt ihn Studierenden kostenlos zur Verfügung“, erklärt Mohn (siehe Beitrag unten). Wie Schulen Demokratie leben und vermitteln können, sollte in der Qualifizierung von Lehrkräften einen höheren Stellenwert bekommen. So könnten sie die erforderlichen Kompetenzen erwerben, um Schüler zu befähigen, sich mit der Gesellschaft kritisch auseinanderzusetzen, reflektiert Urteile bilden zu können und das Gemeinwesen verantwortlich mitzugestalten.

Die Grundlage dafür, immerhin, ist gegeben: Die heutige Lehrergeneration sieht sich laut Umfrage in der ganz überwiegenden Mehrheit einer demokratischen Schul- und Unterrichtskultur verpflichtet. Agentur für Bildungsjournalismus

Der kostenlose Online-Kurs 'Demokratiebildung in Schule'

Die Bertelsmann Stiftung hat gemeinsam mit dem Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibniz Universität Hannover einen Online-Kurs „Citizenship Education – Demokratiebildung in Schulen“ entwickelt. Er ist als sogenannter „Massive Open Online Course“ (MOOC) konzipiert und spricht sowohl Lehramtsstudierende wie auch Lehrerinnen und Lehrer an. Die Interessengemeinschaft Demokratiebildung – ein Zusammenschluss von Politikwissenschaftlern und Didaktikern sowie Akteuren der politischen Bildung – hat die Konzeption des MOOC beraten.

Der MOOC bietet die Möglichkeit, Lernprozesse individuell, flexibel, orts- und zeitunabhängig zu gestalten. Er wird kostenlos angeboten und vermittelt Wissen, Methoden und Praxisbeispiele. Der MOOC zeigt Handlungsansätze für eine demokratische Schulentwicklung und eine Lernkultur des Mitentscheidens und Mithandelns auf, die auf einer digitalen Plattform gebündelt werden.

Der Online-Kurs umfasst neun Module. Die ersten drei beleuchten grundlegende Fragen. Sie zeigen auf, vor welchen Herausforderungen die demokratische Zivilgesellschaft gegenwärtig steht, erläutern den normativen Auftrag von Schule im Bereich der Demokratiebildung und vermitteln lerntheoretische Grundlagen zu der Frage, wie Schülerinnen und Schüler demokratische Kompetenzen erwerben. Die folgenden sechs Module greifen zentrale Themen demokratischer Schulentwicklung auf:

  •     Zusammenleben in der diversen Gesellschaft,
  •     Menschenrechtsbildung,
  •     Mitgestaltung durch Engagement und Partizipation,
  •     Nachhaltigkeit und Globalisierung,
  •     Demokratiebildung im digitalen Zeitalter und
  •     Demokratische Schulentwicklung.

Alle Inhalte werden in unterschiedlichen Formaten aufbereitet und leicht verständlich präsentiert: Animationsfilme führen in die Themen ein, die in E-Lectures und in Experteninterviews vertieft werden. Dabei wird nicht nur die Perspektive der Wissenschaft und von Akteuren der politischen Bildung einbezogen, sondern auch die von Schülerinnen und Schülern sowie von Lehrkräften. Um die Praxisorientierung weiter zu stärken, umfasst das Medienpaket auch Reportagen über Schulen, die sich auf den Weg der demokratischen Schulentwicklung begeben haben. Das Angebot des MOOC wird abgerundet durch Quizze zur Wissensüberprüfung und Foren zur Vernetzung.

Hier geht es zum kostenlosen MOOC-Kurs „Citizenship Education – Demokratiebildung in Schulen“.

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Huppefrosch
5 Jahre zuvor

Der Bertelsmannkonzern erschließt sich neue Geschäftsfelder – das freut die Aktionäre und die Familie Mohn. Mich natürlich auch.