Jedes zehnte Kind ist ein „Frühchen“ – das hat Konsequenzen auch für die Schulen

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HANNOVER. Heute überleben viel mehr Frühgeborene als noch vor 40 Jahren – und: Sie entwickeln sich in der Regel gut. Allerdings müssen sich Schulen auf die besonderen Bedürfnisse dieser Kinder einstellen.

Die Frühchen-Medizin macht große Fortschritte. Foto: Aneta Meszko / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)
Die Frühchen-Medizin macht große Fortschritte. Foto: Aneta Meszko / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Marie verfolgt alles um sie herum mit großen Augen. Und wenn ihre Mutter da ist, ist die Welt für sie in Ordnung. Die Einjährige und ihre Mutter Janine Schöneis haben eine ganz besonders enge Beziehung. Als das Mädchen auf die Welt kam – drei Monate vor dem eigentlichen Geburtstermin – wog sie nur 830 Gramm. Für die Familie aus Menden im Sauerland begannen damit bange und intensive Wochen. Inzwischen wiegt sie stolze sieben Kilo, robbt durch das Wohnzimmer und zieht sich an Stühlen hoch.

Frühchen sind die größte Patientengruppe im Kindesalter: Rund 60.000 Babys kommen jedes Jahr in Deutschland vor der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt. Die gute Nachricht: Die Überlebensrate der Frühgeborenen ist kontinuierlich besser geworden.

«Es ist total erfreulich», sagt Wolfgang Göpel, Leiter des Deutschen Frühgeborenen Netzwerks. Das vom Bund geförderte Projekt hat bisher fast 20.000 Frühchen erfasst und bereits über 2000 von ihnen im Alter von fünf Jahren untersucht. «Die meisten überleben gesund», betont der Neonatologe vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck.

So ist es auch bei Marie. Mit 2245 Gramm wird sie nach fast zwei Monaten aus der Klinik entlassen. Regelmäßige Untersuchungen beim Kinderarzt zeigen schnell, dass Marie keine Folgeschäden davon getragen hat. Marie sei zwar ein zartes Kind, sagt ihre Mutter, aber die Entwicklung sei altersgerecht.

Nebenwirkungen der Medikamente?

In der Frühgeborenenmedizin gibt es dennoch Verbesserungsmöglichkeiten. Forschungsbedarf sieht Göpel vor allem noch bei der Arzneimittelsicherheit. «Wir benötigen mehr Daten, was Nebenwirkungen von Medikamenten angeht», sagt er. So haben häufig eingesetzte Medikamente möglicherweise langfristig negative Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung. Der Intelligenzquotient lässt sich erst ab einem Alter von fünf Jahren messen.

Für die medizinische und pflegerische Versorgung von Frühchen gibt es strenge Vorgaben, die 2013 noch einmal verschärft wurden. Bundesweit haben die sogenannten Perinatalzentren derzeit Schwierigkeiten, ausreichend Fachpersonal zu finden. Zuletzt hatte die Medizinische Hochschule Hannover (MHH) berichtet, dass sie in diesem Jahr 298 schwerkranke Kinder aus anderen Häusern nicht aufnehmen konnte, weil es nicht genug Intensivpflegekräfte gibt.

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«Diese Dinge müssten politisch gelöst werden», sagt die Präsidentin der Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin, Ursula Felderhoff-Müser. «Die gesamte Kinderheilkunde ist unterfinanziert.» In einigen Regionen könnten Perinatalzentren zusammengelegt werden, schlägt die Direktorin der Klinik für Kinderheilkunde an der Universität Essen vor. Dabei sei zu beachten, dass auch die Häuser ohne Perinatalzentren höchster Versorgungsstufe weiterhin genug Geld bekommen.

In Deutschland gab es 2017 insgesamt 165 Perinatalzentren der Stufe 1 und 46 der Stufe 2. Bei der überwiegenden Mehrheit der Fälle ist die Frühgeburt schon während der Schwangerschaft absehbar und damit planbar. Die Eltern können sich unter anderem mit Hilfe der Internet-Seite www.perinatalzentren.org eine passende Klinik aussuchen.

Ursache für eine Frühgeburt können Störungen an der Gebärmutter oder Plazenta sein. Dem Verband für das frühgeborene Kind zufolge kommen oft körperliche und psychische Gründe zusammen. So machten Stress und Ängste den Körper anfällig für Infektionen und Krankheiten und könnten eine Frühgeburt auslösen. Psycho-soziale Aspekte sollten Hebammen während der Betreuung in der Schwangerschaft noch stärker beachten, meint Ursula Jahn-Zöhrens aus dem Präsidium des Deutschen Hebammenverbandes. «Die Begleitung muss ganzheitlicher gesehen werden.»

Unterstützung benötigen die Eltern auch, wenn sie oft erst Monate nach der Geburt ihr Kind aus der Klinik mit nach Hause nehmen dürfen. Zuvor gab es eine 24-Stunden-Überwachung von spezialisierten Pflegekräften, jetzt sind sie auf einmal allein verantwortlich. «Es geht darum, dass die Eltern Selbstvertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten gewinnen», sagt Tanja Brunnert aus Göttingen, Sprecherin des Landesverbandes der Kinder- und Jugendärzte für Niedersachsen.

Der Verband für das frühgeborene Kind setzt sich zudem dafür ein, dass Frühchen-Eltern auch über den 14. Lebensmonat hinaus Elterngeld beziehen können. «Häufig sind die Kinder mit einem Jahr noch nicht so weit, dass sie in eine Kita oder zu einer Tagesmutter können», sagt Verbandssprecherin Katarina Eglin. Von Christina Sticht, dpa

Frühgeborene in der Grundschule

„Frühchen brauchen mehr Zeit, durchdachte methodisch-didaktische Unterstützung und mehr begleitende Struktur, um ihren eigenen Lernprozess erfolgreich zu gestalten“, so heißt es in einer Broschüre des Landesverbands „Früh- und Risikogeborene Kinder Rheinland-Pfalz“ zum Thema „Frühgeborene in der Grundschule“.

Rund zehn Prozent aller Kinder kämen heute als Frühgeborene zur Welt. Die Tendenz sei steigend. „Die Wahrscheinlichkeit, dass sich auch unter Ihren Schülern frühgeborene Kinder befinden, ist dementsprechend hoch“, heißt es. Frühgeborene seien weder „alle behindert“ noch habe sich ihre Frühgeburtlichkeit bis zum Schulalter „ausgewachsen“. Diese Vorurteile, die an der eigentlichen Problematik vorbeigehen, seien immer noch vereinzelt anzutreffen.

„Durch die zu frühe Geburt sind Unsicherheiten in Wahrnehmung, Konzentration  und  Planungskompetenz  entstanden.  Diese  können durch geeignete didaktisch-methodische Maßnahmen aufgefangen werden. Nur so kann solchen Kindern, die über eine normale  Intelligenz  verfügen,  ein  stetiger  Lernfortschritt  und  damit  schulischer Erfolg ermöglicht werden. Um frühgeborene Kinder also optimal  zu fördern, indem man von ihren speziellen Bedürfnissen ausgeht, ist es nötig, dass Sie als Lehrerinnen  und  Lehrer  Ihre  Kernkompetenzen,  nämlich  Methodik  und  Didaktik,  in  besonderem  Maße  einsetzen.“

Hier lässt sich die Broschüre gratis herunterladen.   

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

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Hans-Jürgen Wirthl, Vorsitzender Landesverband Früh- und Risikogeborene Kinder RLP e.V.
5 Jahre zuvor

Der im Hinweiskasten unten genannte Link zu der Broschüre „Frühgeborene in der Grundschule“ führt zum Downloadbereich der Kinderklinik Essen. Dort wird allerdings eine veraltete Ausgabe vorgehalten.
Neben anderen Informationen ist die aktuelle Ausgabe der Broschüre auf der Website des herausgebenden Landesverbandes „Früh- und Risikogeborene Kinder Rheinland-Pfalz“ e.V. unter https://www.fruehgeborene-rlp.de/160bestellung.php als Download verfügbar, aber auch als Druckversion kostenfrei bestellbar.