Leuchttürme ohne Strahlkraft? „Talentschulen“ sollen armen Kindern mehr Chancen geben

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DÜSSELDORF. Rot-Grün wollte in Nordrhein-Westfalen «kein Kind zurücklassen». Schwarz-Gelb will dieses Versprechen nun mit sogenannten Talentschulen einlösen. Aber wie weit strahlt das Licht dieser bildungspolitischen Leuchttürme?

Wie Leuchttürme in einsamer Landschaft: Talentschulen sollen für mehr Chancengerechtigkeit sorgen. Foto:  Detlev Müller  / pixelio.de
Wie Leuchttürme in einsamer Landschaft: Talentschulen sollen für mehr Chancengerechtigkeit sorgen. Foto: Detlev Müller / pixelio.de

Das Ruhrgebiet ist der Gewinner des neuen Schulversuchs mit sogenannten Talentschulen an sozialen Brennpunkten. 22 der 35 besonders ausgestatteten ersten Talentschulen seien aus der Region Ruhr ausgewählt worden, berichtete der nordrhein-westfälische Schulstaatssekretär Mathias Richter am Freitag in Düsseldorf. Davon stammten 17 «aus dem Kern-Ruhrgebiet». Bei insgesamt 149 Bewerbungen bekam kein anderer Landesteil mehr Zusagen. Die Schulen beginnen ab dem kommenden Schuljahr mit ihren Förderkonzepten.

«Eines der zentralen Projekte der Landesregierung wird mit Leben gefüllt», unterstrich Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) bei der Vorstellung der Gewinnerschulen. Ziel sei es, «den Bildungserfolg der Kinder und Jugendlichen von ihrer sozialen Herkunft und den Einkommensverhältnissen des Elternhauses zu entkoppeln».

Dafür werde die Landesregierung jährlich 22 Millionen Euro investieren, um über 400 zusätzliche, unbefristete Lehrerstellen und 150 000 Euro für Fortbildung in das Modellprojekt zu geben. Weitere 25 Talentschulen sollen zum übernächsten Schuljahr an den Start gehen.

Eine Zusage bekamen, quer über das Land verteilt, jeweils sechs Gymnasien, Hauptschulen und Berufskollegs, zehn Gesamtschulen, fünf Realschulen und zwei Sekundarschulen. Die allgemeinbildenden Schulen erhalten 20 Prozent mehr Personalausstattung gemessen am Grundbedarf, Berufskollegs mindestens vier zusätzliche Stellen. Sie sollen unter anderem eingesetzt werden, um Fachunterricht auszubauen, Ausfälle zu mindern und Schüler intensiver zu beraten. An jeder Talentschule soll mindestens eine Stelle für Sozialarbeit eingerichtet werden.

Lehrergewerkschaften reagieren kritisch. «Einzelne Leuchttürme zu fördern, schafft keine Chancengerechtigkeit», stellte der Landeschef des Verbands Bildung und Erziehung, Stefan Behlau, fest. «99 Prozent aller Schulen profitieren vorerst nicht vom Schulversuch.» (Siehe Beitrag unten) Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) nannte es ein Rätsel, wie das kleine Pilotprojekt den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg auflösen solle.

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«Schulministerin Gebauer steht im Wort und muss die Zusagen für mehr Personal und bessere Ausstattung auch wirklich einhalten», mahnte die GEW-Landesvorsitzende Dorothea Schäfer. Im Koalitionsvertrag verspricht die schwarz-gelbe Regierung, sie werde Talentschulen «mit exzellenter Ausstattung und modernster digitaler Infrastruktur in Stadtteilen mit den größten sozialen Herausforderungen einrichten».

Ein Ausstattungsbudget hat die Landesregierung dafür allerdings nicht vorgesehen. «Die Schulträger haben zugesichert, dass sie mehr in die technischen und baulichen Voraussetzungen investieren», erklärte Staatssekretär Richter.

Beworben hatten sich die Gewinnerschulen mit den Förderprofilen Kultur, gewerblich-technische Gestaltung oder «MINT» (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). Gerade die MINT-Fächer sind aber an den meisten Schulen Mangelware.

«Wir haben generell Lehrerknappheit», räumte die Ministerin ein. Die neuen Stellen müssten aber nicht mit grundständig ausgebildeten Lehrern besetzt werden. Seiteneinsteiger aus der Kunst seien ebenso willkommen wie Leute aus Unternehmen. Die Ministerin hofft, dass jüngste Entlassungen in einigen Konzernen geeignete MINT-Experten in die Schulen bringen werden. «Wir werben aber nicht aktiv an.»

Verschärfte soziale Spaltung?

Die GEW erinnerte die Landesregierung an ihre Ankündigung im Koalitionsvertrag, die Schüler-Lehrer-Relation in sozial schwierigen Stadtteilen zu verbessern. Die Koalition habe bereits rund 2800 Lehrerstellen unter Berücksichtigung eines solchen Sozialindexes verteilt – doppelt so viele wie die rot-grüne Vorgängerregierung, betonte Gebauer. Sie überlege derzeit, ob der Index, der die soziale Belastung in Schulamtsbezirken bemisst, künftig auch «schulscharf» ausgerichtet werden könnte, um die Ressourcen noch gezielter zu verteilen.

Alle Talentschulen werden sechs Jahre in dem Modellprojekt arbeiten, das auch wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden soll. Für SPD-Fraktionsvize Jochen Ott ist bereits klar: «Jede Schule sollte eine Talentschule sein.» Mit ihrem Ansatz verschärfe die Ministerin bloß die soziale Spaltung. Gebauer setzt hingegen darauf, dass die Talentschulen «eine Sogkraft entwickeln, die über die einzelne Schule hinausgeht». Auch der Verband Lehrer NRW sieht hier einen «Schulversuch mit Signalwirkung». Von Bettina Grönewald, dpa

VBE: Scharfe Kritik

DÜSSELDORF. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) NRW kritisiert den Wettbewerb unter den Schulen um angemessene Ressourcen scharf. „Gerade Schulen in einem schwierigen sozialen Umfeld stehen vor besonderen Herausforderungen. Einige dieser Schulen sind jetzt sogar in einen Wettbewerb um Ressourcen gegangen. Jeder einzelne Schüler, jede einzelne Schülerin verdient die bestmögliche Bildung und Erziehung“, erklärt Stefan Behlau, Landesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) NRW.

Übt Kritik: VBE-Landeschef Stephan Behlau. Foto: VBE

Der VBE hat kein Verständnis dafür, dass erst evaluiert werden soll, ob zusätzliches pädagogisches Personal und eine bessere Ausstattung das Lernen fördern. „Das liegt doch auf der Hand. Kleinere Lerngruppen ermöglichen eine stärkere individuelle Förderung. Denn individuelle Förderung bedeutet auch Beziehungsarbeit – gerade bei Schulen, die in einem herausfordernden Umfeld liegen, darf dies nicht außer Acht gelassen werden. Mehr Lehrkräfte und pädagogisches Personal sind Möglichmacher für eine bessere Unterrichtsqualität, gelingende Lernatmosphäre und vermindern zudem den Unterrichtsausfall. Alle Schülerinnen und Schüler in ganz NRW haben es verdient, dass ihre Schule ausreichend und zeitgemäß ausgestattet ist“, erklärt Behlau.

Der Schulversuch soll sechs Jahre laufen, Grundschulen konnten sich nicht bewerben. Stefan Behlau: „Es ist zudem absolut unverständlich, dass Grundschulen gar nicht erst die Chance erhielten, sich zu bewerben. Diese Schulform wurde in der letzten Zeit zu Unrecht für viele nega-tive Entwicklungen verantwortlich gemacht, dabei wird gerade hier das Fundament für eine erfolgreiche Schul- und Bildungsbiographie gelegt. Das steigert nochmals deutlich die Erwartungshaltung auf den Masterplan Grundschule.“ Der VBE fordere „für die übrigen 99 Prozent der Schulen“ Maßnahmen, um sie zeitnah bestmöglich auszustatten.

 

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Pälzer
5 Jahre zuvor

«99 Prozent aller Schulen profitieren vorerst nicht vom Schulversuch.» Kann jemand mal VBE und GEW erklären, dass es zum Wesen von Schulversuchen gehört, dass (noch) nicht alle mitmachen? Hätten wir vor G8 doch Schulversuche gemacht!!