Debatte auf dem Deutschen Schulleiterkongress: Die Digitalisierung rollt mit Wucht auf die Klassenzimmer zu – wie können Lehrer darauf reagieren?

4

DÜSSELDORF. Die Schulen in Deutschland – das war auf dem Deutschen Schulleiterkongress (DSLK) deutlich zu spüren – stehen vor großen Veränderungen, stecken eigentlich schon mitten drin in einem gewaltigen Transformationsprozess: Die Digitalisierung, die Wirtschaft und Gesellschaft längst erfasst hat, rollt mit Wucht auf die Klassenzimmer zu (ob die Kollegien das nun wollen oder nicht). Was bedeutet dieser Wandel? Mehr als 2.700 Schulleiterinnen und Schulleiter sowie Dutzende Referenten und Experten diskutierten auf dem DSLK in Düsseldorf drei Tage lang über die Herausforderung, über Chancen, aber auch Probleme, die der Epochenwechsel mit sich bringt. 

Der Deutsche Schulleiterkongress ist mit mittlerweile 2700 Teilnehmern die größte Veranstaltung ihrer Art in Deutschland. Foto: DSLK / Rainer Keuenhof

Ranga Yogeshwar wurde persönlich. Nach seinem ersten Schultag, seinerzeit noch in Indien, sei er höchst irritiert nach Hause gekommen. Er – Sohn eines Ingenieurs und einer Kunsthistorikerin, Enkel zudem eines renommierten Bibliothekars – sei ein neugieriger Junge gewesen, der sich gerne herumgetrieben und auf Neues eingelassen habe. In der Schule aber habe er auf einer Bank stillsitzen müssen, er habe nicht reden dürfen und habe sich eingesperrt gefühlt. „Das Lernen in der Schule war für mich zunächst mit Einschränkung verbunden, später mit schlechter Luft“, berichtete der renommierte Physiker, Deutschlands bekanntester Wissenschaftsjournalist.

Bis heute habe sich an diesem „Lernen im Gleichschritt“ wenig geändert, auch an den muffigen Klassenzimmern nicht.  „Dabei ist Lernen ist kein linearer Prozess, das wissen wir alle“, sagte Yogeshwar, Vater von vier Kindern. Doch das, was jetzt über die Welt hereinbreche, werde auch die Schulen nicht unberührt lassen: eine Digitalisierung, die die Kultur grundlegend verändert. So wie teure gedruckte Enzyklopädien innerhalb weniger Jahre praktisch vollständig durch das offene Online-Lexikon Wikipedia verdrängt worden seien, verändere sich auch die Bildung – das Modell „ein Sender, viele Empfänger“ habe ausgedient. „Heute ist jeder ein Sender“, erklärte Yogeshwar.

DSLK 2020

Der Autor und Schauspieler Hannes Jaenicke. Foto: Jürgen Bauer

Für den 9. Deutschen Schulleiterkongress im kommenden Jahr haben sich erneut über 120 hochkarätige Experten aus Praxis, Wissenschaft und Forschung angekündigt – sowie viel Prominenz, darunter der Jugendforscher Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, der Fußballexperte und Unternehmer Reiner Calmund, Bestseller-Autorin Hera Lind, der Schauspieler, Autor und Umweltaktivist Hannes Jaenicke sowie Ralph Caspers, Moderator der Sendung „Wissen macht Ah!“ und das neue Gesicht der „Sendung mit der Maus“. Der Kongress findet vom 19. bis 21. März 2020 im CCD Düsseldorf statt.  Anmeldungen sind ab sofort möglich.

www.deutscher-schulleiterkongress.de

Das bedeutet für die Schule: Offene Lehr- und Lernprozesse werden die Wissensvermittlung in der tradierten Taktung von Fächern, Klassenarbeiten und Jahrgangsstufen ablösen. „Unser System muss fundamental anders werden“, so forderte Yogeshwar. „Wir müssen weg von einer Leistungsorientierung, die sich allein an Tests und Abschlüssen ausrichtet, hin zu einer echten Lernorientierung.“ Die Grundlage dafür: eine vertrauensvolle und enge Beziehung zwischen Lehrern und Schülern. „Ihr Job ist dafür unendlich wichtig“, so sagte Yogeshwar in Richtung seines Publikums – mehr als 2.700 Schulleitern auf dem Deutschen Schulleiterkongress.

Allerdings – daraus machte auch Yogeshwar keinen Hehl – hat die Digitalisierung Schattenseiten. Nicht jede Innovation ist sinnvoll. Yogeshwar präsentierte eine Dose, der sich per App die Information entlocken lässt, wie viel noch drin ist (was sich auch durch bloßes Reingucken herausfinden ließe), und eine Armbanduhr, die anzeigen soll, ob der Träger gestresst ist (was er selbst ja am besten weiß). „Ich verstehe auch nicht, wie Menschen sich freiwillig Mikrophone in ihre Häuser holen können“, sagte er mit Blick auf Sprachassistenten wie Alexa, Siri und Co – die Stasi hätte ihre helle Freude daran gehabt. Yogeshwar zog daraus die Konsequenz: „Wir brauchen eine neue Ethik“, Maßstäbe eben, die in der digitalen Welt der schier unbegrenzten Möglichkeiten als Kompass dienen können.

Schüler in einer „ständig reizüberfluteten Welt“

Auch die Überreizung durch digitale Medien  wird zunehmend zum Problem, wie der Hirnforscher Prof. Martin Korte von der TU Braunschweig in seinem Vortrag feststellte. „Multitasking“ sei ein Mythos. In einer „ständig reizüberfluteten Welt“ leide die Konzentration. Jugendliche, die ständig ihr Smartphone im Auge hätten, wären ständig an mindestens zwei Orten gleichzeitig und litten unter einer „riesigen  Überlastung“. Das hat Folgen: Die ADHS-Diagnosen hätten sich in den vergangenen 50 Jahren verdreizehnfacht – einerseits, weil einfach mehr Kinder entsprechend getestet würden, andererseits aber eben auch, „weil die Welt komplexer geworden ist“, beanspruchender durch digitale Medien, was bei gefährdeten Kinder dann zu krankhaften Symptomen führen könne.

Schlimmer noch, wie der Kinderpsychiater Dr. Michael Winterhoff zu berichten wusste: die Überreizung habe ja längst auch die Erwachsenen erfasst, die Lehrer und Eltern also. „Wir sind bei allen Krisen weltweit live dabei“, sagte der Bestseller-Autor („Warum unsere Kinder Tyrannen werden“) – aus der Informationsflut, dem medialen Dauerfeuer rührten diffuse Ängste, Überdrehtheit, Nervosität. Wer mit Kindern lebe oder arbeite, müsse diesem Teufelskreis durch regelmäßige Auszeiten entfliehen. Winterhoff riet zu regelmäßigen Spaziergängen im Wald (ohne Smartphone). Und sagte voraus: „Ihre Ruhe überträgt sich auf die Schüler.“

Wie geht das zusammen – die Forderung nach einem neuen Lernen in der digitalen Welt mit dem Befund, dass immer mehr Kinder mit ebenjener digitalen Welt Probleme haben? Vielleicht so: Martin Fugmann, früherer Schulleiter der Deutschen Schule im kalifornischen Silicon Valley (dem Sitz der Internet-Giganten), präsentierte während seines Vortrags Fotos von US-amerikanischen „Schulen der Zukunft“, die von den Söhnen und Töchtern der Google-, Amazon- und Facebook-Ingenieuren besucht werden. „Sehen Sie hier einen Computer?“, fragte er sein Publikum. Tatsächlich: nicht zu erkennen. Dafür Kinder, die Algorithmen „spielen“, die offen und gemeinschaftlich lernen, die ihre Kreativität in den vermeintlichen Nebenfächern entwickeln. Die Technik, so Fugmann – der mittlerweile das Evangelisch Stiftische Gymnasium Gütersloh  leitet –, erweitere das methodische Instrumentarium der Lehrerschaft, erleichtere personalisiertes Lernen. Im Vordergrund müsse aber stets die Pädagogik stehen.

Mit Winterhoffs Worten: „Wir müssen uns wieder finden. Nicht das Gerät darf uns bestimmen – wir bestimmen das Gerät.“ Andrej Priboschek / Agentur für Bildungsjournalismus

DSLK: Was kommt heraus, wenn eine Schule sich strikt nach Hattie und Co. ausrichtet? Ein bemerkenswert traditionell arbeitendes Kollegium

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

4 Kommentare
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
FElixa
5 Jahre zuvor

Das war jetzt der wie vielte Beitrag zur DSLK, in dem es darum ging wie sich Schule massiv verändern wird? Kann denn mal jemand erklären wie genau? Reden können viele, aber konkrete Vorschläge gab es keine.

„Martin Fugmann, früherer Schulleiter der Deutschen Schule im kalifornischen Silicon Valley (dem Sitz der Internet-Giganten), präsentierte während seines Vortrags Fotos von US-amerikanischen „Schulen der Zukunft“, die von den Söhnen und Töchtern der Google-, Amazon- und Facebook-Ingenieuren besucht werden. „Sehen Sie hier einen Computer?“, fragte er sein Publikum. Tatsächlich: nicht zu erkennen. “

Tatsächlich wäre eine perfekte Schule eine Bildungsstätte ohne viel Technik. Nur das ist halt an öffentlichen Schulen utopisch, wenn individuelles und selbstständiges Lernen als das Maß aller Dinge angesehen und angestrebt wird. Was Herr Fugmann da beschreibt sind Privatschulen mit jährlichen Gebühren von bis zu 50.000 Dollar pro Kind, was eben nur von den „Ingenieuren“ bezahlt werden kann. Mit so viel Geld ist alles möglich. Dann kann man eben Klassen mit maximal 10 Kindern und 1-2 Lehrern aufbauen. Die Normalverdiener in den USA schicken ihre Kinder auf öffentliche Schulen, die weit davon entfernt sind, genauso wie in Deutschland.

FElixa
5 Jahre zuvor
Antwortet  FElixa

Ach ja hier auch ein Artikel zu Herrn Fugmann und seiner ehemaligen Schule. Elite-Schule für Topverdiener mit dem Ziel ihre Kinder auf Top-Unis zu bringen. Ja das sollte ganz bestimmt der Maßstab öffentlicher Schulen sein…

https://www.focus.de/panorama/welt/schulen-im-silicon-valley-german-curriculum-auf-englisch_id_4981527.html

AvL
5 Jahre zuvor

Herr Yogeshwar reiht sich in die Schar der pädagogischen Wanderprediger ein und propagiert , um bei seinem Sprachgebrauch zu bleiben, allenfalls muffig angehauchte Methoden, die in ihrer Wirksamkeit ans Tabellenende der Wirksamkeit gehören, da sie in ihrer Effektstärke sehr deutlich unter 0,4 liegen und somit längst widerlegt sind, als dass sie dem Lernverhalten der meisten Schüler förderlich wären.
Offene Lernwelten erforschen hört sich immer einfach schön an, taugt aber nicht, Kinder in Richtung einer selbständigen und strukturierten Arbeitsfähigkeit hin zu entwickeln.
Wer es sich leisten kann, dem stehen eben derartige Schulen offen, die sich für die meisten Schüler nie erschließen lassen werden, weil das Geld fehlt.

dickebank
5 Jahre zuvor
Antwortet  AvL

Was ist denn eine Sendung wie Quarks? Die ist doch nichts Anderes als Frontalunterricht. Der Unterschied zum regulären Schulunterricht ist doch allenfalls der, dass der Zuschauer sich freiwillig für eine Sendung, bei der er frontal vor dem Bildschirm sitzt, entscheidet.

Wenn ich meinen Unterricht zuhause filme und diesen Tape dann vor einer Klasse abspiele, ist das doch digitaler Unterricht. Das Problem ist nur, dass der SAchaufwandsträger nicht jedem Schüler ein eigenes „Endgerät für die Wiedergabe“ zur Verfügung stellen möchte und somit alle gezwungen sind, auf den gleichen Bildschirm zu glotzen.