Inklusion in Hessen – Erfolge auf dem Papier, doch im Alltag hakt es offenbar

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WIESBADEN/KASSEL. Den Zahlen nach steht es eigentlich nicht schlecht um die Inklusion in Hessen. Immer mehr Kinder mit Behinderung oder Beeinträchtigung werden in regulären Schulen unterrichtet. Doch der Schein trügt, klagen Lehrer, Gewerkschaft und Eltern.

Der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Beeinträchtigung ist ein hessisches Erfolgsmodell – zumindest den Zahlen nach. Denn immer mehr Eltern schicken ihre Kinder nicht auf eine Förderschule, sondern in reguläre Schulen. Die Zahl der Förderschulen sinkt. 196 öffentliche gibt es in Hessen noch, 2009 waren es 23 Förderschulen mehr. Doch der Schein trüge, sagen Eltern und die Bildungsgewerkschaft GEW. Im Alltag hapere es bei der Inklusion. Schulen seien für die wachsende Zahl von Kinder mit besonderem Förderbedarf schlecht ausgestattet.

Schulische Inklusion ist unter anderem mit höherem Personalaufwand verbunden. Foto: U.S. Navy photo Steven L. Khor / Wikimedia Commons (Public Domain)
Schulische Inklusion ist unter anderem mit höherem Personalaufwand verbunden. Foto: U.S. Navy photo Steven L. Khor / Wikimedia Commons (Public Domain)

Jedes dritte Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf wird in Hessen mittlerweile zusammen mit anderen Kindern unterrichtet. Nach Zahlen des Kultusministeriums stehen diesen 10 700 Schülern noch 21 300 Kinder gegenüber, die Förderschulen besuchen. Doch die Tendenz ist abnehmend. Vor zehn Jahren waren es 25 900.

Was der Zulauf für Regelschulen im Alltag bedeutet, zeigt das Beispiel der Kasseler Carl-Schomburg-Schule (CSS). «Die Menschen, die entscheiden, wie Schule aussieht, müssten mal eine Woche dabei sein und sehen, was gebraucht wird», sagt Brigitte Hofmann, Personalratsvorsitzende der Gesamtschule. Denn für eine gelungene Inklusion mangele es an vielem.

So fehle angesichts voller Klassenräume Platz, um stärkere und schwächere Schüler mit Aufgaben räumlich getrennt zu beschäftigen. Für die Schüler mit Förderbedarf fehlten Förderkräfte. «Weniger als zwei Stunden» stehe pro Woche und Kind zur Verfügung. Das sei «völlig am Bedarf vorbei». Die Klassen selbst seien zu groß: Während an einer Förderschule 16 Kinder zusammen unterrichtet würden, seien es an der CSS 24 bis 32. «Wenn wir da vier förderbedürftige Kinder drin haben, bleibt die Klassengröße gleich.»

Laut der Bildungsgewerkschaft GEW ist die Carl-Schomburg-Schule kein Einzelfall. Es gebe einen «absoluten Lehrermangel» und auch die Fachkräfte für eine Inklusion wie Erzieher und Sozialpädagogen fehlten, erklärt GEW-Landesvorsitzende Birgit Koch: «Wir sind der Meinung, dass Inklusion von Seiten des Landes politisch nicht gewollt und unzureichend gesteuert wird.» Langfristig müsse es Ziel sein, Förderschulen ganz abzuschaffen. «Inklusion ist keine Frage des Ob, sondern eine Frage des Wie», sagt Koch.

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Vor zehn Jahre trat die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Die Inklusion sei auch in Hessen geltendes Recht, betont Klaus Wilmes-Groebel, Vorsitzender des Elternbunds Hessen: «Das Problem ist, dass die schwarz-grüne Regierung in Hessen seit Jahren nicht genug unternimmt, um diese Konvention umzusetzen.» Ein Grund sei vermutlich, dass insbesondere die CDU das Förderschulsystem und «die damit verbundene Ausgrenzung tausender Schüler vom Regelschulsystem eigentlich besser findet».

Die im hessischen Regierungsprogramm enthaltenen Schritte blieben weit hinter den Notwendigkeiten zurück. Die Inklusion brauche mehr Personal für die Schulen, mehr Sachmittel, mehr organisatorische Unterstützung. «Ein weiterer Aspekt: Alle Schulformen müssen inklusiv unterrichten, nicht nur die Gesamtschulen», meint Wilmes-Groebel. Tatsächlich tragen laut Kultusministerium vor allem Hauptschulen, integrierte Gesamtschulen und Grundschulen zur Inklusion bei: Hier werden über 80 Prozent der betroffenen Kinder unterrichtet.

Das Land wehrt sich gegen die Kritik: Für die Inklusion seien in den Schuljahren 2015/16 bis 2018/2019 zusätzlich 210 Lehrerstellen zur Verfügung gestellt worden, sagt Philipp Bender, Sprecher des Kultusministeriums. Die Regelschulen seien im Landesschnitt so gut versorgt, dass mehr Lehrkräfte zur Verfügung stünden als für die Abdeckung der Unterrichtsstunden erforderlich sei. «Darüber hinaus wurden 700 neue Stellen für sozialpädagogische Fachkräfte geschaffen, um die hessischen Lehrerinnen und Lehrer bei ihrer Tätigkeit zu entlasten.» Es gebe auch mehr Schulpsychologen.

Zwar sinkt die Zahl der Stellen an Förderschulen, gleichzeitig wächst aber laut dem Land die Stellenzahl für die sonderpädagogische Unterstützung der allgemeinen Schulen. Seit dem Schuljahr 2011/2012 stehe so unter dem Strich ein Zuwachs von 800 Stellen – Tendenz weiter steigend.

Das Land sieht eine Zukunft für die Förderschulen. «Im Koalitionsvertrag sind viele Maßnahmen enthalten, um die Rahmenbedingungen der Schulen in Hessen erneut zu verbessern», sagt Bender. Dazu gehöre auch der Erhalt der Förderschulen und des grundsätzlichen Wahlrechts der Eltern in Bezug auf den Förderort. (Göran Gehlen, dpa)

Interview zur schulischen Inklusion: “Es wird massiv gebremst – und es gibt keine Anzeichen, dass sich dies ändern könnte”

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2 Kommentare
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OMG
4 Jahre zuvor

Das Land wehrt sich immer. Allerdings hat Hessen sich entschieden, zwei Inklusionssäulen beizubehalten: Die Regelschulen und die Förderschulen. Beide müssen mit Personal versorgt werden. 210 Stellen hören sich gut an, um beide Bereiche mit Sonderpädagogen zu füllen fehlen dann noch knapp 5000. Also mehr, als aktuell überhaupt in Hessen arbeiten.
Billige Rhetorik hilft leider bei solchen Problemlagen nicht.

Insa
3 Jahre zuvor

Ich unterrichte seit Jahren inklusive. Ausgebildet wurde ich darin nicht.
Das Gehalt eines Förderschullehrers bekomme ich auch nicht. Dennoch liebe ich meinen Beruf. Was mir viel mehr Sorge macht ist, dass ich bald keine Kraft und Reserven mehr für dieses Doppeljob habe. In einer Klasse sitzen 8 Kinder, die beim BFZ gemeldet sind. Zwei davon haben den Status „geistige Entwicklung“, Schulassitenzen sind Mangelware und viel zu kompliziert für manche Familien zu beantragen. Das BFZ kommt 2-3 Stunden….nicht am Tag….in der Woche und zwar, um sich um alle 8 zu kümmern? Das kann nicht klappen? Richtig!!!!
Mich machen diese Texte so wütend. Die Inklusion wurde den Regelschuehrern aufgebrummt, aber es gibt keine Hilfe. Wir haben keine Sozialpädagogen an der Schule.
Und ganz ehrlich….für mache Kinder wäre die Förderschule genau das Richtige. Denn dort arbeiten Kollegen, die dies studiert haben.
Die Besuche der Fö-Schulen werden doch nur geringer, weil sie schließen, oder Kinder aus dem Landkreis plötzlich nicht mehr aufnehmen. Welche Eltern entscheiden mit einem guten Gefühl die Fö-Schule in 30km Entfernung zu wählen? Das kann ich nicht mal mit einem guten Gefühl empfehlen.
Also macht mich diese Augenwischerei echt sprachlos. Und am Ende wird die Last auf unseren Schultern unerträglich, bis wir einfach nicht mehr können.
Aber Hauptsache die Zahlen stimmen.