„Lehrer und Schulleiter sollten wieder die Verantwortung in die Hände bekommen“: Star-Forscher Gigerenzer spricht auf dem DSLK

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DÜSSELDORF. Der renommierte Bildungsforscher,  Psychologe und Managementberater Prof. Dr. Gerd Gigerenzer hat sich dafür ausgesprochen, Schulen mehr „Freiheitsgrade und Vertrauensvorschuss“ zu geben – aber deren Ergebnisse dann auch systematisch zu kontrollieren. „Wir sollten Maßnahmen ergreifen, damit Lehrer und Schulleiter wieder die Verantwortung in die eigenen Hände bekommen“, sagte er in einem Gespräch im Vorfeld des Deutschen Schulleiterkongresses (DSLK). Gigerenzer referiert dort zum Thema: „Bauch oder Kopf? – Wie Sie als Schulleitung immer die richtige Entscheidung treffen“.  Der DSLK findet vom 21. bis 23. März in Düsseldorf statt.

"Wir müssen lernen, mit Unsicherheiten zu denken": Kognitionsforscher Gigerenzer. Foto: Franz Johann Morgenbesser / Wikimedia Commons (CC BY-SA 2.0)
Kognitionsforscher Gigerenzer gilt als einer der renommiertesten Wissenschaftler in Deutschland überhaupt. Foto: Franz Johann Morgenbesser / Wikimedia Commons (CC BY-SA 2.0)

Sie halten ein Plädoyer für die Bauchentscheidung. „Das Bauchgefühl ist keine zufällige Eingebung oder Naivität ─ es ist die Intelligenz des Unbewussten!“, so sagen sie. Welche Konsequenzen erwachsen daraus für Schulleitungen?

Gigerenzer. Ich werde über Intuition sprechen. In unserer Gesellschaft misstrauen viele dem Bauch und vertrauen blind auf Berechnungen, Big Data und Algorithmen. Das würde ich gern etwas zurechtrücken. Man kann sich allerdings auch nicht nur auf seine Bauchentscheidungen verlassen – das Thema heißt: Kopf und Bauch, man braucht beides. Daten sind ja wichtig. Wir müssen sie aber kritisch bewerten.

Vielleicht sollten wir erst mal fragen, was Intuition ist. Also: Intuition ist gefühltes Wissen, das auf jahrelanger Erfahrung beruht und das die Eigenschaft hat, dass man sehr schnell spürt, was man tun soll, aber es nicht erklären kann. Das ist der unbewusste Teil dabei. Intuition ist also keine Willkür, kein sechster Sinn, sie ist auch keine göttliche Eingabe. Ein Schulleiter muss täglich viele Entscheidungen treffen – wie ein Manager. Er oder sie kann nicht die Lösung jedes Problems berechnen, sondern muss oft schnell und aufgrund seiner eigenen Erfahrung entscheiden. Dafür braucht man eben eine gute Intuition. Das kann natürlich manchmal schiefgehen, aber Berechnungen gehen auch manchmal schief.

Ich habe nicht Schulleiter analysiert, sondern kann ihnen nur aus den allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnissen bestimmte Prinzipien mitgeben. Wenn man mit Managern spricht, vertraulich, dann sagen sie, dass etwa 50 Prozent aller wichtigen Entscheidungen in großen Unternehmen am Ende eine Bauchentscheidung waren, also intuitiv getroffen worden sind. Ich betone „am Ende“, denn jeder Verantwortliche sichtet ja erst mal alle verfügbaren Daten und versucht, daraus die Lösung zu erkennen. Das hilft aber oft nicht. Nun würden Manager in der Öffentlichkeit nie zugeben, dass sie dann intuitiv entschieden haben. Vor einem solchen Geständnis haben sie Angst, denn eine intuitive Entscheidung bedeutet ja, dass man sie nicht begründen kann. Wir leben in einer Begründungskultur, wo immer mehr Wert auf gute Begründungen gelegt wird – und weniger auf gute Leistung, also auf das, was am Ende dabei rauskommt. Diese Angst vor Verantwortung hat dann zum Beispiel die Folge, dass man Beratungsfirmen engagiert, die dann bereits getroffene Entscheidungen im Nachhinein begründen. Das ist eine Verschwendung von Zeit, Intelligenz und Geld. Das passiert in der Politik genauso wie in börsennotierten Unternehmen. Jetzt ist interessant, wo dem nicht so ist, also wo man wenig Angst hat, intuitive Entscheidungen aufgrund langjähriger Erfahren zu treffen und auch offen zu diesen zu stehen – und wo man nicht Geld dafür verschwendet, solche zu verdecken. Das sind zum Beispiel Familienunternehmen. Diese habe meist eine bessere Fehlerkultur und planen langfristig.

Der DSLK

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Physik studiert - obwohl er seinen Physik-Lehrer nicht mochte: Ranga Yogeshwar. Foto: Yogeshwar / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0 DE)
Fernseh-Journalist Ranga Yogeshwar referiert auf dem Deutschen Schulleiterkongress. Foto: Yogeshwar / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0 DE)

Der Deutsche Schulleiterkongress (DSLK) ist die jährlich stattfindende Leitveranstaltung für schulische Führungskräfte in Deutschland.

Sie präsentiert zu ihrer achten Auflage vom 21. bis 23. März 2019  in Düsseldorf wieder prominente Referenten und Keynote Speaker – darunter Deutschlands bekanntesten Wissenschaftsjournalisten Ranga Yogeshwar, Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther, Jugendforscher Prof. Dr. Klaus Hurrelmann und Ex-Boxweltmeister Henry Maske. Hier gibt es mehr Informationen.

Bezogen auf Schulleitungen: Plädieren Sie damit für eine gewisse Rolle von Schulleitung? Wir haben ja unterschiedliche Bilder von Schulleitungen in Deutschland – je nach Bundesland. Es gibt den echten Chef, den Dienstvorgesetzten, wie in Bayern, oder den Primus inter Pares, den Ersten unter Gleichen. Sagen Sie also, ein bisschen mehr Familienunternehmer-Habitus schadet einem Schulleiter nicht?

Gigerenzer: Sie haben die richtige Frage gestellt. Ein Schulleiter, der Verantwortung übernimmt und dem man auch Verantwortung gibt und der am Ende vor allem in Bezug auf die Ergebnisse seiner Arbeit zur Rechenschaft gezogen wird, das würde dem Familienunternehmen entsprechen. Ein Schulleiter, der im Wesentlichen damit beschäftigt ist, sich selbst zu schützen gegenüber seinen eigenen Vorgesetzten, der also defensiv die Schule leitet, das würde mehr dem Manager in einem großen Börsenunternehmen entsprechen. Wo man sozusagen Ersatzziele verfolgt und nicht das wirkliche Ziel. Man nennt das: defensives Entscheiden. Man schützt sich selbst und schadet dem eigenen Unternehmen oder, in diesem Fall, der eigenen Schule.

Schulleitungen stehen unter starkem Druck – von allen Seiten: Kollegium, Eltern, Schüler – zwischen allen Stühlen. Kann diese Drucksituation auch die Intuition negativ beeinflussen? Bin ich dann noch frei in meinen Bauchentscheidungen?

Gigerenzer: Wir haben ja immer wieder durch PISA und andere Studien bestätigt bekommen, dass in Finnland die Schüler erstaunlich gut abschneiden. Einer der wesentlichen Gründe dafür ist die Unabhängigkeit der finnischen Lehrer. Die können im Vergleich zu deutschen Lehrern viel mehr mitreden und selbst bestimmen, was sie an Stoff bringen, zugleich haben sie ein Ansehen in der Bevölkerung, das Lehrer in Deutschland leider nicht mehr so haben. Diese Unabhängigkeit schafft ein hohes Maß von Selbstverantwortlichkeit, die Lehrer und Leiter übernehmen die Verantwortung und sie werden an ihrer Leistung gemessen. Sie können sich also auf die Schüler konzentrieren, statt ständig darauf zu achten, wie man sich absichert. Wenn es umgekehrt läuft – die Leistung ist das zweite, die persönliche Absicherung das erste Motiv –, dann kann das nur der Schule schaden.

Das heißt, Ministerien, die die Schulleistungen voranbringen möchten, wären gut beraten, den Schulen viel Verantwortung zu geben?

Gigerenzer: Richtig, Freiheitsgrade und Vertrauensvorschuss zu geben, aber die Ergebnisse zu kontrollieren. Wir sollten Maßnahmen ergreifen, dass Lehrer und Schulleiter wieder die Verantwortung in die eigenen Hände bekommen. Das haben wir auch in den Wissenschaften. Ich bin seit mehr als zwei Jahrzehnten Direktor an einem Max-Planck-Institut. Die Max-Planck-Gesellschaft hat ihren Erfolg ja nicht alleine dadurch, dass sie exzellente Leute in der ganzen Welt einstellt, sondern dass sie ein Klima schafft, in dem diese exzellenten Leute auch ihren eigenen Visionen nachgehen können. Anders lässt sich innovative Wissenschaft nicht machen.

Also mehr Freiheit in den ganzen Bildungsbetrieb?

Gigerenzer: Ja, aber nicht Freiheit im Sinne von Laissez-faire, sondern das muss schon eine zielorientierte Freiheit sein. Wenn die Wege frei werden, wird Innovation möglich, und mehr Verantwortung bedeutet ja auch mehr Freude am Beruf.

Hier gibt es weitere Informationen zum Deutschen Schulleiterkongress (DSLK) 2019.

Zur Person

Prof. Gerd Gigerenzer ist Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin sowie Gründer und Gesellschafter von Simply Rational – Das Institut für Entscheidung. Er war vorher u. a. Direktor des Forschungsbereichs „Adaptive Behavior and Cognition“ (ABC) am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und am Max-Planck-Institut für Psychologische Forschung, München, Professor an der University of Chicago und John M. Olin Distinguished Visiting Professor an der School of Law der Universität von Virginia.

Darüber hinaus ist Gigerenzer Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina) sowie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Sciences und der American Philosophical Society. Er ist Ehrendoktor der Universität Basel und der Open University of the Netherlands sowie Batten Fellow an der Darden Business School der Universität von Virginia. Er hat zahlreiche Preise erhalten, darunter den Preis der American Association for the Advancement of Science (AAAS) für den besten Zeitschriftenartikel in den Verhaltenswissenschaften, den Preis der Association of American Publishers für das beste Buch in den Sozialwissenschaften sowie den Deutschen Psychologie-Preis und den Communicator-Preis. Seine mehrfach ausgezeichneten Sachbücher Das Einmaleins der Skepsis, Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft wurden in 21 Sprachen übersetzt.

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

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Carsten60
4 Jahre zuvor

In NRW sieht dieser „Vertrauensvorschuss für Schulleiter“ so aus, dass das Landesinstitut QUA-LiS ein Assessment-Center bereithält, dem sich jeder Kandidat für einen Schulleiterposten unterzuordnen hat:
https://www.qua-lis.nrw.de/schulmanagement/eignungsfeststellungsverfahren/index.html
Herr Gigerenzer hat gut reden. Wie sagte doch Lenin angeblich: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Querdenker sind da bestimmt nicht mehr erwünscht. Und irgendwelchen „Visionen“ dürfen sie bestimmt nicht nachgehen, weil das der Behörde als suspekt gelten dürfte. Bereitwillige Ja-Sager sind gefragt.