Star-Bildungsforscher Hattie im News4teachers-Interview: „Es gibt nicht ‚die‘ Unterrichtsmethoden, die per se eine hohe Wirksamkeit haben“

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OLDENBURG. Der Neuseeländer John Hattie ist der berühmteste Bildungsforscher der Welt, seit er 2008 seine bahnbrechende Arbeit „Visible Learning“ („Lernen sichtbar machen“) veröffentlichte – Ines Oldenburg, Privat-Dozentin an der Universität Oldenburg, befragte ihn und seinen deutschen Forscherkollegen Klaus Zierer für News4teachers. Im Fokus des Dialogs: offene Lernformen, wachsende Heterogenität, die zunehmende Digitalisierung. Der folgende zweite Teil des Interviews beschäftigt sich mit der Rolle von Schulleitungen, mit der Frage, welche Unterrichtsmethoden die besten sind – und mit der Inklusion.

Hier geht es zu Teil 1 des Interviews.

Gilt als berühmtester Bildungsforscher der Welt: John Hattie, Professor für Erziehungswissenschaften und Direktor des Melbourne Education Research Institute an der University of Melbourne. Foto: idunius / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Der Augsburger Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Klaus Zierer hat Hatties Werk zusammen mit dem Schweizer Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Beywl ins Deutsche übersetzt. Hattie und Zierer haben das hier vorliegende Interview gemeinsam gegeben – auf die Fragen von Dr. Ines Oldenburg antwortete Hattie zunächst schriftlich auf Englisch, Zierer überarbeitete und ergänzte den übersetzten Text dann anschließend.

Ines Oldenburg: Als „Manager“ von Schulen müssen Schulleiterinnen und Schulleiter auch ihre Lehrkräfte führen. Was raten Sie dazu?

Klaus Zierer war Grundschullehrer – und ist heute einer der renommiertesten Bildungsforscher in Deutschland. Foto: privat

Hattie/Zierer: Die Schulleitung muss keine Expertin für Unterrichtsmethoden sein, sondern Expertin für die Wirkung von Unterrichtsmethoden. Vorsicht ist geboten bei Pädagogen, die mit fertigen Lösungen in den Unterricht gehen – oft sind diese Lösungen nicht an die Diagnose von Problemen gebunden. Schulleitungen müssen Experten für Diagnosen sein, um die Orientierung an den richtigen Problemen zu gewährleisten. Sie müssen sozialsensibel sein, um die Lehrkräfte bei der Entwicklung ihrer kollektiven Wirksamkeit zu führen, welche wiederum mit Belegen untermauert werden muss.

Zusammenfassend ist die Aufgabe von Schulleitungen das, was wir eingangs mit „collective leadership“ beschrieben haben.

Ines Oldenburg:  Ihr „Sichtbares Lernen“ besagt, dass die Zusammenarbeit der Lehrerinnen und Lehrer untereinander einer der Hauptfaktoren für die Steigerung der pädagogischen Kompetenz einer Lehrkraft ist. Auf der einen Seite sind Schulleitungen Lehrerin oder Lehrer und damit Teil des Kollegiums – auf der anderen Seite sind sie aber auch Dienstvorgesetzte. Wie ist es Schulleitungen möglich, beide Funktionen erfolgreich miteinander zu verknüpfen?

Hattie/Zierer: Schulleitungen sind die Hauptakteure der „kollektiven Wirksamkeit“ –  sie müssen dabei sicherstellen, dass sie nicht einzelne Lehrmethoden, möglicherweise ihre eigenen, übermäßig bewerben. Ein „Unterrichte so wie ich“ gilt es zu vermeiden.

Es gibt nicht „die“ Unterrichtsmethoden, die per se eine hohe Wirksamkeit haben. Lehrkräfte benötigen ein Repertoire, das je nach der Phase des Lernens, mit der ein einzelner Schüler aktuell beschäftigt ist, angewendet wird. Es geht darum, die lernförderliche Wirkung des Unterrichts zu maximieren – und keine einzelne Methode tut dies. Wenn Schulleitungen also ihre Energie darauf verwenden, dass die Lehrerinnen und Lehrer an ihrer Schule gemeinsam diagnostizieren, planen, arbeiten und bewerten, und zwar mit ihrer ganz eigenen Expertise als Lehrkräfte für ihre ganz spezielle Lerngruppe, dann schaffen sie optimale Lernbedingungen. Daraus folgt, und zwar ganz im Sinne von „collective leadership“, dass die Schulleitung nicht alle Bereiche perfekt beherrschen muss. Die Schulleitung steht stattdessen für eine gemeinsam geschaffene bzw. zu schaffende Vision. Diese braucht beides – sowohl eine Kultur des Anerkennens von Fehlern (und wir Lehrer machen täglich eine Menge von Fehlern) als auch eine Kultur des Suchens nach Effektivität. Es lässt sich nachweisen, dass, wenn es für beides eine gemeinsame Sprache an der Schule gibt, es zur Steigerung von Leistungen kommt.

Neues Buch

Das Buch „Visible Learning“ wird als Meilenstein der Erziehungswissenschaft gehandelt. Von John Hattie nach über 15-jähriger Arbeit veröffentlicht, umfasste es bereits 2008 mit ca. 800 Meta-Analysen den größten Fundus der empirischen Bildungsforschung, der jemals in einer Studie zusammengetragen und ausgewertet wurde.

Doch die Arbeit an „Visible Learning“ ging und geht weiter: Mittlerweile umfasst die Datenbasis über 1.400 Meta-Analysen, so dass es an der Zeit ist, eine aktualisierte Einführung vorzulegen. Diese Herausforderung gehen John Hattie und Klaus Zierer mit dem vorliegenden Buch an: „Visible Learning: Auf den Punkt gebracht“ präsentiert den gegenwärtigen Datensatz und erläutert die daraus ableitbaren Kernaussagen anschaulich und praxisorientiert.

Hier lässt sich das Buch bestellen (kostenpflichtig).

Ines Oldenburg: Seit Ende der 90er Jahre haben die Schulen in Deutschland – neben vielen anderen Dingen – mehr „Autonomie“ bekommen.  Diese Autonomie muss von den Schulleitungen tagtäglich umgesetzt werden. Was sind Ihrer Meinung nach die positiven und negativen Auswirkungen dieser Entwicklung für Schulleitungen?

Hattie/Zierer: Autonomie ist ein zu offenes Wort – und wird deshalb oft falsch verstanden als „lass mich in Ruhe, ich möchte mein eigenes Ding durchziehen“. Ärzten, Ingenieuren oder Piloten würden wir es niemals durchgehen lassen, Autonomie so zu interpretieren. Wir haben mittlerweile ein zuverlässiges Wissen über die optimale Schulpraxis, das nicht ignoriert werden sollte. Nun sollten wir Wege finden, Netzwerke von Schulen zu bilden, so dass Schulleitungen in der Lage sind, mehr darüber zu lernen, wie sie auf die Lehrkräfte optimal einwirken können, damit diese wiederum ihre Lehrwirkung auf die Schüler maximieren. Ob es nützlich ist, sich weiterhin auf „Autonomie“ zu konzentrieren, ist fraglich – zumindest so lange nicht, bis auch die andere Seite der Medaille stärker beachtet wird: Verantwortung. Verantwortung ist die komplementäre Ergänzung von Autonomie. Wenn wir Schulen mehr Autonomie geben, dann heißt das auch, dass wir ihnen mehr Verantwortung übertragen. Und diese Verantwortung muss von den Schulbehörden viel stärker sichtbar gemacht werden. Und wie, wenn nicht im Wissens- und Könnenszuwachs der Lernenden und im Erfolg ihrer Erziehung, könnte diese Verantwortung besser sichtbar gemacht werden?

Ines Oldenburg: Im Kontext von Inklusion müssen die Schulen verstärkt in multiprofessionellen Teams arbeiten. In anderen Ländern, wie z.B. in Kanada, hat man hiermit bereits vielfältige Erfahrungen sammeln können. Was können deutsche Schulen von anderen Ländern hier lernen?

Hattie/Zierer: Die Forschungslage zeigt, dass es professionelles Wissen gibt, wie man alle Schülerinnen und Schüler in einer Klasse inklusiv unterrichten kann. Die Kunst liegt darin, dass alle Expertinnen und Experten in einer Klasse zusammenarbeiten und die Lehrkraft unterstützen, damit nicht diejenigen Kinder aus der Klasse herausgenommen werden, die besondere Förderbedarfe haben.

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Programme wie der „Response-to-Intervention-Ansatz” können hier wertvolle Hilfe leisten – hier ist z. B. genau geregelt, dass eine gestufte Förderung auch umgesetzt werden kann, wenn die Kompetenzen zur individuellen Förderung allein durch die Klassenlehrkraft nicht ausreicht. So werden dann multiprofessionelle Expertisen in einer Klasse gebündelt, umso möglichst alle Schülerinnen und Schüler durchaus auch individuell zu unterstützen, aber mit dem Ziel, dass letztendlich alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden.

Ein anderer Aspekt ist der Denkansatz, der hinter multiprofessionellem Lehren in der Schule steht: Lehrkräfte in Deutschland sind oftmals Einzelkämpfer, die auch als solche „sozialisiert“ sind durch ihre Ausbildung. Wenn nun solche Einzelkämpfer mehr oder weniger ad hoc zusammenarbeiten sollen, dann ist das vielfach für sie gar nicht leistbar. Auch Kooperation muss gelernt werden. Dies gilt es auch bei der Ausbildung von Lehrkräften von Anfang an mit zu denken, wenn Inklusion gelingen soll. Lehrerinnen und Lehrer müssen auch die Zusammenarbeit lernen.

Anmerkung Ines Oldenburg: Der Begriff „Response-to-Intervention“ (RTI, hier abrufbar) bezeichnet einen Beschulungsansatz, der zum einen auf die Prävention von und die Integration bei sonderpädagogischem Förderbedarf abzielt und zum anderen eine alternative Form der Feststellung von Lern- und Entwicklungsbeeinträchtigungen darstellt (Gresham, VanDerHeyden & Witt, 2005). Hauptanliegen ist es, unterrichtliche Maßnahmen so zu gestalten, dass jeder Schüler und jede Schülerin davon in ausreichendem Maß profitieren kann. Ob dies gelingt, wird auf Grundlage der Reaktionen der Kinder (Response) auf die pädagogischen Angebote (Intervention), welche sich in der schulischen Leistungsentwicklung manifestieren, bemessen.

Kernmerkmale des RTI-Konzeptes sind die stufenweise aufgebauten Maßnahmen auf mehreren Förderebenen (Mehrebenenprävention), der Einsatz evidenzbasierter Unterrichts- und Förderverfahren sowie eine datenbasierte Praxis als Grundlage für Förderentscheidungen sowie zur Beurteilung des Lernverlaufs der Kinder. Diese Maßnahmen ermöglichen es den Lehrkräften, Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten frühzeitig zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren.

Der RTI-Ansatz erscheint demnach als ein geeignetes Rahmenkonzept für die Umsetzung der durch die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen gesetzlich vorgeschriebenen inklusiven Schule.

Die Ursprünge des Response-to-Intervention- bzw. Instruction-Ansatzes liegen in den 1960er Jahren in den USA. Seit 2004 gilt er als eine gesetzlich verankerte Alternative zur Identifikation von Lernbehinderungen durch das „Individuals with Disabilities Education Improvement Act“ (Individuals with Disabilities Education Improvement Act., Sec. 614.b.6.B). Im Jahr 2009 wurde der RTI-Ansatz als präventives und inklusives Beschulungskonzept bereits in über 50 % der US-amerikanischen Staaten angewendet (Berkeley, Bender, Peaster & Saunders, 2009).

Ines Oldenburg:  Zurzeit gibt es einen enormen Mangel an Lehrkräften insbesondere in deutschen Grundschulen. Haben Sie  Ideen, wie man mit diesem Problem umgehen kann?

Hattie/Zierer: Bedauerlicherweise ist der Lehrerberuf nicht der attraktivste in Deutschland. Ein Grund dafür ist womöglich auch ein öffentliches Bild über den Lehrerberuf. Wenn ein führender Politiker von “faulen Säcken“ sprechen kann, und das ohne Konsequenzen, dann ist das ein Problem und eine Widerspiegelung der öffentlichen Wahrnehmung.

Obwohl Grundschullehrerinnen und -lehrer generell mehr Anerkennung erfahren als andere Lehrberufe, bekommen sie weniger Geld. Das hat zur Folge, dass der Beruf weniger nachgefragt wird. Daher ist es insgesamt hilfreich, an der Attraktivität  des Grundschullehrberufs in der Gesellschaft weiterzuarbeiten. Erziehung ist die wichtigste Aufgabe einer Gesellschaft – besonders in Zeiten von globalen Veränderungen, wie Nachhaltigkeit oder Digitalisierung.

Viele Lehrerinnen und Lehrer wählen den Beruf, weil sie Schülerinnen und Schüler beeinflussen wollen – kaum einer wählt diesen Beruf, um ein Armutsgelübde abzulegen. Wir müssen Lehrkräfte sowohl in der Gesellschaft als auch durch die Entlohnung wertschätzen. Am wichtigsten ist es aber, dass wir den Begriff „professionelles Fachwissen“ wieder mit dem Beruf verbinden und in die öffentliche Debatte einbringen. Es ist die Expertise von Pädagoginnen und Pädagogen, die entscheidend für Schulerfolg ist, aber zu oft werden die Debatten von Politikern und den Medien über Nebensächlichkeiten geführt.

In Australien hat sich die Regierung gemeinsam mit den Berufsverbänden auf nationale Standards für Lehrer, Schulleiter und deren Ausbildungen geeinigt. Wir haben damit hoch qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer, was breit anerkannt wird. Und diese Lehrkräfte prägen die Debatten über den Unterricht entscheidend. Es gibt einen hohen Respekt vor Kompetenz, und deren Sichtbarkeit verbessert die Reputation der Lehrerinnen und Lehrer. Wir haben in manchen Bereichen sogar einen „Überschuss“ an Lehrkräften. Insgesamt braucht es mehr Aufmerksamkeit und Anstrengungen,  diejenigen für den Lehrberuf zu gewinnen, die einen herausfordernden und gesellschaftlich entscheidenden Beruf ausüben möchten, und angemessen zu honorieren.

Hier geht es zu Teil 1 des Interviews.

DSLK: Was kommt heraus, wenn eine Schule sich strikt nach Hattie und Co. ausrichtet? Ein bemerkenswert traditionell arbeitendes Kollegium

 

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ysnp
4 Jahre zuvor

Vieles, was in dem Interview gesagt wurde, kann ich unterschreiben.

Doch, was in Bezug auf die Anforderungen an Schulleitungen immer wieder vergessen wird, ist die Qualität der „Menschenführung“. Mögen einige Schulleitungen fachlich versiert sein, doch an dieser Qualität, dem richtigen Führungsverhalten, hapert es bei auffällig vielen. Seit in Bayern (Herr Zierer ist an einer bayerischen Uni) die Schulleiter beurteilen, dringt da wenig an die richtigen Stellen vor. Durch das Instrument der Beurteilung schafft man zusätzlichen Druck und ein bei vielen gewisses Stillehalten, wo es aber innen oft ganz anders aussieht. Eine schwierige Situation, etwas in einer Schule mit Motivation zu installieren.
Das Kollegium einer Schule ist in dem Grad motiviert, wie gut die Schulleitung in ihren Leitungsqualitäten ist. Hier sollte man bei der Auswahl der Schulleitungen ein größeres Augenmerk darauf legen.
Zudem hatten bei uns in der Umgebung mehrere Grund- und Mittelschulen in den letzten Jahren das Problem, dass ihre Schule nur als Durchgangsstation der Karriereleiter genutzt wurde, man kurz sein eigenes nac außen gut aussehendes Steckenpferd versucht hat den Schulen aufzudrücken und dann spätestens nach 2 Jahren (manche haben sogar nach einem Jahr die Schule wieder verlassen) wieder gegangen ist. Da kann nichts Gutes in einer Schule entstehen, vor allem, wenn die Führungsqualitäten zu wünschen übrig lassen.

So gehört das Auswahlverfahren von Schulleitungen – zumindest in Bayern – dringend auf den Prüfstand. Stichwort: Menschenführung und Beständigkeit.
Zum anderen sollte diese Funktion wieder so attraktiv gemacht werden (z.B. durch Herunterschrauben der Unterrichtsverpflichtungen auch bei kleinen Schulen, längere Beschäftigung von Sekretärinnen vor allem im Grundschulbereich, angemessene Bezahlung), dass man wirklich eine größere Auswahl hat.

Hornveilchen
1 Jahr zuvor

Leider bleiben die Aussagen an den interessanten Stellen so allgemein und vage, dass man sich wieder alles und nichts darunter vorstellen kann oder einfach, was man möchte, z.B. Schulleiter müssen keine Experten für Unterrichtsmethoden sein, sondern Experten für die Wirkung von Unterrichtsmethoden.

Aha.