Tragischer Fall vor dem BGH: Schüler kollabiert im Sportunterricht und erleidet massive Hirnschäden. Hätten Lehrer besser helfen müssen?

5

KARLSRUHE. Was muss ein Lehrer im Notfall tun? Der BGH prüft einen tragischen Fall aus Hessen. Ein Schüler kollabierte im Sportunterricht und erlitt irreversible Hirnschäden. Es hätte verhindert werden können, meint der Kläger.

Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen sind in den Schulgesetzen der Länder geregelt. Foto: Shutterstock
Das Urteil dürfte richtungsweisend ausfallen. Foto: Shutterstock

Ein 18-Jähriger hat beim Aufwärmen im Schulsport Kopfschmerzen, er sackt an einer Wand zusammen, ist nicht mehr ansprechbar. Die Lehrerin alarmiert den Notarzt. Doch bis der kommt, vergehen wertvolle Minuten. «Beim Eintreffen des Notarztes bereits achtminütige Bewusstlosigkeit ohne jegliche Laienreanimation», heißt es im Klinikbericht. Der Schüler erleidet schwerste Hirnschäden durch Sauerstoffmangel. Inwiefern haben die Lehrerin und ein ebenfalls anwesender Kollege schuld am Schicksal des Jungen und wer haftet? Das prüft der Bundesgerichtshof (BGH) am Donnerstag (ab 10.00 Uhr) an einem sechs Jahre alten Fall aus Wiesbaden. (Az. III ZR 35/18)

Worum genau geht es vor dem BGH?

Der frühere Schüler macht Amtshaftungsansprüche gegen das Land Hessen wegen unzureichender Erste-Hilfe-Maßnahmen durch die beiden Lehrer geltend. Er fordert mindestens 500.000 Euro Schmerzensgeld, gut 100 000 Euro für die Erstattung materieller Schäden, eine monatliche Mehrbedarfsrente von etwa 3000 Euro sowie die Feststellung, dass Hessen auch für künftige Kosten aufkommen soll.

Warum?

Der damalige Gymnasiast erlitt bei dem Vorfall im Januar 2013 irreversible Hirnschäden durch mangelnde Sauerstoffversorgung. Er ist zu 100 Prozent schwerbehindert – weil die Lehrer Herzdruckmassage und Atemspende unterlassen hätten, behauptet der Kläger.

Was haben die Lehrer unternommen?

Die Sportlehrerin alarmierte per Notruf die Rettungsleitstelle. Sie brachte den Schüler nach deren Anweisung in die stabile Seitenlage. Sie hatte sich allerdings nicht vergewissert, ob der Schüler noch atmete. Ihr Kollege fühlte nur den Puls. Wiederbelebungsmaßnahmen gab es erst durch Sanitäter und den Notarzt.

Wie urteilten die Vorinstanzen?

Vor dem Landgericht Wiesbaden und später vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt blieb der Kläger erfolglos: «Es kann nicht festgestellt werden, dass sich etwaige Pflichtverletzungen des Lehrpersonals im Rahmen der Hilfeleistung kausal auf den Gesundheitszustand des Klägers ausgewirkt haben.» Nur wenn die Atmung bereits vor Erscheinen der Rettungskräfte aussetzte, hätten die Lehrer Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten müssen. Das sei nicht nachweisbar. Die Berufung wurde zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Revision vor dem BGH.

Wie ist die Rechtslage?

Zur Hilfe bei Unglücksfällen ist jeder verpflichtet. Bei unterlassener Hilfeleistung droht nach dem Strafgesetzbuch (StGB, § 323c) bis zu ein Jahr Haft oder Geldstrafe. Beamtete Lehrer haften nach Angaben des Deutschen Anwaltvereins (DAV) zusätzlich nach § 839 BGB in Verbindung mit Artikel 34 Grundgesetz, wenn sie ihre Amtspflicht verletzen. Die Verantwortung – Amtshaftungsanspruch – übernimmt für sie jedoch der Staat. «Nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit kann der Lehrer in Regress genommen werden», sagt Thomas Summerer, Vorsitzender des Geschäftsführenden Ausschusses der DAV-Arbeitsgemeinschaft Sportrecht.

Anzeige

Was müssen Lehrer im Notfall tun?

Nach den Schulgesetzen der Länder haben sie eine Aufsichtspflicht. Die kann – bei aussetzender Atmung eines Schülers – Reanimation durch Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung einschließen, sagt DAV-Experte Summerer. «Ein Lehrer kann sich nicht auf den Notarzt verlassen.»

Inwiefern sind Lehrer auf Notfälle vorbereitet?

Viele Bundesländer sehen Regelungen für Erste Hilfe vor, sagt Udo Beckmann, Bundeschef des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Verpflichtend – wie seit Dezember 2013 für Sportlehrer in Hessen – ist dies jedoch nicht überall. Die GEW plädiert für regelmäßige Erste-Hilfe-Kurse, die der Schulträger bezahlt.

Inwiefern hat der Fall grundsätzliche Bedeutung?

«Auf den ersten Blick ist es ein trauriger Einzelfall», sagt Sportrechtler Summerer. Der BGH könnte aber Grundsätzliches zu den Handlungspflichten eines Lehrers sagen.

Wie groß ist die Chance auf Schmerzensgeld durch das Land?

Der Kläger müsste eine Pflichtverletzung der Lehrer nachweisen. Die läge vor, wenn die Atmung schon vor Ankunft des Notarztes ausgesetzt hat. Der BGH muss deshalb prüfen, ob das OLG die Beweisaufnahme richtig gewertet und die Beweislast richtig verteilt hat. Fraglich könnte auch sein, ob das OLG die Rolle des zweiten Lehrers genügend berücksichtigt hat.

Gibt es vergleichbare Urteile?

Der Fall erinnert an ein tragisches Geschehen in Höhr-Grenzhausen (Rheinland-Pfalz): Eine Zwölfjährige hatte sich im Jahr 2010 in einem Naturbad im Seil einer Boje verfangen. Sie war minutenlang unter Wasser und erlitt irreparable Hirnschäden. Anstatt sofort zu handeln, hatte der Bademeister zunächst einen Jugendlichen nachschauen lassen. Bei einem grob fahrlässigen Pflichtverstoß greift die Beweislastumkehr, entschied der BGH Ende 2017 und hob ein Urteil des Landgerichts Koblenz auf (Az.: III ZR 60/16). Die Vorinstanzen hatten ähnlich wie im aktuellen Fall argumentiert: Es sei nicht bewiesen, ob das Mädchen bei schnellerer Rettung nicht genauso schwer behindert gewesen wäre. Von Susanne Kupke, dpa

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Die heikle Frage der Aufsichtspflicht – worauf müssen Lehrer achten? Und wo sind die Grenzen?

 

Anzeige


Info bei neuen Kommentaren
Benachrichtige mich bei

5 Kommentare
Älteste
Neuste Oft bewertet
Inline Feedbacks
View all comments
Martin
5 Jahre zuvor

„Reanimation durch Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung“ ist doch „Standard“ und von jeden Laien leistbar bis der Notarzt eintrifft ! …einfach nur ‚Seitenlage‘ anwenden zuwenig = Schuldig = Schadensersatz.

Heinz
5 Jahre zuvor
Antwortet  Martin

Standard? Also wenn es danach geht, was wirklich Standard ist, dann wäre es wohl auch nicht besser gewesen. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass fast jeder in der Bevölkerung in der Lage ist eine Reanimation durchzuführen, das Gleiche gilt natürlich auch für die meisten Lehrer, schade nur, dass es sich hierbei um Sportlehrer handelte, die es schon hätten wissen müssen.

Ist übrigens kein Wunder, dass es so ist, wie es ist, die Berufsgenossenschaften zahlen in der Regel lediglich 10-20% der Beschäftigten den Erste Hilfe Kurs, in Schulen zählen kurioser Weise die Schüler nicht dazu, so dass man auf eine bemitleidenswerte Anzahl an Ersthelfern in einer Schule kommt.

AvL
5 Jahre zuvor
Antwortet  Martin

@Martin
Dieser Standard der Reanimation durch Reanimationsschulungen muss doch erst noch sukzessive erarbeitet werden. die betroffenen Lehrer waren einfach mit der gesamten Situation überfordert und so werden sie selber sehr daran zu knacken haben, dass sie eben nicht in der Lage waren, das Richtige, also eine Reanimation durchzuführen. Deshalb ist sollte dieser traurige Schlag als Aufruf verstanden werden, endlich bundesweit derartige Schulungen verpflichtend in Begleitung geschulter Ärzte und Rettungsassistenten umzusetzen. Ich sehe da weniger die Lehrer in der Pflicht derartiges umsetzen.
Das sind hoheitliche Aufgaben, die dem Rettungsdienst unterliegen sollten.
Gerne sind wir bereit, uns aktiv hier einzubringen, um die Zahl der Überlebenden durch erfolgreiche primäre und überbrückende Reanimationsmaßnahme über eine aktive Schulung der Bevölkerung zu verbessern.
Die Folgen für die Betroffenen sind schrecklich, abgesehen von den finanziellen Folgeaufwendungen für die weitere Versorgung der Geschädigten.
Ich kenne als Verantwortlicher drei Überlebender, die längerer Reanimationszeiten ohne sichtbare Folgeschäden überlebten und so einem normalen Leben wieder nachgehen.
Um die Prozentzahl erfolgreicher Reanimationen wie oben beschrieben zu erhöhen, ist es aber erforderlich die Bevölkerung sukzessive zu schulen durch diese Fachkräfte. Wir werden das schaffen, wenn man es über die Schulen angeht und die Fachkräfte die Algorithmen einüben lässt.

ysnp
5 Jahre zuvor
Antwortet  AvL

Guter Beitrag AvL. Wir haben vor 2 Jahren die Reanimation in einem 1. Hilfe Kurs an Puppen geübt, musste aber im Internet wieder die Pahsen (wie oft was) nachschauen. Es sollte auch überall an öffentlichen Gebäuden wie Schulen und Turnhallen eine bebilderte Anleitung zur Reanimation hängen. Außerdem sollte viel besser gekennzeichnet sein, wo sich der nächste Defibrillator befindet. Der leitet einen genau an, wie wir im 1. Hilfe Kurs erfahren haben.
Hätte in diesem Fall ein Defibrillator etwas gebracht?

AvL
5 Jahre zuvor
Antwortet  ysnp

Sehr wahrscheinlich war ein Kammerflimmern die Ursache für den Herzstillstand, das durch die sportliche Belastung ausgelöst wurde und das bei einer entsprechenden Erkrankung wie z.B. auf dem Boden einer seltenen, aber familiären Erkrankung im Ionenkanal der Herzmuskelzellen als Auslöser des Kammerflimmerns mit dem plötzlichen Herztod verantwortlich war.
Und so ist es obligat die anderen Familienmitglieder entsprechend untersuchen zu lassen und gegebenenfalls mit einem Defibrillator zu versorgen, wobei dieser sehr viel geringere Stromimpulse aussendet als ein externer Defibrillator.
Wir haben vor ein paar Jahren eine 23 Jährige Frau erfolgreich reanimiert, nachdem Laien vor Ort mit der Reanimation begonnen hatten, und so steht sie heute weiterhin im normalen Leben ohne dass sie kognitive Einschränkungen erlitten hätte.
Der Vater, der Bruder und sie selbst haben eine Erkrankung im Herzmuskelsystem, hier eine autosomal dominant vererbte Erkrankung, das Brugada-Syndrom mit einer zum Teil unvollständigen Penetranz, das häufig Auslöser für den plötzlichen Herztod ist, und so wurden alle betroffenen Familienmitglieder mit einem inneren Defibrillator versorgt, der auch schon einmal ausgelöst hat.