Zehn Jahre nach der Tat von Winnenden: Sind Schulen heute besser vorbereitet?

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STUTTGART. Nachdem ein 17 Jahre alter Amokläufer 15 Menschen niederschießt, ist der Schock ebenso wie die Anteilnahme riesig. Zehn Jahre liegen die Taten von Winnenden und Wendlingen nun zurück. Sind wir heute besser auf solche Taten vorbereitet?

Nach der Tat drückten Schüler der Albertville-Realschule ihre Gefühle aus. Foto: Ra Boe / Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0

«Man kann Amoktaten verhindern, das ist ein ganz klares Ergebnis unserer Forschung», sagt die Kriminologin Britta Bannenberg von der Justus-Liebig-Universität Gießen. Nach dem Amoklauf von Winnenden und Wendlingen bildete sich ein nationaler Forschungsverbund – auch ein Expertenkreis wurde berufen und ein Sonderausschuss im baden-württembergischen Landtag. Aber was hat sich zehn Jahre nach der Bluttat tatsächlich getan?

In den Schulen seien Krisenteams eingerichtet worden, sagt Bannenberg. Ihnen komme schon vor einer Tat eine zentrale Aufgabe zu. «Das Wichtigste ist: Wie geht man mit dem Verdacht um, dass eine Person eine Amoktat planen könnte?» Immer gebe es Anzeichen: «Die Täter sind psychisch hoch auffällig, befassen sich intensiv mit Tod, Töten, Terror. Das fällt dem Umfeld auf.» Eltern, Mitschüler oder Lehrer müssten daher einen direkten Ansprechpartner haben – denn die Hemmschwelle, mit einem möglicherweise falschen Verdacht zur Polizei zu gehen, sei hoch. «Das funktioniert aber nicht in ganz Deutschland. Manchmal an manchen Schulen», so das Fazit von Bannenberg.

In Baden-Württemberg gibt es laut Kultusministerium an jeder Schule ein Krisenteam, bestehend aus einem Vertreter der Schulleitung und zwei weiteren Mitgliedern. Sie sollen bei Hinweisen mögliche Gefährdungen einschätzen und die Polizei informieren – doch dafür müssen sie geschult sein. «Bei den knappen Ressourcen gibt es auch immer Bauchschmerzen, wenn man Lehrer auf Schulungen schicken muss», sagt der stellvertretende Landesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Michael Gomolzig. Gleichzeitig lobt er, dass die Anzahl der Schulpsychologen aufgestockt worden sei.

Nach der Gewalttat vom 11. März 2009 nahe Stuttgart, bei der ein 17-Jähriger in seiner ehemaligen Realschule acht Schülerinnen, einen Schüler, drei Lehrerinnen sowie auf der Flucht drei Menschen und schließlich sich selbst erschoss, blieb vor allem eine Frage: Warum?

Mobbing? Spielt meist keine Rolle

«Mobbing spielte keine Rolle», erklärt Bannenberg. Ebenso wenig wie bei den meisten anderen Amoktaten junger Menschen – 20 Taten waren es laut der Wissenschaftlerin seit 1992 in Deutschland. «Sie fühlten sich vielleicht gemobbt, das hat aber nichts mit der Realität zu tun.» Im Gegenteil, es gebe häufig keine rationalen Motive. «Die Täter sind schwer psychisch gestört.» Getrieben von Hass auf eine Gruppe oder die Gesellschaft, suchten sie den großen Abgang.

Häufig nehmen sich junge Amoktäter andere zum Vorbild. Vom Schützen in München ist bekannt, dass er vor seinem Amoklauf im Sommer 2016 die Tatorte in Winnenden besuchte und fotografierte. Eine Tat mit großem Medienecho erhöht die Gefahr von Nachahmung.

Udo Andriof, der Vorsitzende des 2009 eingerichteten «Expertenkreis Amok», sieht das Verhalten der Medien in Winnenden sehr kritisch: «Klassenkameraden wurden von Journalisten sogar gebeten, ein Klassenfoto mit dem Täter zu besorgen.» Auch das wurde in den 83 Empfehlungen im Abschlussbericht des Gremiums berücksichtigt – mit Erfolg, wie Andriof findet. «Der Presserat hat in seine Richtlinien die Empfehlung aufgenommen, die Täter nicht herauszustellen und auf die Opfer und ihre Angehörigen mehr Rücksicht zu nehmen.»

Der Expertenkreis schlug auch Alarmsysteme extra für Amok und sichernde Drehknöpfe in Schulen vor – so dass Türen nicht mehr von außen geöffnet werden können. Weil das Handy-Netz damals unter einer Vielzahl von Anrufen zusammenbrach, sollten Schulleiter künftig Funkruf-Geräte (Pager) bei sich tragen. Die Pager sind in einer Verwaltungsvorschrift in Baden-Württemberg seit 2012 verbindlich vorgeschrieben – Türverschlusssysteme dagegen zum Beispiel nicht.

Angehörige der Opfer gingen damals mit dem «Aktionsbündnis Amoklauf» in die politische Offensive. Sie forderten auch ein schärferes Waffengesetz. «Unsere Maximalforderung ist nicht durchgegangen und das wird sie auch nie: das Verbot großkalibriger Waffen», sagt Gisela Mayer, Vorsitzende der «Stiftung gegen Gewalt an Schulen» – dem Nachfolger des Bündnisses. Als Reaktion auf Winnenden wurden aber verdachtsunabhängige Kontrollen bei den rund 960 000 registrierten Waffenbesitzern (Stand 31.12.2018) in Deutschland ermöglicht.

Waffenkontrollen oder Alarmübungen seien eine Daueraufgabe, mahnt Udo Andriof. Aber künftige Taten ließen sich nicht komplett ausschließen. So sieht es auch Kriminologin Bannenberg: «Ein Amoklauf ist sehr selten und kann überall passieren.» An ihrer Uni Gießen gibt es seit 2015 eine Telefonberatung für diejenigen, die eine Amoktat fürchten. Rund 200 Anrufe seien dort bislang eingegangen.  Von Linda Vogt, dpa

Wenn der Amok-Notruf kommt – Fehlalarme sorgen zunehmend für Aufregung in Schulen

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