Grüne entledigen sich Löhrmanns Erbe – und setzen auf Gesamtschulen

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DÜSSELDORF. Befreit von Koalitionszwängen justieren die Grünen in NRW ihren schulpolitischen Kompass neu: Weg mit Blockaden für neue Gesamtschulen und Konzentration der Ressourcen auf benachteiligte Schüler. Schwarz-Grün in NRW wird damit nicht wahrscheinlicher.

Unter Druck: NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann. Foto: Grüne NRW / Flickr (CC BY-SA 2.0)
Die Grünen rechnen mit ihrer ehemaligen Schulministerin Sylvia Löhrmann ab. Foto: Grüne NRW / Flickr (CC BY-SA 2.0)

Nach fast zwei Jahren in der Opposition haben die Grünen jetzt neue Leitlinien für die Bildungspolitik in Nordrhein-Westfalen definiert. Ohne Rücksicht auf die aus ihren Reihen gestellte Ex-Schulministerin Sylvia Löhrmann, die die rot-grüne Schulpolitik von 2010 bis 2017 dominierte, und frei von Koalitionszwängen sagen die Grünen jetzt, wofür sie eigentlich stehen. Parteichef Felix Banaszak stellte am Dienstag in Düsseldorf Vorschläge einer von ihm geleiteten Grünen-Bildungskommission vor, über die ein Landesparteitag im Juni entscheiden soll.

SCHULFORMEN: Gesamtschulen und Gymnasien werden sich aus Sicht der Grünen in den nächsten Jahren auch in NRW als die beiden wichtigsten Schulformen herauskristallisieren. «Die Hauptschule wird auslaufen. Sekundarschulen wollen wir in Gesamtschulen umwandeln», heißt es in ihrem Konzept. «Realschulen und Gymnasien wollen wir die Möglichkeit geben, sich selbstständig durch Entscheidung der Schulkonferenz in Gesamtschulen umzuwandeln.»

GEMEINSAMES LERNEN: Eltern zeigten immer weniger Interesse, ihre Kinder an Schulen anzumelden, die ihnen keinen eigenen Weg zum Abitur anböten, stellte Banaszak fest. Daher müssten alle Blockaden für den Ausbau von Schulen beseitigt werden, wo Kinder schulformübergreifend lernen können. «Wir wollen ein System, wo nicht die Grundschulempfehlung den Weg vorzeichnet. Das deutsche Aussieben ist einmalig in der Welt.»

GANZTAG: Die Grünen wollen einen Rechtsanspruch auf kostenlose, hochwertige Ganztagsangebote für Grundschulen sowie die Sekundarstufe I der weiterführenden Schulen – in einem ersten Schritt zumindest für die Klassen 1 bis 6. Wünschenswert wäre, wenn alle Schulen ein verbindliches Ganztagsangebot hätten, sagte Banaszak. Denkbar sei auch ein verpflichtendes Angebot bis 14 oder 15 Uhr und ein daran anschließendes Betreuungsformat, das Eltern zusätzlich wählen könnten. Unterricht und Betreuung könne künftig auch besser über den ganzen Tag verteilt und durchmischt werden.

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SOZIALINDEX: Schulen mit den größten sozialen und pädagogischen Herausforderungen sollen nach einem «schulscharfen Sozialindex» die meisten Stellen und materiellen Ressourcen zugeteilt bekommen.

INKLUSION: Der zum Schuljahr 2014/15 eingeführte Rechtsanspruch behinderter Kinder auf Unterricht in Regelschulen sei richtig gewesen, unterstrich Banaszak. «Auch Gymnasien dürfen daraus nicht entlassen werden.» Wegen fehlender personeller und sachlicher Ressourcen seien viele Schulen damit aber überfordert worden. Die Grünen wollen als Zwischenschritt «Vorreiterschulen» mit besonderer Ausstattung.

KOALITIONSOPTIONEN: Mit dem neu markierten schulpolitischen Kurs pro Gesamtschule, verbindlichem Ganztag und Ausrichtung auf sozial Schwächere würden Koalitionen mit CDU und FDP in NRW schwieriger. Die 2011 in NRW eingeführten Sekundarschulen, die schulformübergreifendes Lernen mindestens noch in den Klassen 5 und 6, aber keine eigene Oberstufe anbieten, waren ein Kompromiss der rot-grünen Regierungsfraktionen mit der CDU-Opposition. Der Konsens sollte langfristig «Schulfrieden» ohne weitere Grabenkämpfe um Schulformen garantieren. Die CDU wollte vor allem Einheitsschulen für alle verhindern. Von Bettina Grönewald, dpa

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FElixa
4 Jahre zuvor

Selbst mit Gesamtschule und Grundschule wird ein dreigliedriges System bestehen bleiben. Finanzstarke und/oder bildungsnahe Eltern schicken ihre Kinder auf Gymnasien mit besonders gutem Ruf und einer möglichst homogenen Gruppe. Erreicht durch Vetternwirtschaft oder Schulgebühren. Dann gibt es Gymnasien mit mittelmäßigen bis schlechten Ruf, sowie die „Abfallschule“ Gesamtschule. So war es und so wird es immer bleiben.

„Realschulen und Gymnasien wollen wir die Möglichkeit geben, sich selbstständig durch Entscheidung der Schulkonferenz in Gesamtschulen umzuwandeln.“

Man erkennt an den beschriebenen Forderungen das klare Ziel: Einheitsschule. Gemeinsames Lernen an einer Schule mit dem gleichen Bildungsabschluss, das Abitur. Kann man machen, führt nur eben zu dem Phänomen aus den USA. Es wird von den Grünen kritisiert:

„Das deutsche Aussieben ist einmalig in der Welt.“

Statt aussieben, kann man alle zusammen unterrichten und dann bilden sich eben Privatschulen, die sich nur noch Familien mit hohem Einkommen leisten können. Siehe eben USA. Wir sehen auch jetzt schon in Deutschland den Trend, dass immer mehr Schüler auf Privatunis gehen. Statt BWL an der Uni Köln, lieber zur WHU. Finanzstarke Eltern haben eben keine Lust, dass der Studienabschluss ihres Sohnes oder ihrer Tochter an Wert verliert, weil nun jeder Abitur macht und studieren geht.

Herr Mückenfuß
4 Jahre zuvor

ZITAT: „Eltern zeigten immer weniger Interesse, ihre Kinder an Schulen anzumelden, die ihnen keinen eigenen Weg zum Abitur anböten, stellte Banaszak fest. Daher müssten alle Blockaden für den Ausbau von Schulen beseitigt werden, wo Kinder schulformübergreifend lernen können.“

Das sehe ich genauso. Es darf aber nicht dazu führen, dass die Nicht-Gymnasien zu „Reste-Schulen“ verkommen, zumal das ihre Abwärtsspirale nur beschleunigen würde. In der Theorie würde für viele Kinder ein Nicht-Gymnasium besser passen, aber in der Praxis kann man doch niemandem guten Gewissens dazu raten, der die Möglichkeit hat, nach der 4. Klasse woanders weiter zu lernen.

Herr Mückenfuß
4 Jahre zuvor
Antwortet  Herr Mückenfuß

D.h. es wird wohl auf die Einheitsschule hinauslaufen und dann je nach Bundesland und politischen Mehrheitsverhältnissen als a) integrative oder b) kooperative Gesamtschule.

(Ich bin eher für Variante -b- ab Klasse 8.)

FElixa
4 Jahre zuvor
Antwortet  Herr Mückenfuß

„Es darf aber nicht dazu führen, dass die Nicht-Gymnasien zu “Reste-Schulen” verkommen, zumal das ihre Abwärtsspirale nur beschleunigen würde.“

Es wird auch Gymnasien treffen. Es spielt ja dann im Grunde keine Rolle, ob Gymnasium oder Gesamtschule. Das Ziel bleibt das gleiche: Abitur. Einheitsschulen waren noch nie gut, denn mit einer Einheitsschule haben wir Verhältnisse wie in den USA oder Großbritannien, wie ich oben beschrieb. Privatschulen für die, die es sich leisten können, und alle anderen versauern an der Einheitsschule. Was bringen einem Einheitsschule und Abiturquoten von 80%, wenn dann die Leistungen nachlassen, das Abitur wertlos wird und selbst ein abgeschlossenes Studium eher Grundvoraussetzung ist, als Auszeichnung. Bei BWL sieht man den Wandel schon jetzt sehr deutlich. Dies zu studieren und Karriere machen geht ja mittlerweile nur noch, wenn man an Privatunis geht und über deren Netzwerke Praktika bei renommierten Unternehmen macht. Auch hier: USA und Großbritannien lässt grüßen.

xxx
4 Jahre zuvor

Die älteren Grünen Politiker ignorieren ganz bewusst, dass sie noch eine vergleichsweise gute Schulbildung an den Gymnasien hatten.

Gerd Möller
4 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

@ xxx:
Mit Verlaub, ich finde diesen und andere Kommentare von Ihnen unsäglich. Dies verleidet mir und sicher auch anderen Diskutanten das Interesse, an den Diskussionen teilzunehmen. Das ist sehr schade für den interessanten Blog.
Deutlich wird mir allerdings, dass ein Gymnasial-Abitur weder notwendig noch hinreichend ist, einen rationalen Diskurs zu führen.

m. n.
4 Jahre zuvor
Antwortet  Gerd Möller

„sicher auch anderen“?? Mir nicht!
Mir wird die Teilnahme an Diskussionen durch persönliche Angriffe auf Mitdiskutanten verleidet, die man wegekelt, indem man auch deren Meinung grundsätzlich verdammt.

xxx
4 Jahre zuvor
Antwortet  Gerd Möller

Wieso? Ich fasse halt sehr kurz und sehr direkt die Aussagen von FElixa zusammen.

Carsten60
4 Jahre zuvor
Antwortet  xxx

Es ist eine Tatsache (die anhand von veröffentlichten Lebensläufen belegt werden kann), dass etliche entschiedene Gesamtschul- und Gemeinschaftsschulverfechter selber auf traditionellen Gymnasien waren, und das zu einer Zeit, als man dort erheblich höhere Ansprüche an die Schüler hatte als heute. Das betrifft sogar Christian Füller, einen scharfen Kritiker des jetzigen Schulsystems. Herr Schleicher war bekanntlich auf einer Privatschule. Natürlich hat auch Herr Precht seine Bildung erstmal am Gymnasium erworben. Jetzt will er das alles am liebsten abschaffen. Und manche Leute finden halt jede Kritik an der politisch motivierten „Gesamtschulbewegung“ unsäglich.
Warum spricht man denn heute so viel von der mangelnden Studierfähigkeit von jungen Leuten mit Hochschulzugangsberechtigung, während das vor 40-50 Jahren kein Thema zu sein schien? Es gibt auch einige gute Gesamtschulen, deren Abiturienten dann eben keine Schwierigkeiten haben. Aber die Bäume wachsen auch dort nicht in den Himmel. Man darf eben keinen „Königsweg“ vesprechen und nicht damit werben: „bei uns ist das Abitur leichter zu erreichen“.

Gerd Möller
4 Jahre zuvor

@ Carsten 60:
Nun müssen auch Lebensläufe von bekannten Personen herhalten, um zu belegen, dass Befürworter des gemeinsamen Lernens aufgrund ihrer Gymnasial-Vergangenheit unglaubwürdig sind. Geht es nicht etwas weniger?
Mangelnde Studierfähigkeit gab es früher nicht? Ich habe 1964 mein Mathematik-Studium in Münster begonnen (und dort auch 1969 abgeschlossen), bereits nach dem ersten Studienjahr war mehr als die Hälfte meiner Kommilitonen wieder aus dem Studium ausgestiegen. Kann sein, dass man dies früher eher als Naturgesetz angesehen hat, aber gute Vorbereitung auf das Studium ist etwas anderes.
Ich hatte in meiner Gymnasialschulzeit weder etwas von Vektoren noch von einem mathem. Grenzwertbegriff gehört. Mathematische Beweise kamen ebenfalls nicht vor. Dafür konnten wir im Schlaf Schnittpunkte bei Kegelschnitten berechnen („Hieb- und Stich-Geometrie“). Soviel zu dem Thema früher wurde noch was verlangt („erheblich höhere Ansprüche an die Schüler als heute“).
Noch etwas Anekdotisches (nicht so ernst gemeint): Der renommierte Astrophysiker und beliebte Wissenschaftsjournalist Harald Lesch hat sein Abitur an einer Gesamtschule in Hessen gemacht. Wahrscheinlich hat er eine der wenigen guten Gesamtschulen besucht, die nach Ihrer „großzügigen“ Bewertung existieren sollten.
Mit besten Grüßen Gerd Möller

Carsten60
4 Jahre zuvor
Antwortet  Gerd Möller

Beim Mathematikstudium mag das so gewesen sein, das galt schon immer als schwierig. Aber heute ist wohl schon die Bruchrechnung für Studienanfänger ein Problem geworden, wie man hört. Gute Vorbereitung? Gerade heute wird ganz offiziell gesagt, dass der Mathematikunterricht an Schulen sich NICHT an dem Studium von MINT-Fächern orientieren SOLL, Vielmehr geht es um „Grundbildung“, um die Rolle der Mathematik in der Welt, um Alltagsmathematik sowie um gesellschaftliche Anforderungen etc. Alles nachzuiesen in Bildungsplänen, Lehrplänen usw., z.B. dem neuen Entwurf für Gymnasien in NRW, wo es heißt: „Das Ziel des Mathematikunterrichts ist die mathematische Grundbildung der Schülerinnen und Schüler.“ Bei PISA heißt genau das „mathematical literacy“ in der englischen Version und „math. Grundbildung“ in der deutschen.
Etwas polemisch gesagt: Das Ziel ist PISA-Bildung statt Studienvorbereitung. In anderen Fächern ist das ganz ähnlich. Da geht es um Alltags- und Gebrauchstexte statt um Literatur, in einem Interview hat Frau Prof. Reiss verkündet, in Fremdsprachen gehe es nicht mehr um Grammatik, sondern mehr um die Fähigkeit, sich verständlich zu machen, die Schule müsse die Abiturienten nicht studierfertig abliefern usw. Kurz: Die Sekundarstufe an Schulen entfernt sich (mit ausdrücklicher Billigung der Bildungsadministration) immer weiter von dem Ziel eines universitären Studiums nach dem Abitur und nähert sich mehr dem ursprünglichen Ziel der Hauptschule an: Vorbereitung auf das praktische Leben. Alles im Interesse einer möglichst einheitlichen Sek. I, deren Ziele in manchen Bundesländern bereits in dieser Weise formuliert werden: Das Gymnasium DARF gar keine anderen Ziele mehr haben als die anderen Schulformen, egal ob G8 oder G9. Und das betreiben Leute, die selber auf Gymnasien mit anderen Zielen gewesen sind. So hatte ich das gemeint.

Gerd Möller
4 Jahre zuvor

@ Carsten60:
In Ihrer Einschätzung des Mathematikunterrichts in der Sek I sind Sie bedauerlicher Weise den vielen kursierenden Stammtischparolen aufgesessen. Hier ist leider nicht der Platz Ihnen dies ausführlich auseinander zu legen. In aller Kürze will ich Ihnen aber antworten und Ihnen die geäußerten Sorgen nehmen:
Der Mathematik-Unterricht in der Sek I ist kein „PISA-Unterricht“. Das literacy-Konzept ist lediglich ein Bestandteil. Die Konzeption lehnt sich an die 3 Grunddimensionen an, die von dem Mathematik-Didaktiker Heinrich Winter entwickelt wurden. Hierzu ein Auszug aus den Lehrplänen NRW Mathematik Gymnasium Sek I:
Schülerinnen und Schüler sollen im Mathematik-Unterricht der Sek I
Erscheinungen aus Natur, Gesellschaft und Kultur mit Hilfe der Mathematik wahrnehmen und verstehen (Mathematik als Anwendung)
Mathematische Gegenstände und Sachverhalte, repräsentiert in Sprache, Symbolen und Bildern, als geistige Schöpfungen verstehen und weiterentwickeln (Mathematik als Struktur)
sowie
in der Auseinandersetzung mit mathematischen Fragestellungen auch überfachliche Kompetenzen erwerben und einsetzen ( Mathematik als kreatives und intellektuelles Handlungsfeld)

Hier wird deutlich, dass es um mehr geht als nur um Anwendungen und „Vorbereitung auf das praktische Leben“ (darum geht es mit Recht natürlich auch)

Mit besten Grüßen Gerd Möller

Carsten60
4 Jahre zuvor
Antwortet  Gerd Möller

Aber eine Vorbereitung auf das Studium von MINT-Fächern durch das Gymnasium wurde von maßgeblichen schulischen und didaktischen Autoritäten explizit abgelehnt. Das sei nicht die Aufgabe allgemeinbildender Schulen, hieß es. Also findet diese Art von „guter Vorbereitung“ eben nicht statt bzw. wird den Hochschulen überlassen. Aber in anderen Fächern ist das ähnlich hinsichtlich der mangelnden „Wissenschaftspropädeutik“. Man strebt stattdessen an, dass die Abiturienten später Azubis werden. Es gibt dann den „Übergangs-Schock“ oder gar eine „Lücke“ beim Übergang Schule-Hochschule, auch bei Fachhochschulen. Fragen Sie nach bei Fachhochschulen, wenn Sie das nicht glauben. So jedenfalls kann das aussehen:
ipw-edu.org/fileadmin/_migrated/content_uploads/24.pdf