Lehrerverband macht gegen zu viel Druck in den vierten Grundschul-Klassen mobil: „Wir werden Kindern in keiner Weise gerecht!“

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MÜNCHEN. „Was wir mit zehnjährigen Mädchen und Jungen an unseren Grundschulen anstellen, ist nicht nur fragwürdig, es wird Kindern in keiner Weise gerecht.“ Mit diesen Worten übte die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Simone Fleischmann, Kritik am bayerischen Übertrittsverfahren, das eine strenge Notenauslese vorsieht.

Rund 20 Prüfungen müssen Viertklässler in Bayern laut BLLV zwischen Weihnachten und April absolvieren. Foto: Shutterstock

Anfang Mai werden in Bayern die sogenannten Übertrittszeugnisse an Mädchen und Jungen vierter Grundschulklassen ausgehändigt. Sie berechtigen zum Übertritt auf eine weiterführende Schule. Wer ein Gymnasium besuchen will – und das wollen laut BLLV die meisten – braucht einen Schnitt von mindestens 2,33 in den drei Hauptfächern Mathematik, Deutsch, Heimat- und Sachkunde. Damit dieser Schnitt ermittelt werden kann, müssen die Kinder zwischen Weihnachten und April rund 20 Prüfungen absolvieren. „Dieser Marathon überfordert viele Kinder“, erklärt Fleischmann. Am sinnvollsten aus pädagogischer Sicht wäre es jedoch, „Schulen grundsätzlich so zu gestalten, das sie zum Kind passen – nicht umgekehrt.“ Sie fordert das Kultusministerium auf, das gängige Verfahren kritisch zu hinterfragen. Der Elternwille zählt in Bayern, anders als in den meisten Bundesländern, nicht.

Es sei nicht mehr tragbar, dass sich jedes Schuljahr die gleichen Szenen abspielten und der Leidensdruck, dem Kinder, Eltern und Lehrkräfte ausgesetzt seien, nicht endlich abgestellt werde, meint Fleischmann. Kinder würden unter einem schier unerträglichen Druck stehen, was absolut kontraproduktiv sei. Denn: In ihrer Persönlichkeitsentwicklung bräuchten sie Kontinuität. Sie müssten wahrgenommen werden mit all ihren Kompetenzen, Stärken und Schwächen, Bedürfnissen und Potentialen und  – bei Bedarf – entsprechend individualisierte Förderung erhalten. Der Blick aufs Kind und seine Bedürfnisse sollte Grundlage für eine Entscheidung über seine Bildungsbiografie sein, nicht die Auslese nach Noten. „Noten messen Kompetenzen nur bedingt – sie lösen zudem Druck und Angst aus.“

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Schule soll Leistungsfähigkeit stärken – tut sie das?

Freilich gebe es Kinder, die in den vierten Grundschuljahrgangsstufen durchmarschierten. „Es gibt aber auch die anderen, die das nicht können“, betont die BLLV-Präsidentin: „Kinder, die nachts nicht mehr schlafen können, die von Ängsten geplagt sind, Kinder, die krank werden, die ihre Motivation verlieren.“ Jedes einzelne Kind müsse mit seinen Fähigkeiten mehr in den Mittelpunkt rücken. Für diesen Blick auf die individualisierte Leistung brauche es vor allem: Zeit. „Zeit, um Leistung zu zeigen, Zeit um Leistung zu diagnostizieren. Zeit für Bildung.  Zentrale Aufgabe von Schule und Bildung ist es doch, Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft jedes einzelnen Schülers zu stärken. Das wollen gerade auch die Lehrkräfte, doch auch sie sind an systemische Zwänge gebunden.“

Auch für die Lehrkräfte seien vierte Grundschulklassen eine extreme Herausforderung. Fleischmann: „Viele halten dem Druck, der in dieser Zeit auch von vielen Eltern ausgeübt wird, kaum noch stand.“ Jedenfalls sei es eine Tatsache, dass viele Lehrkräfte die Klassenleitung dritter und vierter Grundschuljahrgänge ablehnten. News4teachers

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Streit über „Abschulungen“ vom Gymnasium – wer ist verantwortlich dafür, dass die Zahl betroffener Schüler nach Klasse 6 drastisch steigt?

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ysnp
4 Jahre zuvor

Ich unterstreiche alles, was Frau Fleischmann sagt.

Bis auf diesen Passus:
„Damit dieser Schnitt ermittelt werden kann, müssen die Kinder zwischen Weihnachten und April rund 20 Prüfungen absolvieren. „Dieser Marathon überfordert viele Kinder“, erklärt Fleischmann.“

Richtig ist:
Bis das Übertrittszeugnis Anfang Mai herausgegeben hat, gibt es eine Richtzahl von 22 Proben (Arbeiten) in den Fächern D (12), M (5), HSU (5), die vom Anfang des Schuljahres bis dorthin geschrieben sein sollten. Dazwischen liegen „prüfungsfreie Zeiten“ von 4 Wochen, die die Schulen eigenständig verteilen. Wenn man die ersten bieden Septemberwochen weglässt, wo man in Ermangelung von Unterrichtsstoff noch nichts schreiben kann und man meistens erst drei Wochen nach Schuljahresbeginn anfängt, hat man bis zum Übertrittszeugnis (1-2 Wochen vorher muss man wegen der Schreibarbeit aufhören, Proben zu schreiben) ca. 22-23 Schulwochen Zeit. Dann kommt noch dazu, dass es probenfreie Zeiten gibt, die man meist vor oder nach die Ferien legt. Das bedeutet, man hat ca. 18-19 Schulwochen Zeit, Proben zu schreiben. Dann kommt noch dazu, dass auch unbenotete Englischtests, kleine Religionsproben und Musikproben geschrieben werden. Meistens schreibt man diese auch nicht in den probenfreien Zeiten, obwohl man es dürfte, sonst hätten die ja keinen Effekt. Da kommen also zu den Hauptfächern ca. 5-6 Lernsachen dazu. 22+6 = 28.
Also kommt man auf 1-2 Proben bzw. Leistungsüberprüfungen pro Woche. Die Proben werden eine Woche vorher angekündigt.
Auf Leseproben und Aufsätze und Zuhörproben kann man nicht lernen. Das erleichtert auf der anderen Seite das Lernpensum etwas. Der Druck ist dennoch da.
Was ich nicht gerechnet habe, sind die kleinen mündlichen und praktischen Noten, die sich aus dem Unterrichtsverlauf ergeben und ständig gemacht werden. Das kam in den letzten Jahren obendrauf. Vor ca. 10 Jahren hat man nur die schriftlichen Noten gerechnet.

Vielleicht sieht man bei der reinen rechnerischen Aufstellungen unter welchem psychischen Druck die Kinder (und Eltern) stehen. Sie haben das Gefühl, dass ständig Leistungen abverlangt werden. Dadurch, dass man auch probenfreie Zeiten hat, summiert sich das auf der anderen Seite in den verbleibenden Schulwochen.
Rein lernintensiv für gewissenhafte Schüler sind die HSU- Proben (Sachunterricht), weil man da einen Lernstoff richtig lernen muss. Wer nichts versäumen will, lernt auch auf Englisch, Musik (sind aber meistens nur ganz wenige Proben) und Religion.
Der Lernstoff und Deutsch und Mathematik sollte durch die Hausaufgaben abgedeckt sein. Dennoch sollte man die Themen wiederholen und in Deutsch die Rechtschreibung üben.

Mein Fazit:
Die Vorschrift des Richtwertes von 22 Proben hat man noch zu der Zeit erlassen, als man noch Diktate schrieb und das Mündliche und Praktische in Bayern keine große Rolle zur Notenfindung in der Grundschule spielte. Ich kann mich noch erinnern, wo es in der Vorschrift hieß “ z.B. Diktatproben“. Früher hat man regelmäßig Diktate geschrieben.
Die Vorschrift so durchzuziehen, wo man inzwischen anders zur Noten kommen kann und keine reinen Diktate mehr schreibt, entspricht nicht mehr dem aktuellen Unterricht. Außerdem hat man in den 12 Deutschproben dem Bereich : Zuhören und Sprechen in Deutsch gar keinen großen Stellenwert eingeräumt. (Da kann man höchstens einmal eine Zuhörprobe im VERA- Stil schreiben. )
Man ist künstlich gehetzt und man muss einige Abstriche im kompetenzorientierten Unterricht machen, weil man einfach nicht mehr die Zeit hat, den Unterrichtsstoff in Ruhe mit den entsprechenden kompetenzorientierten Methoden zu erarbeiten.
Der Vollständigkeit halber zu erwähnen: Man hat jetzt gestattet, dass man eine Probe in HSU durch ein Referat zu ersetzen. Wenn man dies komplett in der Schule machen lässt, ist das ein ziemlicher Zeitfresser – dann kommt man wieder ins Schleudern mit den restlichen Proben.

FElixa
4 Jahre zuvor

„Der Blick aufs Kind und seine Bedürfnisse sollte Grundlage für eine Entscheidung über seine Bildungsbiografie sein, nicht die Auslese nach Noten.“

Wonach soll man denn entscheiden? Welche Bedürfnisse? Wenn jemand die Noten mitbringt, wird er nicht gezwungen auf das Gymnasium zu gehen. Andersherum soll dann jemand aus welchen Gründen auf das Gymnasium gehen, wenn er nicht den Notenschnitt mitbringt? Darum geht es doch in dieser Diskussion.

Entscheidend ist die Aussage, dass der Druck eben oft von den Eltern kommt. Früher war eben diese „Auslese“ normal. Wenn man den Schnitt hatte, ging man auf ein Gymnasium, ansonsten war es dann die Real- oder Gesamtschule. Für diejenigen, die auf die Hauptschule gingen, spielte der Schnitt sowieso keine Rolle. Es war aber allen bewusst, dass dies lediglich einen Zwischenstand wiederspiegelte. Jeder konnte von der Haupt- oder Realschule auf eine Gesamtschule oder Gymnasium wechseln und das Abitur machen. Genauso konnte jeder auf dem Gymnasium auch nur die mittlere Reife machen. Heute sieht es in vielen Bundesländern eben so aus, dass es lediglich unverbindliche Empfehlungen gibt. Deshalb sitzen dann in Klasse 5 auf dem Gymnasium 20 von 30 Schülern, die fachlich nichts können. Ich habe persönlich gar keine Lust mehr auf Klasse 5-7, weil das einfach ein Krampf ist mit Kindern zu arbeiten, die völlig überfordert sind, das Mindestniveau nicht erreichen und daran zugrunde gehen. Wenn man dann mit den Eltern spricht, dass das Kind die Leistung nicht erbringt, physisch und psychisch dadurch Probleme hat, bekommt man meist nur die Aussage „Mein Kind bleibt auf dem Gymnasium und macht Abitur“. Getreu dem Motto: der Lehrer macht das schon und wir Eltern geben jegliche Verantwortung ab. Deswegen sollte man dem Vorbild Bayern folgen. Knallharte Auslese nach Klasse 4 mit dem Bewusstsein, dass durch entsprechende Leistungen der Übergang zwischen Schulformen jederzeit möglich ist.

Gerd Möller
4 Jahre zuvor

2015 ist erstmalig in Deutschland eine Studie der Universität Würzburg (Reinders, H., Ehmann, T., Post, I. & Niemack, J. (2015). Stressfaktoren bei Eltern und Schülern am Übergang zur Sekundarstufe. Abschlussbericht über die Elternbefragung in Hessen und Bayern 2014. Schriftenreihe Empirische Bildungsforschung, Band 33, Universität Würzburg.

erschienen, die die Stressbelastung von Grundschülern am Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe erfasst. Die schriftliche Befragung in 2014 von 1.620 Eltern in Bayern – mit verbindlicher Empfehlung – und Hessen – mit unverbindlicher Empfehlung – zeigt dabei, dass

• die an Schulnoten gekoppelte und bindende Übertrittsregelung in Bayern zu einer höheren Stressbelastung bei Kindern führt als die hessische Form der beratenden Übertrittsempfehlung. In Hessen weisen in der dritten Klasse 29,8 und in der vierten Klasse 25,8 Prozent der Kinder Stressbelastungen auf. In Bayern hingegen sind es in der dritten Klasse 51,7 und der vierten 49,7 Prozent.
• vor allem Kinder aus bildungsfernen Familien einer hohen Stressbelastung ausgesetzt sind, weil sie weniger über stresshemmende Schutzfaktoren verfügen als Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern.
• Eltern durch überzogene und unrealistische Bildungserwartungen die Stressbelastung für ihre Kinder zusätzlich erhöhen und hierdurch zur Gefährdung ihrer Kinder beitragen.
• Kinder in Bayern, die an der Notenschwelle zwischen Mittel- und Realschulempfehlung liegen, eine erhebliche Risikogruppe darstellen. Die Schüler weisen nicht nur die höchsten Stresswerte auf, sie sind auch die einzigen, bei denen der Stress von der dritten zur vierten Klasse dramatisch ansteigt. Hier besteht akuter Handlungsbedarf.
Der Übergang in die weiterführende Schule und der damit verbundene Stress fallen in den Klassen 3 und 4 in eine sensible Phase, die in hohem Maße relevant für das Selbstkonzept der Kinder ist. Stress und äußere Zuschreibungen an die eigene (vermeintliche oder faktische) Leistungsfähigkeit verfestigen sich bei Kindern und wirken gerade bei Kindern mit negativen Leistungsrückmeldungen deutlich lernhemmend.

Mit verbindlichen Schulformempfehlung werden Kinder im Alter von zehn Jahren einem vermeidbaren und kaum zu verantwortenden Stress ausgesetzt, und zwar viel stärker als bei unverbindlichen Empfehlungen.
Aber auch die unverbindlichen Empfehlungen sind mit erheblichen Mängeln behaftet. An deren Beseitigung müssen die für Bildungspolitik Verantwortlichen dringend arbeiten, wenn sie ihren Anspruch auf evidenz-basierte Bildungspolitik glaubhaft umsetzen wollen.

Anna
4 Jahre zuvor
Antwortet  Gerd Möller

Was wir uns in Deutschland für Verrenkungen leisten, um ein überkommenes Schulsystem aus dem 19. Jahrhundert künstlich am Leben zu erhalten – aberwitzig.

Würde man all die Ressourcen, die man zum Erhalt des gegliederten Systems verschleudert, in die Schulen und ins Lernen stecken, hätten alle Lehrkräfte ein besseres Arbeiten und die Schülerinnen und Schüler eine bessere Bildung.

Milch der frommen Denkungsart
4 Jahre zuvor
Antwortet  Anna

Wer kritisiert, muss die Wahrheit sagen; er sollte sie aber auch kennen.

AvL
4 Jahre zuvor
Antwortet  Anna

Die einfachen und plakativsten Antworten auf die Probleme der Zeit sind doch immer noch die schönsten.

Herr Mückenfuß
4 Jahre zuvor
Antwortet  Anna

@ Anna, ich verweise noch mal auf die Aussage eines Schulrechtsexperten, die Ihnen sicherlich nicht in den Kram passt, sodass Sie sie beharrlich ignorieren:

„Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung zur Benachteiligung von Behinderten im Schulsystem deutlich gemacht, dass die ideologisch-apodiktischen Festlegungen von der Art „Behinderte müssen Förderschulen besuchen“ oder „Behinderte müssen Regelschulen besuchen“ dem Grundgesetz nicht entsprechen und die Rechte aller Beteiligten im Einzelfall zu respektieren und gegeneinander abzuwägen sind. Diese Rechtsprechung gilt unverändert auch nach der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention durch die Bundesländer.“

(Thomas Böhm: „Nein, du gehst jetzt nicht aufs Klo!“.- München 2018, S. 34)

ysnp
4 Jahre zuvor
Antwortet  Gerd Möller

Danke für die interessante Information.

Hier einige Bemerkungen meinerseits:
1) Stressbelastung von Kindern bildungsferner Schichten/Eltern:
Ich erlebe hier bei einigen Eltern – gehäuft in bildungsfernen Schichten – im Verlauf des 3. Schuljahres völlig unrealistische Einschätzungen über das Leistungsvermögen des Kindes. „Mein Kind ist nur faul.“ usw. Man sieht immer die Hoffnung dahinter, dass es dem Kind schulisch besser geht als einem selbst.
Ich hatte auch schon umgekehrte Fälle. Da musste ich die Eltern regelrecht ermutigen, das Kind auf eine bildungsstärkere weiterführende Schule zu schicken.

2) Auch von den Eltern ausgehend: Mittelschule auf jeden Fall vermeiden! Obwohl die Mittelschule viel für ihr Profil macht.

3) Zum Stress in Bayern:
Wie aus meinem 1. Beitrag zu ersehen, halte ich das Übertrittsverfahren, wie es im Augenblick durchgeführt wird als sehr stressanfällig. Da könnte man einiges machen, wenn man wollte.

4) Elternwillen:
Dem Elternwillen stattzugeben hört sich zwar gut an und bringt Wählerstimmen, aber dem Kind bringt es langfristig (bis auf eine entspanntere Grundschulzeit) nichts.
Wir sehen aus dem Beitrag von FElixa, dass das Problem der Stresses nur in die höheren Jahrgänge verschoben wird. Wenn ein Kind für eine Schule nicht geeignet ist, dann ist das sehr schmerzhaft für das Kind.
Auf viele Eltern ist bei der Wahl der richtigen weiterführenden Schulen kein Verlass, denn viele verkennen die Tatsache, dass ihr Kind diesem Schultyp nicht gewachsen ist. Was sie damit ihrem Kind antun – es muss sich ja ständig als Versager fühlen. Deswegen brauchen wir schon ein vernünftiges Auswahlverfahren.
Bei der Einschulung muss man ja auch schulreif sein und das stellen nicht die Eltern fest, sonst hätten wir u.U. schon Vierjährige in der Schule. Es wäre zu überlegen, ob man nicht zur Absicherung zusätzlich eine Art Aufnahmetest mit Berücksichtigung eines Grundschulgutachtens für die weiterführende Schule verlangen sollte. So käme es eben nicht ständig auf irgendwelche Leistungskontrollen an, sondern es wäre ein zeitlich begrenzter Stress.

Allein nach Elternwillen zu entscheiden ginge nur bei einer weiterführenden Gemeinschaftsschule, wo man innerhalb der Schule auf die geeigneten Kurse wechselt und diese Schule alle Bildungswege anbietet.
Reiner Elternwille bei speziellen Schultypen halte ich für schlecht fürs Kind, weil man für bestimmte Schulen bestimmte Grundbegabungen und eine entsprechende Arbeitshaltung mitbringen muss.

Carsten60
4 Jahre zuvor
Antwortet  Gerd Möller

Herr Möller: PISA-Sieger möchten natürlich alle sein („Deutschland muss sich selbstverständlich mit den Weltbesten messen“), aber Stress? Nein danke! Stress ist ein negativer Begriff, igitt. Was glauben Sie wohl, wieviel Stress die Kinder in den PISA-Siegerländern Japan, Südkorea, Singapur haben? Und das nicht nur schlappe 20 Wochen in ihrem Schulleben, sondern pausenlos.
Zu Bayern: In der ersten Studie PISA 2000 lagen in den drei Testdisziplinen Schweden und Bayern etwa gleichauf. Schweden war beim Lesen etwas besser, aber Bayern bei der Mathematik mit jeweils gleichem (aber geringem) Abstand. Und was haben uns die Bildungsexperten von rot-rot-grün und von der GEW erzählt, besonders die, die schon vorher das dreigliedrige Schulsystem abschaffen wollten? Schweden hui, Bayern pfui! Und das gesamtschulfreundliche Bremen mit wenig Stress und 50 Jahren SPD-Politik lag ganz hinten, noch dazu mit einer riesigen Streuung der Leistungen (viel mehr als Bayern). So macht man Stimmung in der Politik und verdreht die wissenschaftlich erwiesenen Fakten! Herr Möller, was haben Sie selbst damals gesagt? Vermutlich doch auch: das bayerische Schulsystem ist schlecht, ganz Deutschland muss in Sack und Asche gehen, Schweden ist leuchtendes Vorbild ?
Die IQB-Ländervergleichsstudie von 2012 zeigte sogar, dass in Bayern die Migrantenkinder der ersten Art (nur ein Elternteil im Ausland geboren) in Mathematik besser waren als die Nicht-Migranten in Hessen, NRW, Niedersachsen und Baden-Württemberg. Aber natürlich: Bayern muss schlecht sein, das ist ein Axiom der Genossen. Und langjährig SPD-regierte Länder müssen gut sein, das ist das zweite Axiom der Genossen. Und Schule ist nur noch für die soziale Gerechtigkeit da, das ist das dritte Axiom der Genossen.

Gerd Möller
4 Jahre zuvor

Einige Ergänzung aus den zahlreichen Befunden der empirischen Bildungsforschung:

Jüngere empirische Studien haben gezeigt, dass die Schulformempfehlungen nicht nur von der Leistungsfähigkeit der Kinder bestimmt werden. Bei Kontrolle der Schulleistung
finden sich vielmehr auch Einflüsse der sozialen Herkunft der Schüler sowie der Leistungsstärke der Klassenkameraden.
So müssen Schüler aus bildungsfernen Familien für gleiche Schulformempfehlungen im Durchschnitt bessere Noten vorweisen als Schüler aus privilegierten Familien.
Grundschulempfehlungen sind grundsätzlich fehlerbehaftet, da sie Prognosen für die Zukunft darstellen. An den diagnostischen Fähigkeiten der Lehrkräfte ist aus psychologisch-diagnostischer Sicht (vgl. Ingenkamp, 1969) schon früh kritisiert worden, dass die Objektivität, Reliabilität und Validität der eingesetzten Verfahren vielfach nicht den klassischen Gütekriterien genügen würden und dass es den meisten Lehrkräften an einer systematischen Ausbildung ihrer diagnostischen Fähigkeiten fehle. Dies dürfte dazu beitragen, dass der Fehleranteil bei Übertrittsempfehlungen substanziell ausfällt.

So konnte z.B. die IGLU-Studie (2007) zeigen, dass rund 40 Prozent der Empfehlungen nicht mit den gemessenen Kompetenzen der Schüler übereinstimmen. Hier ist indes anzumerken, dass neben den schulischen Leistungen noch andere Faktoren, wie z.B. das Arbeitsverhalten und Durchhaltevermögen bei den Schulformempfehlungen berücksichtigt werden.

An den Daten der Schulleistungsstudie PISA lässt sich erkennen, dass sich die Leistungsverteilungen an den verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe
erheblich überlappen. Entsprechend kann man zu Recht argumentieren, dass ein bedeutsamer Anteil der nicht-gymnasialen Schülerschaft im Prinzip das Gymnasium hätte besuchen können und für den Besuch der gymnasialen Oberstufe ähnlich geeignet ist wie ein substanzieller Anteil der Gymnasialschülerschaft.

Zudem besteht am Ende der Grundschulzeit noch eine erhebliche Plastizität in Hinblick auf die weitere kognitive und motivationale Entwicklung, sodass im Prinzip noch keine sichere Prognose hinsichtlich des erreichbaren Leistungsvermögens möglich ist. Auch dies kann dazu beitragen, dass in mehreren Studien (z.B. Schuchart und Weishaupt 2004) ein beträchtlicher Prozentsatz von Schülerinnen und Schüler einen höheren Schulabschluss erwarben als man
auf der Basis der Grundschulempfehlung erwarten konnte.

In der Hamburger KESS-Langzeitstudie (2010) wurde gezeigt, dass 70 Prozent der Schüler, die keine Empfehlung fürs Gymnasium gehabt haben, in der achten Klasse immer noch dort waren. Dies legt den Schluss nahe, dass Schüler sich in Abhängigkeit zu ihrer besuchten Schulform entwickeln. Diese Annahme wird von den mehrfach nachgewiesenen Effekten der differenziellen Entwicklungsmilieus der Schulformen unterstützt.

Auch F. Baeriswyl, Ch. Wandeler und U. Trautwein (2011) ziehen die verbindlichen Schulempfehlungen, die auf Notenbasis getroffen werden, in Zweifel. Auch ihrer Studie zufolge sind Zensuren eine subjektive Angelegenheit und spiegeln nicht zwangsläufig die Fähigkeiten der Schüler wider. Lehrkräfte orientieren sich bei der Benotung häufig an der Zusammensetzung der Klasse. Durchschnittlich begabte Kinder werden schlechter bewertet, wenn sie in einer leistungsstarken Klasse sitzen.

Die hier referierten wissenschaftlichen Befunde zeigen erneut, dass Schulformempfehlungen am Ende der Grundschulzeit mit großer Unsicherheit und Fehlern behaftet sind. Es ist daher nur schwer zu rechtfertigen, dass ein Übertrittszeugnis verbindlichen rechtlichen Status erhält. Es kann folglich, wenn überhaupt, nur als Orientierung dienen.

Da auch die unverbindlichen Empfehlungen mit diesen Unsicherheiten behaftet sind, ist es aus Gründen der Bildungsgerechtigkeit notwendig, die Problematik der sozialen Benachteiligung aufgrund der Schulformempfehlung in den Blickpunkt zu rücken. Hier sind Bildungspolitik, Schulaufsicht, Lehrerausbildung, Schulleitungen und Lehrerkonferenz gleicher Maßen gefordert, um die häufig nicht leistungsbedingten Bildungsaspirationen zwischen den Schichten zu kompensieren.

Es sei an dieser Stelle noch ein unverdächtiger Zeuge zitiert, nämlich das bayerische Staatsinstitut (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (Hrsg.) (2016). Oberste Bildungsziele in Bayern. Art. 131 der Bayerischen Verfassung – Wertefundament des LehrplanPLUS:
„Aktuelle Studien belegen, dass immer noch Zusammenhänge zwischen der sozialen Herkunft und den Schulleistungen von Kindern bestehen. So gibt es Hinweise darauf, dass der kulturelle, ökonomische und soziale familiäre Hintergrund Einfluss auf Schülerleistungen, Schulnoten sowie Eignungsgutachten haben kann. Neben diesen sogenannten primären Effekten kann sich die soziale Herkunft auch indirekt auf die Bildungschancen eines Kindes auswirken. Man spricht dann von den sekundären Effekten, beispielsweise wenn sie, unabhängig von den erbrachten Leistungen des Heranwachsenden, auf Schullaufbahnentscheidungen Einfluss nehmen.“ (Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung 2016, S. 44)

ysnp
4 Jahre zuvor
Antwortet  Gerd Möller

Da frage ich mich immer, wie man darauf kommt, was die Benotung betrifft. Die Kinder schreiben eine Probe, da gibt es einen Erwartungshorizont mit Punkteverteilung. Außerdem hat man ein Punkte – Notenschema. Da kann man nichts daran „drehen“, so wie es immer unterstellt wird. In Bayern zählt allein der Notenschnitt.

Also bitte, Aufnahmeprüfung, dann ist alles neutral, wenn man den Grundschullehrern misstraut. Wir haben uns das Übertrittsverfahren nicht herausgesucht und würden am liebsten ohne das alles in Ruhe unterrichten!
Übrigens gibt es immer wieder solche Umfragen in den Lehrerseiten. Es ist anonym. Wer garantiert, ob jeder, der darauf antwortet, Lehrer ist? Vielleicht sollte man einmal solche Umfragen kritisch unter die Lupe nehmen.

Wie sich Kinder weiterentwickeln, kann man nicht voraussehen. Man kann nur von seinen Beobachtungen der letzten 2 Jahre und den Leistungsnachweisen folgern. Grundschullehrer kennen die Kinder besonders gut. Wir bekommen häufig von Lehrern weiterführender Schulen bestätigt, dass sich die Stärken und Schwächen, die in den Wortgutachten beschrieben sind, in der Regel wieder so zeigen.
Aber es gibt eine gewisse Grundintelligenz, die ähnlich gleich bleibt. Wenn man zur Erkenntnis kommt, dass alles variabel ist, darf man keine Gymnasien mehr anbieten, sondern muss die Grundschule als Gemeinschaftsschule weiterführen.

Palim
4 Jahre zuvor
Antwortet  ysnp

G. Möller: „Jüngere empirische Studien haben gezeigt, dass die Schulformempfehlungen nicht nur von der Leistungsfähigkeit der Kinder bestimmt werden. Bei Kontrolle der Schulleistung finden sich vielmehr auch Einflüsse der sozialen Herkunft der Schüler sowie der Leistungsstärke der Klassenkameraden.“

ysnp: „Da frage ich mich immer, wie man darauf kommt, was die Benotung betrifft. Die Kinder schreiben eine Probe, da gibt es einen Erwartungshorizont mit Punkteverteilung.“

Die Klassenarbeit/ Probe ist sicherlich fair bewertet und ja, sie misst die Leistung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Ungerechtigkeit ergibt sich aus dem, was zuvor geschieht:
Das Schulsystem ist nach wie vor darauf ausgerichtet, dass es auch auf die häusliche Unterstützung baut, schließlich tragen die Eltern einen Teil der Verantwortung. Klar.
Und ja, ich bin auch dafür, dass es so ist und habe Erwartungen daran, die aber eben nicht immer erfüllt werden, trotz Elterngesprächen, Hinweisen, Belohnungssystemen, Absprachen etc.

Das führt aber auch dazu, dass Kinder, die diese Unterstützung erhalten, im System besser zurecht kommen, für die Klassenarbeiten /Proben anders vorbereitet sind.
Andere Kinder sind es nicht. Sie haben ihre Materialien nicht, niemand räumt ihren Schulranzen auf, niemand hilft ihnen beim Erstlesen, niemand schaut nach, ob sie Hausaufgaben erledigen und gibt ihnen dazu Hinweise, niemand erinnert sie an Klassenarbeiten und übt mit ihnen.
Wenn es schlimm kommt, steht niemand morgens auf und niemand sorgt für ein Frühstück und angemessene Kleidung, stattdessen gibt es Gewalt oder anderes Bedrohliches zu Hause, das die Kinder beschäftigt.

Solange es für diese Kinder keine Möglichkeiten gibt, sie im Schulsystem aufzufangen, wird es sozial benachteiligend bleiben und wir verlieren schon zu Beginn der Schulzeit diese Kinder. Manchmal sind die Lernvoraussetzungen erstaunlich gut, manchmal sind sie erschreckend schwach, durch mangelnde Unterstützung und Übung verschärft sich die Situation.

Da kann man noch viele vergleichende Studien machen, man kann auf die mangelnden Leseleistungen im 4. oder 8. SJ oder nach der Schule verweisen, man kann beklagen, dass das Einmaleins nicht sitzt … Das alles sind Grundlagen des 1. und 2. Schuljahres!
Gerne wird dann nach den Lehrern gerufen, die es richten sollen, die aber dafür keinerlei Unterstützung erhalten. Trotz aller Differenzierung im Klassenverband muss man bei manchen Kinder dabei zuschauen, wie sie verwahrlosen.
Alternativ kann die Schule auf Ehrenamtliche setzen, die dann in der Schule helfen. In bestimmten Einzugsgebieten ist es aber nicht leicht, dafür jemanden zu gewinnen. Manchmal sind dafür die rechtlichen Bedingungen nicht klar, sodass viele Steine in den Weg gelegt werden oder ein solches Vorgehen blockieren können. Zudem kann doch der Einsatz ungeschulter Ehrenamtlicher nicht die offiziell gültige Lösung für dieses Problem sein!

DAS wird bei den Studien zum Tragen kommen und dann ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulleistung schnell gezogen.

Ein Kind aus einer vernachlässigenden Familie muss schon ein wahrer Meister sein, wenn es trotz aller Widerstände gleich gute Leistungen zeigt, wie die, deren Eltern sich um alles (oder noch mehr) kümmern, … und in BY den erforderlichen Notenschnitt erhält.

Weiß man um die mangelne Unterstützung, die an den weiterführenden Schulen nicht zunehmen wird, steht die Frage im Raum, ob das Kind am Gymnasium überhaupt bestehen kann, wenn dort weit mehr als an der GS die Mithilfe der Eltern erwartet wird.

ysnp
4 Jahre zuvor
Antwortet  Palim

Für solche Kinder haben wir in Bayern inzwischen Ganztagesangebote. Das Bild, das gerne gezeichnet wird, dass in Bayern nur die Kinder mit großer elterlicher Unterstützung ans Gymnasium kommen, stimmt so nicht. Gewiss gibt es Eltern, die unterstützen, aber die meisten können und wollen das gar nicht mehr leisten. Ich würde mir manchmal wünschen, dass ich den Kindern im 3. Schuljahr nicht mehr beibringen muss: „Wie organisiere ich meine Schulsachen und mein Lernen.“ Das geht durch alle Begabungen. Manchmal muss ich den Eltern klarmachen, dass durch das wenige Kümmern Potential verschenkt wird. Man will für sein Kind eine weiterführende Schule (ab Realschule aufwärts), zeigt aber so gut wie keine Unterstützung.

Es ist auf der anderen immer am besten, wenn ein Kind eine Schulart ohne große elterliche Unterstützung, was das Trimmen im Lernen betrifft, schafft. Wer nur mit Hilfe auf eine Schulart gehen kann, der wird es an der kommenden Schulart noch schwerer haben und viele Eltern können das dann nicht mehr stemmen. Deswegen werfe ich bei den Beratungsgespräche immer mit ein darüber nachzudenken, mit wie viel Elternhilfe das Kind zu der Leistung gekommen ist. Es ist immer am besten, wenn man aus eigener Kraft an eine Schulart gekommen ist.
Die grundlegende Kümmern muss natürlich da sein. (Hilfen bei der Ordnung usw.) Aber die Defizite gehen inzwischen quer durch alle Schichten. Übrigens sind die Kinder mit sonderpäd. Förderbedarf in meiner Klasse prozentual diejenigen, um die sich die Eltern am meisten kümmern. Fast alle von ihnen haben einen aufgeräumten Schulranzen und ihre Sachen immer dabei.

Palim
4 Jahre zuvor
Antwortet  ysnp

Gerade BY hat ja nun kein flächendeckendes Ganztagsangebot und in anderen Regionen sieht es auch nicht besser aus.
Hier gibt es Wartelisten für den Ganztag, keine Horte, keine anderen Möglichkeiten, zudem ist das Angebot freiwillig.

Ich stimme zu, dass bei der Empfehlung immer auch mit überlegt wird, unter welchen Bedingungen die Noten entstanden sind und wie viel Hilfe das Kind hatte.
Das führt im Fall einer Übergangsnote dazu, dass Kinder mit viel Unterstützung die entsprechenden Noten erreichen und zum Gymnasium wechlsen dürfen. Kinder, die diese Unterstützung nicht hatten, schaffen das dann nicht und werden davon ausgeschlossen.
Bei einem System ohne Übergangsnote kann es dazu führen, dass Lehrkräfte Kinder aus entsprechenden Haushalten mit etwas schwächeren Leistungen dennoch zum Gym empfehlen unter der Annahme, dass diese Eltern um einen Ausgleich bemüht sein werden, bei anderen Kindern mit besseren Leistungen und weniger Unterstützung dann aber dazu tendieren, diese Empfehlung mangels notwendiger Unterstützung nicht aussprechen.

Letztlich denke ich aber, dass die Ungerechtigkeit selbst weit vorher entsteht.
Wird von Beginn an unterstützt, hat das Kind bis Klasse 3 vieles an Struktur gelernt, kann vernünftig lesen und Kopfrechnen, versteht, was „üben“ bedeutet… es sind recht viele Aspekte, die insgesamt die schulischen Leistungen stark beeinflussen.
Bei den unterstützten Kindern führt die entsprechende Lebensführung (ich nenne es mal so) zu besseren Leistungen, bei den nicht unterstützten Kindern zu schwächeren Leistungen.
Und genau da wird dann eben auch Potential verschenkt, weil man zu Beginn der schulischen Laufbahn zu wenig fördern und ausgleichen kann.

dickebank
4 Jahre zuvor

Ja und? Rein bayrisches, selbstgemachtes Problem.

Kommt davon, dass die CSU glaubt, Schweine würden durch Wiegen fett. – Für’s Staatsvolk noch der gut gemeinte Tipp:
„Nur die dümmsten Kälber suchen ihre Metzger selber.“

Wolfgang Bergmann
4 Jahre zuvor
Antwortet  dickebank

Immerhin halten sich die Bayern seit Jahrzehnten bei allen schulischen Leistungstests an der bundesdeutschen Spitze. Also sind die Schweine doch fett geworden und das bayerische Kälberwahlvolk war gar nicht so blöde.

dickebank
4 Jahre zuvor

Nee, nicht durch’s Wiegen sondern durch Segregation.
Die genannten Leistungstests sind doch nicht Anderes als der übliche Äpfel-Birnen-Vergleich, da die Vergleichsgruppen ja nicht gleich zusammengesetzt sind.

Um ein Beispiel zu nennen, die gerade veröffentlichten Studien über das frei verfügbare Einkommen der Bevölkerung geordnet nach Landkreisen aus diesem Jahr wurden vielfach bundesweit damit veranschaulicht, dass das frei verfügbare Einkommen der Gelsenkirchner nur halb so groß sei wie das der Starnberger. Interessanterweise zeigt sich bezogen auf NRW folgende Situation, das Einkommen der Olper (Landkreis OE) ist ebenfalls doppelt so hoch wie das der Gelsenkirchner.

Um auf das eigentliche Thema zurück zu kommen, die Vergleiche der Bundesländer sind aus vielerlei Gründen nicht hilfreich. Aussagekräftiger sind die Vergleiche einzelner Regionen. Die Einkommenssituation in der „Medrobolregion“ Nürnberg ist genauso rückläufig wie die in Essen. Solche Zahlen haben Auswirkungen auf die Schulentwicklung – und zwar größere als die landespolitischen Entscheidungen zur Schulpolitik. Letztere haben nämlich nur Einfluss darauf, ob zum Übergang an ein GY der Elternwille oder ein Notenschnitt maßgeblich sind.

Mir stellt sich ja immer die Frage, warum in Bayern so viele Arbeitsmigranten aus den PISA-Verlierer-Ländern nördlich der Donau beschäftigt werden müssen, um das BIP in BY aufrecht zu erhalten. Der größte Teil der dort ansässigen Firmen ist ja auf bayrische Existenzgründungen zurück zu führen; also weder Siemens noch BMW noch AUDI usw. usf.

Aus meiner Sicht ist der gravierendste Unterschied darin zu sehen, dass in BY aufgrund des stark eingeschränkten Zuganges auf die GY das berufliche Abitur über den Weg technischer oder kaufmännischer Gymnasien eine deutlich höhere Bedeutung hat als der Weg zum Fachabitur an Berufkollegs hier in NRW. Die Zahl der Hochschulzugangsberechtigungen, die über berufliche Schulen erlangt werden, ist in BY weitaus höher als z.B. in NRW.

Carsten60
4 Jahre zuvor

dickebank: „Nee, nicht durchs‘ Wiegen sondern durch Segregation:“
Hier irren Sie. Die soziale Ungerechtigkeit wird in Tests für gewöhnlich durch den Einfluss des sozialen Gradienten auf den Testerfolg gemessen, die sog. Varianzaufklärung. Die IQB-Ländervergleichsstudie von 2012 zeigt, dass diese Varianzaufklärung in Bayern geringer ist als
— im Bundesdurchschnitt
— in NRW
— in Hessen
— in Hamburg,
und zwar bei Mathematik (hier sehr deutlich), Physik und Chemie. Das steht in den Tabellen 1 und 2 (Seite 17-18) der Zusammenfassung (36 Seiten lang) unter:
https://lisa.sachsen-anhalt.de/unterricht/bildungsmonitoring/laendervergleichiqb-bildungstrend/
Das wird nur von interessierter Seite und in der veröffentlichten Meinung nicht gesagt, um das bayerische Schulsystem als sozial ungerecht bezeichnen zu können. Diese und auch die Vergleichsstudie von 2011 für die Grundschule zeigten zudem, dass in Bayern die Migrantenkinder besser abgeschnitten haben als die Nicht-Migranten in so manchem anderen Bundesland.

Gerd Möller
4 Jahre zuvor
Antwortet  Carsten60

Sorry, Carsten60,
Ihre Ausführungen zum sozialen Gradienten sind fehlerhaft und verschweigen wichtige Informationen.
1. Sozialer Gradient und Varianzaufklärung (Determinationskoeffizient: R Quadrat) sind 2 unterschiedliche Größen.
2. Aber wichtiger ist, dass Ihre „Bundesligatabelle“ nicht relevant ist, da sich die sozialen Gradienten aller Länder nicht signifikant (Zufallsabgesichert) vom deutschen Mittelwert unterscheiden.
3. Es ist auch nicht richtig, dass man soziale Ungerechtigkeit im Schulsystem allein durch den sozialen Gradienten misst: Sie haben hier ausgelassen: Leistungsvergleiche in den sog. EGP-Klassen (vereinfacht Sozialklassen) und die Odds-Ratio, die die Wahrscheinlichkeit im Zugang zu weiterführenden Schulen in Abhängigkeit der sozialen Herkunft messen. Zuletzt sind noch die Überlappungsbereiche der Leistungen zwischen den Schulformen zu nennen, die signalisieren, dass die frühzeitigen Aufteilungen auf Schulformen nicht leistungsgerecht sind.
Der Platz reicht hier natürlich nicht aus, zu den genannten Maßen Ländervergleiche darzustellen.
Was mich am meisten am bayerischen Schulsystem stört ist aber die verbindliche Grundschulempfehlung, die unnötigen großen Stress in Schule und Familien bringt und zudem nicht nur leistungsgerecht ist, sondern auch von der sozialen Herkunft abhängig ist, wie es Palim im April-Beitrag dargestellt hat.

Carsten60
4 Jahre zuvor
Antwortet  Gerd Möller

„Sozialer Gradient und Varianzaufklärung sind zweierlei“
Das weiß ich. Ich beziehe mich auf das, was diese Testberichte sagen. In den genannten Tabellen stehen beide Größen direkt nebeneinander. Nicht der soziale Gradient als solcher ist entscheidend, sondern dessen EINFLUSS. Und auf diese Einflussgröße habe ich mich bezogen. Der ist in den Ländern sehr unterschiedlich. Das heißt auch bei PISA „Varianzaufklärung“ und meint offenbar, wieviel von den Leistungsunterschieden kann man auf soziale Faktoren zurückführen, und wieviel auf andere. Wenn das anders sein sollte, dann sind die Herausgeber dieser Berichte nicht imstande, das vernünftig zu erklären. Nebelkerzen brauchen wir nicht.
Jedenfalls steht Bayern nicht schlechter da als NRW. Wieso haben die Migrantenkinder in Bayern bessere Kompetenzen gezeigt als die in NRW? Warum also die ganze Aufregung? Siehe auch meinen Beitrag am 31.8. um 12:03 oben.
„Was Sie stört“ kann ja wohl nicht wichtiger sein, als was diese kompetenzorientierten standardisierten Tests ergeben haben. Wozu haben wir die denn? Mich stört auch vieles! Was zum Beispiel ist in Berlin mit seiner 6-jährigen Grundschule (seit Kriegsende) nachweislich besser als in Hamburg mit seiner 4-jährigen? Die Tests geben da nichts her, und kein Befürworter des längeren gemeinsamen Lernens bezieht sich auf die großartigen Erfolge in Berlin. Alle reden da nur drumherum.

Carsten60
4 Jahre zuvor
Antwortet  Gerd Möller

Im IQB-Bericht 2012 lese ich: „Anhand der Varianzaufklärung wird deutlich, dass in Mathematik und in den Naturwissenschaften bundesweit 13 bis fast 17 % der Unterschiede zwischen den SuS in den erzielten Kompetenzen auf Unterschiede im sozioökonomischen Status der Eltern zurückgeführt werden können.“
Aber eben in Bayern (14,5 %) weniger als in NRW (16,7 %) bei der Mathematik.

dickebank
4 Jahre zuvor
Antwortet  Carsten60

Die Klaffen zwischen arm und reich sind in den bayrischen alndkreisen geringer. abyern hat trotz seiner Größe (Einwohnerzahl) so gut wie keine Großstädte (kreisfreien Städte). Die Einkommensverteilung innerhalb Bayerns mag zwar sehr groß sein, das Lohnniveau in München und Oberbayern ist deutlich höher als das z.B. in der Oberpfalz. Dahingegen sind die Einkommensunterschiede innerhalb der Landkreise bzw. Regionen (Regierungsbezirke) geringer als in NRW. Das wird auch dadurch ermöglicht, dass Bayern innerhalb der Bundesrepublik die kleinsten und überschaubarsten CSU-Fürstentümer – pardon Landkreise – unterhält.

So viel zum Thema Varianz.

D. Orie
4 Jahre zuvor

Vielen Dank an Gerd Möller, interessante Beiträge!

ysnp
4 Jahre zuvor

Ich führe die Diskussion einmal hier weiter, weil die Stränge zu schmal werden.

Zitat Palim:
„Letztlich denke ich aber, dass die Ungerechtigkeit selbst weit vorher entsteht. Wird von Beginn an unterstützt, hat das Kind bis Klasse 3 vieles an Struktur gelernt, kann vernünftig lesen und Kopfrechnen, versteht, was “üben” bedeutet… es sind recht viele Aspekte, die insgesamt die schulischen Leistungen stark beeinflussen.
Bei den unterstützten Kindern führt die entsprechende Lebensführung (ich nenne es mal so) zu besseren Leistungen, bei den nicht unterstützten Kindern zu schwächeren Leistungen.
Und genau da wird dann eben auch Potential verschenkt, weil man zu Beginn der schulischen Laufbahn zu wenig fördern und ausgleichen kann.“

Genau richtig. Doch wie könnte man das Problem lösen? Ganztagesangebote sind auf jeden Fall ein Weg dazu, aber immer der zweitbeste Weg hinter einer elterlichen Unterstützung, sofern die Eltern Zeit haben. In der Schule ist eben der Betreuungsschlüssel nicht so günstig wie zuhause und auch Ganztageskinder müssen noch zuhause nach dem anstrengenden Volltag Schule auf Leistungsnachweise lernen.
Wenn man an das verschenkte Potential denkt ist allerdings doch nicht alles verschenkt, wenn man es später schafft, aus eigener Kraft das Potential zu wecken. In Bayern gibt es für ältere, begabte Schüler viele Möglichkeiten, doch noch zu der entsprechenden Schulausbildung zu kommen.

Zum Betreuungsschlüssel in Bayern: Nahezu alle Grundschulen bieten inzwischen wenigstens eine Mittagsbetreuung mit Hausaufgabenbetreuung an, sogar oft den offenen Ganztag. Der geschlossene Ganztag wird nicht an jeder Schule angeboten, aber doch gut verteilt im Land.

Palim
4 Jahre zuvor

„Genau richtig. Doch wie könnte man das Problem lösen? Ganztagesangebote sind auf jeden Fall ein Weg dazu, aber immer der zweitbeste Weg hinter einer elterlichen Unterstützung“

Sehe ich auch so.
Dann muss es gesellschaftlich und politisch gewollt und ermöglicht werden, dass allen Kindern die Möglichkeit des Ganztages geboten wird.
Zeitnah! Lippenbekenntnisse, dass Bildung wichtig sei, helfen da wenig!

„Nahezu alle Grundschulen bieten inzwischen wenigstens eine Mittagsbetreuung mit Hausaufgabenbetreuung an,“
Das ist hier nicht so. Entweder der halbe Tag (5 Zeitstunden unter Aufsicht) ohne HA-Betreuung oder Ganztag.

„In der Schule ist eben der Betreuungsschlüssel nicht so günstig wie zuhause“
Die Frage nach dem Betreuungsschlüssel stellt sich dann zudem.
Auch da hilft eine Aufbewahrung wenig und sollte nicht als Förderung verkauft werden.

„und auch Ganztageskinder müssen noch zuhause nach dem anstrengenden Volltag Schule auf Leistungsnachweise lernen.“
Letztlich bräuchte es für die, die zu Hause keine Unterstützung erhalten, weitere Möglichkeiten, etwas wie Tagesaufenthalte o.ä., in denen sie notwendige Hilfe erhalten. Da geht es um einzelne. Ich bin empflindlich, weil ich konkrete Kinder vor Augen habe, bei denen als Alternative eine Pfelgefamilie angeraten wäre, aber so viele Familien werden sich nicht finden lassen. Dennoch bräuchten diese Kinder eine verlässliche Bezugsperson, die für geregelten Schulbesuch, geregelte Mahlzeiten und weiteres sorgen würde.

Gerd Möller
4 Jahre zuvor

@ ysnp:
Mit den offenen Ganztagsangeboten ist es in Bayern lt. Bildungsbericht Bayern 2018 nicht so toll, wie man aus Ihrem Kommentare entnehmen könnte.
In Bayern gibt es 2403 Grundschulen mit insgesamt 432.189 Schülern im SJ 2016/17.
Offenen Ganztag bieten von den 2403 Grundschulen gerade mal 340 GS (mit 21.733 Schülern) an.
Gebundenen Ganztag bieten 365 GS (mit 26.703 Schülern in Ganztagsklassen) an.
1.523 GS bieten Mittagsbetreuung an, aber nur 27.100 Schüler nehmen da an einer verlängerten Mittagsbetreuung mit erhöhter Förderung bis 16:00 teil.

ysnp
4 Jahre zuvor
Antwortet  Gerd Möller

Rechnet man zu den ca. 1500 GS mit Mittagsbetreuung noch die ca.700 GS dazu, dann sind wir fast bei den 2400 Grundschulen. Es gibt entweder die Mittagsbetreuung oder die OGTS. Im Prinzip ist es nicht viel anders, nur bekommt man dadurch Zuschüsse und ist zeitlich und vom Personal her mehr gebunden und die Eltern müssen für die Betreuung nichts bezahlen. Wir haben von der Mittagsbetreuung auf die OGTS aus finanziellen Gründen umgestellt.
Eine Mittagsbetreuung mit Hausaufgabenbetreuung bzw. die OGTS ist nur für die Schüler von Vorteil, deren Eltern zu der Zeit arbeiten bzw. zuhause die Betreuung nicht leisten können. Bei uns werden die Angebote ungefähr zu 40 Prozent wahrgenommen, sogar auch teilweise von Eltern, wo jemand zuhause ist. Ich weiß, dass die Grundschulen der Umgebung bemüht sind, dann eine Mittagsbetreuung mit Hausaufgabenbetreuung über den Förderverein, den nach meiner Einschätzung jede Schule hat, einzurichten, wenn sich Bedarf abzeichnet. Wenn das fix ist, gehen dann die GS dazu über, eine OGTS einzurichten. Gebundene Ganztagesklassen kann man meistens nur bei größeren Grundschulen einrichten, wenn der Bedarf da ist. Denn es gilt die Regel: Durch die Bildung einer GTK darf es nicht zur Klassenmehrung kommen, d.h. es müssen so viele Klassen entstehen, die auch bei normaler Verteilung entstehen würden. Unter Umständen wären dann die verbliebenen Klassen zu groß. Man kann z.B. nicht eine kleine GTK machen und die anderen mit 30 Schülern bestücken. Man kann ja niemand in eine Ganztagesklasse zwingen.

Gerd Möller
4 Jahre zuvor
Antwortet  ysnp

@ ysnp:
Nur eine kleine Korrektur:
Die 3 Kategorien sind nicht überschneidungsfrei: also sind die Zahlen nicht addierbar
Gruß Gerd Möller