Brennpunkt vs. Bullerbü? Vor welchen Problemen eine Stadtschule und eine Landschule stehen – ein Gespräch mit den Schulleitern

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BERLIN. Verhaltensauffälligkeiten bis hin zur Gewalt, Sprachdefizite, Erziehungsmängel: Insbesondere an Grundschulen in sozial schwierigen städtischen Lagen sind die Probleme kaum mehr beherrschbar – heißt es. Auf dem Land dagegen ist die Bildungswelt noch in Ordnung – denken viele. Aber stimmen die Klischees? Gestern hat der Aktionsrat Bildung, eine Gruppe namhafter Bildungsforscher, ein Gutachten dazu veröffentlich  (News4teachers berichtete). Wir haben zwei Schulleitungen, eine aus Duisburg, die andere von der beschaulichen Ostseeküste, miteinander ins Gespräch gebracht. Dabei ergaben sich überraschende Gemeinsamkeiten.

Unterschiedliche Schulstandorte mit unterschiedlichen Herausforderungen? Oben: die Silhouette von Duisburg – unten: die Nordseeküste. Fotos: Shutterstock

News4teachers: Frau Keyser, Sie sind Leiterin der Grundschule Steinbergkirche. Stellen Sie uns bitte Ihren Arbeitsplatz kurz vor.

Andrea Keyser: Meine Schule hat im Moment nur noch 80 Kinder. Unsere Schülerzahl ist in den letzten Jahren von knapp 200 gesunken, wie die Prognosen ja vorausgesagt haben. Aber ich gehe davon aus, dass sie auch bei uns im ländlichen Raum wieder ein bisschen ansteigen wird. Das besondere Profil unserer kleinen Grundschule ist, dass wir uns für die Inklusion aussprechen und sie auch leben. Wir versuchen uns danach auszurichten, dass die Vielfalt aller Kinder willkommen ist und der Unterricht entsprechend differenziert sein muss. Egal, wie gut oder schlecht die Rahmenbedingungen für den gemeinsamen Unterricht in Schleswig-Holstein aussehen.

News4teachers: Wo arbeiten Sie, Herr Steuwer?

Peter Steuwer: Wir sind eine relativ große Schule am Stadtrand von Duisburg. Wir hatten vor zwei, drei Jahren 240 Schüler, jetzt gehen wir auf 325. Wir nehmen vier erste Schuljahre auf. Wir sind aber auch eine Schule des gemeinsamen Lernens und haben uns sehr bewusst vor sechs, sieben Jahren für den Bereich Inklusion entschieden. Die Schule ist von einer großen Vielfalt geprägt. Von dem geistig behinderten Kind bis zu dem hochbegabten, wir müssen allen gerecht werden. Und die Schule ist durch ein besonderes Ganztagsangebot und durch Schulsozialarbeit geprägt. Wir haben Kinder aus etwa 25 Nationen bei uns. Nun glauben viele, die Migrantenkinder senken unser Niveau. Wir haben aber auch viele vor allem türkischstämmige Kinder, deren Familien hier in der dritten, vierten Generation leben und recht gut eingebunden sind. Viele dieser Kinder heben unser Niveau.

Andrea Keyser: Obwohl wir eine kleine Schule auf dem Land sind, heißt Inklusion bei uns auch nicht nur, einige wenige Kinder mit Behinderungen oder Lernförderbedarfen einzubeziehen. Wir haben auch Kinder mit Migrationshintergrund, auch Kinder aus emotional-sozial instabilen Verhältnissen. Andererseits können wir bei unserem Kollegium endlich auch von einem multiprofessionellen Team sprechen. Schulsozialarbeit ist zumindest für einige Stunden mit dabei. Schulbegleitung ist auch in unserer Schule angekommen, Schulassistenz ebenfalls. Nicht umfassend für alle fünf Tage, aber immerhin mit einem gewissen Stundenpotenzial. Das ist wichtig, bringt für mich als Schulleitung aber jetzt eine neue Herausforderung. Früher habe ich gerufen: „Bitte gebt mir ein multiprofessionelles Team!“ Jetzt frage ich: „Wer unterweist denn die Menschen, die zu uns gehören, aber nicht für die Arbeit in einem pädagogischen multiprofessionellen Team ausgebildet sind?“ Das kann ich innerhalb meiner kurzen Leitungszeit nicht schaffen.

News4teachers: Wie sieht es bei Ihnen aus mit multiprofessioneller Unterstützung, Herr Steuwer?

Peter Steuwer: Ich bin jetzt 21 Jahre hier Schulleiter. Als ich hierhin kam, gab’s an der Schule ungefähr so viele Schüler wie heute. Wir hatten dafür 15 bis 18 Lehrer. Mittlerweile arbeiten bei mir in der Schule fast 70 Menschen. Wir haben einen Schulsozialarbeiter. Wir haben auch Integrationsassistenzen. Das ist sogar ein eigenes Unterteam, wenn man so will. Das allein sind zwölf Menschen bei uns. Wir haben für den offenen Ganztag zwei Träger im Haus, die bilden auch wieder zwei Unterteams, insgesamt 24 Mitarbeiter, zwei davon in der Küche. Wir haben die Musikschule im Haus. Meine Arbeit hat sich durch die Einbeziehung so vieler Menschen, die zum Teil völlig verschiedene Erfahrungen und Perspektiven einbringen, total geändert. Ich versuche, ein gutes Klima hinzukriegen und zu erreichen, dass möglichst alle an einem Strang ziehen.

News4teachers: Klappt das?

Peter Steuwer: Absolut. Das muss gehen, weil unsere Kinder das Team brauchen. Nun ist es so, dass eine gute Zusammenarbeit nicht einfach so passiert. Das unterscheidet unsere Arbeit wahrscheinlich stark, Frau Keyser– ich unterrichte kaum noch, weil ich hauptsächlich dafür da bin, die Rahmenbedingungen zu organisieren.

Andrea Keyser: Meine Leitungszeit ist so begrenzt. Ich habe im Moment nur acht Stunden Leitungszeit – der Großteil meiner Arbeitszeit geht nach wie vor in den Unterricht. Schulleitung heißt für mich dann vor allem Vorbildarbeit. Gleichzeitig wachsen die Ansprüche an das Management. Darin sehe ich eine grundsätzliche Problematik. Wir werden kaum Nachwuchs finden für Schulleitungsaufgaben, wenn die Bedingungen nicht verbessert werden. Dazu kommt ja noch der zunehmende Lehremangel. Mir graut vor der Vorstellung, dass wir nur noch Quer- und Seiteneinsteiger in die Kollegien bekommen. Absehbar ist: Wir werden für die steigenden Schülerzahlen definitiv zu wenig Lehrkräfte haben. Wenn ich mir anschaue, welche Herausforderung es jetzt schon bedeutet mit Menschen zu arbeiten, die nicht für die Arbeit in der Grundschule ausgebildet sind – dann bin ich nicht allzu zuversichtlich, dass das in Zukunft gelingt.

News4teachers: Ist Ihre Schule denn schon vom Lehrermangel betroffen, Frau Keyser?

Andrea Keyser: Wir sind insofern betroffen als dass wir, wenn Vertretungslehrkräfte eingestellt werden könnten, überhaupt niemand mehr auf dem Markt finden. Das Ministerium hat zwar Geld in der Kasse, aber es gibt keine Menschen, die das Geld in Anspruch nehmen können. Im letzten Jahr hatten wir das Glück, eine pensionierte frühere Lehrkraft von uns als Vertretungslehrkraft hier einsetzen zu können. Die kannte sich natürlich wunderbar in der Schule aus. Aber das war ein Einzelfall.

Peter Steuwer: Die Situation ist ziemlich vergleichbar in vielen Bundesländern – auch bei uns in Nordrhein-Westfalen. Wir kennen das gut, was Sie schildern, Frau Keyser. Früher, noch vor drei, vier Jahren gab’s genügend Vertretungskräfte, wenn eine Lehrerin ein Baby bekam und in Erziehungszeit ging. Jetzt muss man sich durchhangeln. Bislang hatten wir an unserer Schule eine Seiteneinsteigerin, das ist eine Sek-II-Lehrerin. Jetzt bekomme ich einen Seiteneinsteiger hinzu, der kein Lehrer von Beruf ist. Der hat, immerhin, an einer anderen Schule zeitlich befristet ein Jahr lang Erfahrungen gesammelt. Ich kenne sowas aus meiner eigenen Schulzeit – auch damals herrschte Lehrermangel. Wir hatten einen Klassenlehrer, der war Referendar, leitete aber schon vollverantwortlich unsere Klasse.

Ein großes Problem, das ich beim Einsatz von Seiteneinsteigern sehe, ist deren regionale Verteilung. In attraktiven Städten lassen sich noch so gerade eben bodenständige Grundschullehrer finden. In ländlichen oder unattraktiven Regionen dagegen gibt es gar keine solchen Bewerbungen mehr – da müssen die Schulen praktisch jeden einstellen. Da teile ich Ihre Bedenken völlig, Frau Keyser. Es müsste ein landesweit gesteuertes Verfahren geben. Wenn es eine Not gibt, dann darf man die Verteilung nicht dem Zufall überlassen. Sonst führt das dazu, dass die Schulen keine gleichen Rahmenbedingungen für Kinder mehr bieten können. Das geht nicht, zumal mit der Einstellung von Personal Weichen für die nächsten 20, 25 Jahre gestellt werden. Das macht mir selber auch Bauchschmerzen.

News4teachers: Herr Steuwer, Sie haben gerade berichtet, dass Sie unlängst selbst eingestellt haben. Das heißt, der Grad der Eigenverantwortlichkeit Ihrer Schule ist groß?

Peter Steuwer: Ja, bei Einstellungen ist das so. Wir dürfen, wenn die Schulaufsicht uns eine Stelle zuweist, selber entscheiden, wen wir einstellen. Das macht Sinn, wenn wir  genügend Bewerber und Bewerberinnen haben. Dann können wir schauen: Wer passt hier menschlich rein? Wer passt von seiner Ausbildung her gut zu unserer Schule? Nur: Die Situation ist derzeit umgekehrt. Nicht mehr die Schulen suchen sich die Bewerber aus, sondern die Bewerber die Schulen. Da hakt es dann. Auch bei  Vertretungstätigkeiten bin ich relativ frei. Ich spreche mit der Schulaufsicht und sage: „Wie viele Stunden haben wir?“ Und diese Stunden kann ich besetzen – wenn ich sie irgendwie besetzt kriege. Die Verträge macht das Schulamt, aber die Entscheidung welche Person ich wähle und vorschlage, die treffe ich immer unter der Voraussetzung, dass die Personalvertretung dem zustimmt und dass es ein faires Verfahren gegeben hat. Auch in diesem Bereich gibt es ein hohes Maß an Eigenverantwortung.

News4teachers: Wie ist das bei Ihnen, Frau Keyser?

Andrea Keyser: Ähnlich. Aber wie Herr Steuwer sagt: Was nützt mir die Möglichkeit einer Auswahl, wenn es niemand gibt, den ich auswählen kann? Ich bin darüber richtig wütend. Die Politik verschläft die Entwicklung. seit Jahrzehnten. Wenn man in Schulämtern oder in Ministerien nach Schülerprognosen fragt, bekommen Sie keine  zuverlässigen Aussagen. Wie will da jemand vernünftig planen? Wenn die Universitäten nicht genügend Lehrernachwuchs ausbilden, weil die Kontingente politisch kleingehalten werden, dann werden wir nie eine ausreichende Zahl von Bewerbern bekommen. Wenn da nicht schnellstens umgesteuert wird, dann sehe ich entweder Riesenklassen auf uns zukommen – oder wir müssen mit einer Vielzahl von Quer- und Seiteneinsteigern leben. Das ist dann fast wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten, als man die Soldaten, die man nicht mehr im Militärdienst brauchte, in die Schulen steckte. So oder so: Wir machen pädagogisch zehn Rollen rückwärts.

Die Gesprächspartner

Andrea Keyser leitet die Grundschule Steinbergkirche in der gleichnamigen schleswig-holsteinischen Gemeinde mit 2.800 Einwohnern. Die Schule ist Luftlinie gerade mal vier Kilometer vom Strand und der „Seebadeanstalt Norgaardholz“ an der Flensburger Förde entfernt. Die Besonderheiten des Ortes laut Gemeindeverwaltung: „die Nähe zum Meer, die herrliche Natur und ein idyllischer Ortskern“. Tourismus ist die wichtigste Wirtschaftsbranche.

Peter Steuwer leitet die Grundschule Vennbruchschule im Duisburger Stadtteil Vierlinden – ein sozial durchwachsenes Viertel mit hohem Migrantenanteil. Die Stadt Duisburg ist Teil der Metropolregion Rhein-Ruhr, in der Stadt an Stadt grenzt und die insgesamt zehn Millionen Einwohner zählt. Duisburg hat mit hoher Arbeitslosigkeit und einem schlechten Image zu kämpfen. Der Stadtteil Marxloh gilt bundesweit als Inbegriff für einen sozialen Brennpunkt.

Was Schulen auf dem Land und Schulen in der Stadt benötigen – Bildungsforscher legen Gutachten zu regionalen Unterschieden vor

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4 Kommentare
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Storb
4 Jahre zuvor

Hat der Schulleiter die Kollegin tatsächlich permanent mit „Frau Andrea Keyser“ angesprochen?

Storb
4 Jahre zuvor
Antwortet  Redaktion

Ich danke! Gutes Interview.

Christian
4 Jahre zuvor

„News4teachers: Klappt das?

Peter Steuwer: Absolut. Das muss gehen, weil unsere Kinder das Team brauchen.“

Komisch, bei solchen werde ich irgendwie misstrauisch. Das klappt, weil es klappen muss? Da würde ich dann gern mal andere Stimmen aus Duisburg hören. Kennt jemand die Schule näher?