Debatte um die Ganztagsschule: Kommen und Gehen, wann Eltern wollen?

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STUTTGART. Die Ganztagsschulen sind in Baden-Württemberg nicht der Renner. Die Städte wollen das straffe Korsett dieser Schulart etwas aufschnüren und damit den Eltern entgegenkommen. Beim CDU-geführten Kultusministerium stößt der Kommunalverband auf offene Ohren, der Koalitionspartner – die Grünen – winkt aber ab.

Feste Zeiten für den Ganztag? Sind unbeliebt. Foto: Shutterstock

Viele Eltern in Baden-Wüttemberg melden ihre Kinder lieber nicht an Ganztagsschulen an – der Städtetag wirbt deshalb für Lockerungen im Ganztagskonzept. «Wir müssen uns fünf Jahre nach dem offiziellen Start der Ganztagsschule von der Vorstellung verabschieden, dass immer alle Schüler gemeinsam von 8 bis 16 Uhr die Schulbank drücken», sagte Bildungsdezernent Norbert Brugger im Gespräch in Stuttgart.

Das Kultusministerium betonte, der Kommunalverband renne bei ihm offene Türen ein. Die Landtags-Grünen hingegen halten das derzeitige Ganztagssystem für ausreichend flexibel. Die CDU-Fraktion forderte die Grünen auf, den Weg für einen familienfreundlichen Ganztag frei zu machen.

Wenn das Ministerium den Blick auf die Weiterentwicklung der Qualität des Ganztags richte, sei das zwar in Ordnung, führe aber nicht zu mehr Nachfrage, sagte Verbandsmann Brugger anlässlich einer Veranstaltung am kommenden Montag, bei der Kultusministerin Eisenmann den Städtevertretern den neuen Qualitätsrahmen für Ganztagsschulen präsentieren will. Eltern seien flexiblere Betreuungsmöglichkeiten mehr wert als eine – nicht einmal mit mehr Lehrkräften untermauerte – Qualitätssicherung.

Qualität und Familienfreundlichkeit des Ganztags – kein Gegensatz?

Kultusministerin Eisenmann sieht keinen Gegensatz zwischen Qualitätsentwicklung und Familienfreundlichkeit: «Neben der qualitativen Weiterentwicklung der Ganztagsschule müssen wir die Familien in den Blick nehmen, die sich lieber eine flexible Nachmittagsbetreuung wünschen.» Der stockende Ausbau der Ganztagsschulen liege auch daran, dass sich viele Eltern flexible Betreuungsangebote wünschten. Ein entsprechendes Konzept habe das Ministerium bereits vorgelegt.

Die Grünen-Bildungsexpertin Sandra Boser betonte hingegen: «Die Ganztagsschule gibt den Eltern schon heute ein flexibles Angebot und auch bei den zeitlichen Modellen gibt es mehrere Möglichkeiten.» Sie bekannte sich zur Ganztagsschule als Schule der Chancengerechtigkeit und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. CDU-Fraktionschef Wolfgang Reinhardt forderte die Grünen auf, der Kabinettsvorlage Eisenmanns zuzustimmen, nach der sich Ganztagsangebote und Betreuung ergänzen und letztere auch bezuschusst werden, wenn es an einem Standort bereits eine Ganztagsschule gibt.

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Die damalige grün-rote Landesregierung hatte 2014 der nur als Modellversuch existierenden Ganztagsschule den Status einer Regelschule verliehen. Kennzeichnend für den Unterricht an dieser Schulart ist der über den Tag verteilte Wechsel zwischen Phasen der An- und der Entspannung. Bildungsforscher fordern eine solche „echte“ Ganztagsschule (News4teachers berichtete).

Wie geschickt kann die Planung im Ganztag sein, um Kinder fördern zu können?

Die Akzeptanz der Ganztagsschulen lässt sich nach Überzeugung Bruggers aber nur erhöhen, wenn die Abholzeiten stärker den Bedürfnissen der Eltern und ihrer Kindern angepasst würden. «Bei geschickter Planung könnten die nicht abgeholten Kinder je nach Leistungsniveau gefördert werden, ohne dass die anderen Unterrichtsstoff verlieren.»

Landesweit gibt es 500 Ganztagsschulen, in 36 davon sind Schüler von Klasse eins bis vier von morgens bis spätnachmittags verpflichtend in der Schule. Die große Masse bietet den Eltern die Möglichkeit, ihre Kinder halbtags oder ganztags beschulen zu lassen. Sie müssen sich dabei aber für ein ganzes Schuljahr festlegen. Etwa jede fünfte Grundschule ist eine Ganztagsschule. Die grün-rote Landesregierung hatte 2014 noch damit gerechnet, dass sich bis zum Jahr 2023 rund 70 Prozent der Grundschulen zu Ganztagsschulen wandeln.

Hingegen boomt die flexible – aber nicht kostenfreie – Betreuung an Grundschulen mit derzeit laut Brugger landesweit rund 10 000 Gruppen. Der Bildungsexperte schlug vor, eine Erhebung zu den Bedürfnissen der Eltern vorzunehmen.

Überdies wünschten sich die Kommunen eine stärkere Entlastung der Schulleiter, um den Ganztag organisieren und koordinieren zu können. Die Freistellung vom Unterricht von einer Stunde mehr für Schulleiter, die vom Halbtags- auf den Ganztagsbetrieb umstellen, mache den Wechsel wenig attraktiv. Auch die Grünen pochen auf eine angemessene Entlastung. dpa

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Streit kocht hoch: Offener oder “echter” Ganztag – was ist pädagogisch sinnvoller?

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6 Kommentare
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OlleSchachtel
4 Jahre zuvor

Bei allen Ansprüchen der Berufswelt, halte ich für viele Grundschüler den Ganztagsschulbetrieb nicht für gut. Um 12:05 Uhr sind unsere 1 und 2. Klässler erschöpft und müde. Der Lärmpegel in der Schulklasse ist für sensible Kinder häufig zu hoch. Ich persönlich war froh, dass meine Kinder nicht in eine Ganztagsschule gehen mussten.

GriasDi
4 Jahre zuvor

Wie soll der Ganztag denn dann geplant bzw. sinnvoll gefüllt werden, wenn die Kinder kommen und gehen wann sie wollen? Irgendwo gibt es halt auch Grenzen.

Pälzer
4 Jahre zuvor
Antwortet  GriasDi

nicht „wann sie wollen“, sondern: wann die Eltern es brauchen. Es wird Anfang des Schuljahres für 1 Jahr festgelegt. Plan: Hausaufgaben mit pädagogischer Betreuung, dann sinnvolle Freizeitgestaltung und AGs nach Wahl der Kinder. Läuft gut und kommt viel mehr dabei raus als mit versuchter Zwangsbeschulung im Mittagstief.

Pälzer
4 Jahre zuvor
Antwortet  GriasDi

Die wahren Grenzen sind die (chrono-)biologischen Gesetze.

GriasDi
4 Jahre zuvor

Häufig sind die Kinder im Ganztag, die im Kindergarten die meisten Probleme verursachten. Die „anderen“ Eltern versuchen darum diese Klassen zu meiden.

Carsten60
4 Jahre zuvor

Die ganze Debatte geht am Kern der Sache vorbei. Für Halbtags- und Ganztagsschulen gelten bekanntlich dieselben Bildungsziele, dieselben Lehrpläne und dieselben Stundentafeln. Darüber hinaus gibt es an Ganztagsschulen die sonst üblichen Hausaufgaben sowie außerunterrichtliche Betreuungsangebote mit einer Art von Verplanung der Freizeit:
https://www.saarland.de/dokumente/thema_bildung/Ganztagsschulverordnung.pdf
Woher soll denn nun der Wunder-Effekt zur „Chancengerechtigkeit“ kommen? Gibt es denn einen empirischen Nachweis, dass tatsächlich die Kinder aus unteren sozialen Schichten an der Ganztagsschule mehr lernen? Das scheint bislang mehr eine Glaubensfrage zu sein. Bei PISA haben die deutschen Ganztagsschulen jedenfalls nicht besser als die anderen abgeschnitten:
https://www.lernando.de/magazin/248/Ganztagsschule-den-ganzen-Tag-lernen